Joe Bidens spektakuläre Rhetorik
Vom 24 bis zum 26 März 2022 hat Joe Biden eine diplomatisch offensive Europatournee unternommen. Diese war dabei insgesamt erfolgreicher als die letzte Reise des amerikanischen Präsidenten auf dem europäischen Kontinent, die er vom 10 bis 16. Juni 2021 unternahm und mit einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Vladimir Putin beendete. Seit diesem letzten Treffen sind die beiden direkte Gegner in einem Konflikt von globaler Bedeutung geworden. Bekannt für seine aggressiven Worte gegenüber Vladimir Putin wich Biden auch jetzt nicht von diesem Ritual ab. In einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender ABC am 17. März 2021 bezeichnete Biden Putin bereits als „Mörder“. An diese Rhetorik knüpfte er am 26. März 2022 in Warschau, Polen bei einem Treffen mit ukrainischen Geflüchteten an, indem er den russischen Präsidenten „einen Metzger“ nannte. Damit bestätigte der amerikanische Präsident die harte Linie, die er seit Beginn seiner Amtszeit dem russischen Autokraten gegenüber einschlägt.
Noch am selben Tag hielt Joe Biden im Warschauer Schloss eine emotionale Rede, gerichtet an und gegen Vladimir Putin. Nach einem sehr versöhnlichen Abschnitt in Bezug auf seine europäischen Verbündeten verschärfte der Präsident der Vereinigten Staaten seinen Tonfall und feuerte eine Reihe von Angriffen in Richtung des russischen Gegners ab. Damit zeigte er seine Entschlossenheit und bestärkte seine Autorität und seinen Führungswillen. Joe Biden stellte sich an die Spitze der westlichen Konfliktparteien indem er eine direkte Warnung an Vladimir Putin aussprach: „Denkt nicht mal daran, auch nur auf einen Zentimeter NATO-Gebiet vorzurücken“ und indem er an die Wichtigkeit des 5. Artikels des Vertrags von Washington erinnerte: „Wir haben eine heilige Pflicht - wir haben nach Artikel 5 die heilige Pflicht, jeden Zentimeter NATO Gebiet mit unserer gesamten gemeinsamen Macht zu verteidigen.“ Die gesendete Nachricht ist eindeutig: sollte Russland seine Streitkräfte gegen einen NATO Mitgliedsstaat einsetzen, so werden sich die Vereinigten Staaten bedingungslos und mit voller militärischer Stärke an die Seite ihrer Verbündeten stellen. Die Schwierigkeiten Russlands in ihrem Angriffskrieg auf die Ukraine, lassen zudem bereits an ihrer militärischen Stärke zweifeln. Joe Biden nahm dies zum Anlass, an die militärische Überlegenheit und Mobilität der NATO Ostflanke zu erinnern:
«Russland wollte weniger NATO Präsenz an seiner Grenze, aber jetzt haben wir eine stärkere und größere Präsenz mit mehr als hunderttausend amerikanischen Soldaten an der Seite der anderen NATO-Mitgliedsstaaten.»
Joe Biden zeigte sich als unnachgiebigen Anführer, als Sprachrohr der freien Welt, die nun in einen langwierigen Kampf verwickelt ist:
«Deshalb bin ich diese Woche mit einer klaren und entschlossenen Nachricht für die NATO, für die G7, für die Europäische Union, für alle freiheitlich, demokratischen Staaten nach Europa gekommen: Wir müssen uns jetzt langfristig in diesem Kampf engagieren. Wir müssen vereint bleiben, heute, morgen und übermorgen und die Jahre und Jahrzehnte die kommen.»
«Um Gottes Willen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben»
Mit starken Worten griff der Präsident der Vereinigten Staaten einen, von der unerwartet mühsamen Invasion der Ukraine bereits geschwächten, Wladimir Putin an. Die Gefahr, die der russische Despot darstellt untermalend stellte Joe Biden am Ende seiner Rede klar: „Um Gottes Willen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben“. Damit unterstrich er die Verantwortungslosigkeit des isolierten Diktators, dessen Absichten und Handlungen unvorhersehbar bleiben und die nicht zuletzt auch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen, sowohl biologisch als auch atomar, beinhalten könnten. Dieser Schlusssatz, der zahlreiche Reaktionen hervorgerufen hat, kann auch als Appell an die russische Bevölkerung und die russischen Machthaber verstanden werden, sich gegen einen Mann aufzulehnen, der eine ernsthafte Bedrohung für den Weltfrieden darstellt.
Sowohl der französische Präsident Emmanuel Macron als auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz haben sich jedoch von der erbarmungslos harten Rhetorik Joe Bidens distanziert, um eine offene, den Dialog mit Putin wahrende Position einzunehmen und die diplomatischen Verbindungen mit Moskau aufrecht zu erhalten. Diese auf den ersten Blick unterschiedlichen Positionen der westlichen Länder ergänzen sich bei genauerer Betrachtung. Zu diesem Zeitpunkt hoher strategischer Intensität ist es notwendig, dass der Westen sowohl die Stärke seiner hard power unter Beweis stellt, als auch einen gewissen Handlungsspielraum wahrt.
Eine beispiellose Zeit strategischen und sicherheitspolitischen Aufstiegs
Die enorme russische Bedrohung hat den Westen geeint und eine starke pro-demokratische Dynamik erzeugt. Am 04. März 2022 hat Francis Fukuyama, der Verfasser der These, der „Das Ende der Geschichte“ zugrunde liegt in einem Artikel in der Financial Times eben jene für bestätigt erklärt:
«Die Ukrainer*innen haben mehr als alle Anderen gezeigt, was wahrer Mut ist und, dass der Geist von 1989 in ihrem Teil der Welt nach wie vor am Leben ist. Für den Rest von uns hat er geschlummert und wurde wiedererweckt.»
Mit seinem Angriff auf die Ukraine hat Vladimir Putin die Wiederbelebung einer demokratischen, friedensstiftenden Energie ausgelöst, die sich in der Welt ausbreitet. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj führt eine wichtige Kampagne großen Einflusses auf internationaler Ebene mit Videokonferenzen mit dem amerikanischen Kongress, mit den deutschen, französischen und israelischen Parlamenten, mit dem Europäischen Rat und mit dem Doha Forum in Qatar. Der Generalsekretär der UNO, António Guterres, sagte in einer Pressekonferenz am 22. März 2022:
«Die Fortsetzung des Krieges in der Ukraine ist moralisch inakzeptabel, politisch nicht zu verteidigen und militärisch absurd […] Es ist Zeit, die Kämpfe zu beenden und dem Frieden eine Chance zu geben.»
Am 26. März 2022 bestätigte Joe Biden im Warschauer Königsschloss in Polen die Gewissheit, dass es einen Kampf zwischen der freien Welt und einer autoritären Macht gibt:
« Wir sind wieder in den großen Kampf für die Freiheit verstrickt: ein Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer auf Regeln basierenden Weltordnung und einer, die von roher Gewalt beherrscht wird.»
Joe Biden, Ursula von der Leyen, Charles Michel, Emmanuel Macron und Josep Borrell profitieren alle von einem Zeitpunkt hoher politischer Intensität, der es ihnen erlaubt, den Westen und die Europäische Union in einem neuen Abschnitt strategischen und sicherheitspolitischen Aufstiegs zu führen. Während seines letzten Aufenthalts in Europa hat sich Joe Biden deutlich besser als weltweite Führungsfigur der Demokratie präsentiert, als es bei seinen vorsichtigen ersten Anläufen der Fall war. So hat die durchwachsene Organisation eines Weltgipfels zum Thema Demokratie, der im virtuellen Format am 9. und 10. Dezember stattgefunden hat keine entscheidenden Impulse vermitteln können.
Joe Biden auf den Spuren von Henry Kissinger und Richard Nixon
Weder die amerikanische Außenpolitik, noch die diplomatischen Vorstöße von europäischer Seite haben es geschafft, den Krieg in der Ukraine zu verhindern. Aber das internationale Handeln der Vereinigten Staaten scheint nun eine klare und sogar innovative Richtung vorzugeben. Mit seinen Bemühungen, die europäisch-amerikanischen Beziehungen zu stärken, folgt Biden dem Beispiel Henry Kissingers und Richard Nixons. Direkt nach seinem Amtsantritt als Präsident der Vereinigten Staaten bemühte sich Nixon, sich seinen europäischen Verbündeten anzunähern und brach damit mit der Politik des Unilateralismus, die sein Vorgänger Lyndon B. Johnson geprägt hatte. Vom 23. Februar bis zum 2. März 1969 unternahm Nixon eine diplomatische Europareise, während der er Brüssel, London, Bonn, Berlin, Rom und den Vatikan besuchte. Diese erste Europa Tournee veranlasste den amerikanischen Präsidenten dazu, eine neue Ära europäisch-amerikanischer Einigkeit zu prägen.
Das Ende des Vietnamkrieges verleitete Außenminister Henry Kissinger und Richard Nixon dazu, 1973 als „Europajahr“ zu verkünden. Dies sollte den Beginn eines prägenden diplomatischen Zeitraums bedeuten, in welchem der globale Aufstieg der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wirklich zur Kenntnis genommen, die Rolle der NATO überdacht und ihre Institutionen restrukturiert, sowie eine neue, gemeinsame politische Vision geschaffen und damit die europäisch-amerikanischen Beziehungen neu definiert würden. Dieses „Europajahr“ offenbarte sich jedoch als durchwachsen und fand sein unrühmliches Ende in der Watergate-Affäre und der Amtsenthebung Nixons.
Der amerikanische Präsident kann das Jahr 2022 zu einem wirklichen „Europajahr“ machen
Nach einem chaotischen Rückzug aus Afghanistan im August 2021 ist Joe Biden nun eine Führungsfigur in einer beispiellosen Neustrukturierung der westlichen Welt, des Einflusses der Demokratien und des Handelns der NATO im Angesicht der russischen Bedrohung. Dieser einzigartige Zeitpunkt gibt ihm nun die Chance seinen Außenpolitischen Standpunkten einen unerwarteten Elan zu verleihen. Die Rivalität zwischen China und den USA hat weiterhin Bestand, aber die Vereinigten Staaten haben es seit Barack Obama nicht geschafft, dessen Ziel, die dominierende Wirtschaftsmacht in Asien zu bleiben, zu erreichen. Joe Biden muss China nun vernachlässigen, und sich mit der strategisch überraschenden Invasion Russlands in der Ukraine und der damit einhergehenden Bedrohung befassen. Der amerikanische Präsident hat die Möglichkeit, 2022 zu einem echten „Europajahr“ zu machen, das die erste Phase einer ambitionierten Regeneration der europäisch-amerikanischen Beziehungen darstellen könnte.
Diese zweite Europareise Bidens ist die Demonstration seiner Bereitschaft, sich entschlossen und unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Union in einer neuen Ära zu engagieren. Seine Anwesenheit beim Europäischen Rat am 24. März 2022 stellt dabei eine besonders starke politische Geste dar. Joe Biden bestätigt den amerikanischen Führungsanspruch indem er sowohl die Grenzen der amerikanischen Macht, als auch die Existenz einer politischen und wirtschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit Europas anerkennt. Der Präsident der Vereinigten Staaten legt den Grundstein für eine mit Europa geteilte Führung, ein Schritt, der den Intentionen von Richard Nixon und Henry Kissinger folgt und der voll und ganz der Neuverteilung der Macht im 21. Jahrhundert entspricht.
Am 26. März 2022 hat Joe Biden in seiner Rede im Warschauer Königsschloss die Ambition bekannt, zur energiepolitischen Unabhängigkeit der Europäischen Union beizutragen und damit eine Aktion großer Tragweite im Erbe des Marshall-Plans angekündigt:
«Zunächst muss Europa seine Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen beenden. Und wir, die Vereinigten Staaten, werden dabei helfen.»
Die Außenpolitik Washingtons kann seinen Willen zur Erneuerung der europäisch-amerikanischen Beziehungen auf einem Umfeld hoher politischer Intensität und auf strategischen Initiativen großen Ausmaßes begründen. Diese entscheidende Dimension erlaubt es Joe Biden sich endlich von den Auswüchsen eines Sinn entbehrenden westlichen, politischen Projekts abzuwenden, um einen klaren sicherheitspolitischen Handlungsplan zu organisieren. Sunzi schrieb in Die Kunst des Krieges : „Wer im Krieg brilliert, steuert die Bewegung des Anderen, und lässt sich die eigenen nicht vorgeben.“ Die Vereinigten Staaten haben eine beachtliche Handlungsfähigkeit wiedererlangt und eine Reihe an Maßnahmen ergriffen, um die Handlungsfreiheit Russlands zu behindern und sich von Wladimir Putins Plänen nicht einschränken zu lassen. Die Fähigkeit Joe Bidens war es zu verstehen, dass eine Stärkung der europäisch-amerikanischen Beziehungen, begründet auf dem Aufstieg eines geopolitischen Europas, es ihm ermöglichen würde, den Absturz seines politischen Gegners herbeizuführen.
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