Die Transferunion: ein Stück Menschenwürde

Finaler Teil der Artikelserie „Die Transferunion ist nicht genug“.

, von  Christoph Sebald

Die Transferunion: ein Stück Menschenwürde
Am Landgericht in Frankfurt am Main Von Dontworry, bestimmte Rechte vorbehalten

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie macht den Menschen zur Person mit Rechten und Pflichten, sie macht ihn einzigartig. Individualisten folgern daraus regelmäßig und völlig fälschlicherweise, dass die Fähigkeiten der Menschen und ihre einzigartige Verteilung ihnen innerhalb der Gesellschaft einen Rang zuweisen könnten – doch das Gegenteil ist der Fall. Was einzigartig ist, lässt sich nicht messen! Den Menschen mit seinen Mitmenschen zu vergleichen, heißt Äpfel und Birnen vergleichen, heißt die Person des Einen an der Person des Anderen relativieren, heißt der Würde des Menschen Unrecht tun.

Stärke, Intelligenz, „Rasse“, Bildung oder Schönheit können schon deshalb nichts über den Wert eines Menschen aussagen, da sie nicht objektiv messbar sind. Auch gibt es niemanden, der für sich legitimerweise das Recht beanspruchen kann, Richter über die Qualität eines Menschen und seine Chancen zu sein. Die Würde des Menschen ist absolut. In unserer Einzigartigkeit als Person und unserer absoluten Würde sind wir gleich. Die Einmaligkeit unserer Person, unsere Wünsche, Hoffnungen, die Zerbrechlichkeit und die Endlichkeit unseres Lebens heben uns alle in den gleichen Rang.

Jeder Mensch hat die gleichen Ansprüche gegenüber der Menschheit. Er ist nicht nur frei, sondern auch gleich geboren und zwar deshalb, weil jeder sich als Person und somit mit all seinem Besitz in die Gesellschaft einbringt, ihn ihr zur Verfügung stellt. Denn jeder wird sein eigenes Leben als einen unendlichen Wert betrachten. Weil jeder das für die Person selbst gleiche in die Gesellschaft einbringt, hat jeder den Anspruch auf gleiche Teilhabe an der Gesellschaft.

Internationale Vergleiche haben gezeigt, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen Ungleichheit, Krankheit und Lebenslänge gibt. Je ungleicher eine Gesellschaft ist, desto mehr Stress tritt auf. Stress macht den Menschen anfälliger für Krankheiten und führt zu einer geringeren Lebenserwartung. Vor dem Hintergrund steigender Ungleichheit in Europa, ist diese Erkenntnis aufrüttelnd.

Ob die Ungleichheit zwischen den EU-Mietgliedstaaten ähnliche Auswirkungen hat, ist dabei unerheblich. Denn: Ungleichheit zwischen den Staaten schlägt in der gegenwärtigen Interpretation des Kapitalismus (wie in Artikel 2 dargelegt) indirekt auf die nationalen Gesellschaften durch (z.B. Steuerwettbewerb führt zu Einschnitten im Sozialbereich). Eine Transferunion in Verbindung mit einer europaweiten Steuerpolitik könnte die nationalen Haushalte hinreichend entlasten, um Raum für mehr sozialen Ausgleich zu schaffen. Die Achtung vor dem Leben sozial benachteiligter Menschen gebietet es.

Der Mensch und sein Wohlergehen sollten das höchste Ziel einer jeden aufgeklärten Gesellschaft sein. Die einzige rechtmäßige Abweichung vom Prinzip der Gleichheit wäre, wenn zum Fortschritt der Menschheit in der Gesellschaft eine angemessene materielle Differenzierung erfolgte. Wenn also das Streben des Menschen, sein Mehreinsatz zum Wohle aller, durch höheres Ansehen oder materielle Vorteile in den Schranken des Allgemeinwohls belohnt wird. Während also materielle Unterschiede zwischen den Bürgern eines Landes sinnvoll sein können, ist jeder soziale oder materielle Unterschied zwischen den Bürgern zweier Länder ein Verstoß gegen die Gleichheit der Menschen.

Es gibt keinen Grund, warum Süd- und Osteuropäer nicht genau so wohlhabend sein sollten, wie Nordeuropäer – schon gar nicht in der EU, da sich die europäischen Staaten der Solidarität und Gleichheit (EUV, Art. 2) verpflichtet haben. Die EU ist eine Gemeinschaft gleichberechtigter Staaten. Nichtsdestotrotz halten sich offensichtlich einige Staaten und deren Bürger für würdiger, Reichtum zu genießen und beschneiden damit die gerechten Ansprüche anderer.

Wohlstand, sowohl der absolute, als auch der zu seinem Umfeld relative, bildet das Fundament der Entfaltung der Person. Wo materielle Ungleichheit und die knappe gesellschaftliche Ressource Anerkennung verknüpft werden, kann auch die persönliche Würde oft nicht mehr zu ihrer vollen Entfaltung gelangen oder sie wird durch das hochmütige Verhalten Privilegierter verletzt. Ausgleichszahlungen (wie der Sozialstaat oder die Transferunion) sind ein geeignetes Mittel, diesem Missstand den Nährboden zu entziehen. Anderen nicht den gleichen Wohlstand wie sich selbst zugestehen, heißt, ihnen die gleiche Würde abzusprechen, heißt, sie nicht für würdig zu befinden, den gleichen Wohlstand zu genießen. Vor dem Hintergrund des ethischen Imperativs von Gleichheit und Menschenwürde, ist die Transferunion geboten.

Fazit

Ob wirtschaftlich oder ethisch, es gibt viele gute Gründe, die für höhere Ausgleichszahlungen zwischen den europäischen Staaten sprechen. Die Probleme in Europa sind zahlreich und vielschichtig. Libertärer Kapitalismus (Neoliberalismus) und überzogene Nationalismen zerstören die menschliche Gesellschaft. Es ist an der Zeit, ihnen durch sozialen Ausgleich die Grundlage zu entziehen. Das erreicht man am ehesten durch einen vernünftigen öffentlichen Diskurs, der sich an sachlichen Argumenten und an einer stärkeren Umverteilungspolitik orientiert.

Für mich steht außer Frage, dass im Zuge einer Ausdehnung der Transferunion strukturelle Reformen in den Empfängerländern erfolgen müssen. Die Bekämpfung von Steuerflucht und Korruption sowie das Errichten transparenter Strukturen zur möglichst sinnvollen und überprüfbaren Verteilung der Transfergelder, sind unumgänglich. Auch müssen Empfängerstaaten ihre Mittel im Sinne des Allgemeinwohls verwenden und für größtmögliche soziale Gleichheit sorgen. Wenn ich den Problemen in den peripheren Staaten wenig Aufmerksamkeit erwiesen habe, so hängt das damit zusammen, dass in meinen Augen die Kernstaaten über die wesentlichen ökonomischen und Machtressourcen verfügen, um Änderungen innerhalb der europäischen Struktur durchzusetzen. Ihr Handeln ist deshalb ausschlaggebend. Daher gilt es auch an sie zu appellieren und sie zu kritisieren, wenngleich die peripheren Staaten deshalb nicht gleich aus jeder Verantwortung zu entlassen sind.

Lösungen

Abschließend möchte ich Lösungsvorschläge in den Raum stellen, die ich vor dem Hintergrund meiner Artikel für sinnvoll erachte.

Ich fordere ein europäisches Bildungssystem, das jeden Bürger in die Lage versetzt, politische Vorgänge hinreichend verstehen und reflektieren zu können. Ich fordere die öffentlich-rechtlichen Medien auf, ihrem Bildungsauftrag auch auf dem Feld der europapolitischen Berichterstattung angemessen nachzukommen.

Ich fordere die Angleichung des Europäischen Steuersystems, eine Finanztransaktionssteuer, die Verdopplung der EU-Strukturfonds, die drastische Reduzierung der landwirtschaftlichen Fonds und einen europaweiten Mindestlohn von 80% des jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommens.

Ich fordere dazu auf, Banken und Fonds öffentlich-rechtlicher Kontrolle zu unterstellen, ihre Gemeinwohlverpflichtung gesetzlich festzulegen und sie nach dem föderalen Prinzip zu strukturieren. Regionale Trägerschaften, organisiert nach dem Beispiel der Sparkassen, sind durch nationale und die europäische Ebene zu ergänzen, wobei das Subsidiaritätsprinzip gelten muss. Das Höchste Organ soll die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sein, welche die Finanzierung supranationaler Projekte gewährleisten soll.

Boni sind nur dann zu erlauben, wenn sie allen Mitarbeitern in gleicher Höhe (prozentual) gewährt werden. Ich plädiere für mehr betriebliche Mitspracherechte der Belegschaften in Großkonzernen.

Ich fordere eine europaweite Vermögenssteuer für Privatvermögen über 1 Million Euro und Betriebskapital über 5 Millionen Euro in Höhe von 2% und rigides Vorgehen gegen Steuerflucht. Ich fordere Lohnobergrenzen in Höhe des zehnfachen des nationalen Durchschnittseinkommens. Denn es gilt: „Die einzige nachhaltige Methode zur Verringerung der Ungleichheit ist, die tendenzielle Zunahme der Spreizung der Erwerbs- und Kapitaleinkommen zu stoppen“ (OECD: Growing unequal?).

Ich fordere Transfer-Empfängerstaaten dazu auf, der Akzeptanz für Transferleistungen in den Bevölkerungen der Geberstaaten durch entschlossene Reformen in ihren eigenen Hoheitsgebieten Vorschub zu leisten. Ich fordere sie weiterhin auf, Ungleichheiten aller Art bis zu einem dem Allgemeinwohl dienlichen und nötigen Minimum entgegenzuwirken.

Ich fordere, dass allen Menschen die gleiche Anerkennung und die gleiche Würde zugestanden wird. Ich fordere die europäisch demokratische Föderation der Menschen und für alle Menschen.

Serie: Die Transferunion ist nicht genug

Den gesamten Dezember lang widmet sich Christoph Sebald jeden Freitag dem Thema Transferunion.

Ihr Kommentar
  • Am 30. Dezember 2011 um 15:27, von  Eric B. Als Antwort Die Transferunion: ein Stück Menschenwürde

    Gute Serie, gute Schlussfolgerungen. Leider wird all dies mit Kanzlerin Merkel nicht möglich sein. Den sie verfolgt einen andereren, auf Sparen und Strafen fixierten Kurs, bei dem Solidarität klein geschrieben wird. Damit lädt sie Schuld auf sich, denn ihre Politik hat die Krise massiv verschärft. Vielleicht überlebt der Euro trotzdem, wer weiß. Wenn ja, dann aber mit Sicherheit trotz und nicht etwa wegen der Politik der Kanzlerin, wie unsere Leitartikler in Feierlaune behaupten... mehr auf http://lostineurope.posterous.com/merkels-historische-schuld

  • Am 27. September 2012 um 22:04, von  Timo W Als Antwort Die Transferunion: ein Stück Menschenwürde

    Glückwunsch für diese Serie!

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