Eine Kritik der Kritik an Gauck

Warum der Bundespräsident bei seiner Europa-Rede doch die richtigen Worte gefunden hat

, von  Stefan Kunath

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Eine Kritik der Kritik an Gauck
Bundespräsident Gauck, Pressefoto. Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung.

Ich als Linker hatte mir Beate Klarsfeld als Bundespräsidentin gewünscht. Es wurde der Konservative Joachim Gauck. Niemals hätte ich gedacht, dass ich ihn einmal in irgendeiner Form vor Kritik verteidigen würde. Nun möchte ich es tun, denn seine Europa-Rede enthielt mehr, als manche meinen.

Es ist immer leicht, jemanden für etwas Nichtgesagtes zu kritisieren – etwa für fehlende politische Visionen oder klare Ansagen, wohin es mit Europa gehen soll. Es ist auch leicht, sich Einzelteile einer Rede herauszupicken ohne den Gesamtgedanken zu erkennen. Schwieriger wird es, wenn man die Rede als Ganzes betrachtet und hierbei Gaucks Biographie im Hinterkopf behält. Tut man dies, erkennt man in seiner Rede einen entscheidenden Punkt.

Beim Bewerten den richtigen Ansatzpunkt finden

Der Bundespräsident wendet sich weniger an die Politik, aber umso mehr an die Gesellschaft. Das ist ehrlich, weil sich Gauck selbst nicht als Politiker versteht, sondern als Bürger: Er vertraut auf die Erneuerungskräfte, die aus dem Inneren der Gesellschaft kommen.

Das erklärt sich aus seinem Engagement in der Wendezeit, als der Protest der Bürger das Ende der DDR einleitete. Das erkennt man an seiner Inszenierung, als er sich nach der Rede während des Applauses für einen Moment in das Publikum setzte. Und das sieht man am neuen Format: Der Präsident hält keine „Berliner Reden“ mehr, sondern versucht im neugeschaffenen „Bellevue Forum“, in dessen Rahmen er seine Rede hielt, Bürgernähe zu verkörpern.

Wer daher von Gauck große Visionen mit klaren Ansagen erwartete, hatte den Bundespräsidenten bis dato falsch eingeschätzt. Er will nicht mehr als ein bürgernaher Moderator sein.

Kein großer Wurf

Freilich ist Gaucks Rede ein Eingeständnis darin, dass von der Politik keine großen Schritte in Sachen Europa zu erwarten sind. Den Grund benennt der Bundespräsident gleich zu Beginn der Rede: Die Bürger sind europaskeptisch, europamüde.

Doch der große Wurf – der den Politikern für „mehr Europa“ gelingen muss – wird nicht ohne ihre Zustimmung möglich sein. Man kann sagen, die Politik fürchtet sich vor dem Bürger und wagt sich daher nicht, am Haus Europa weiterzubauen.

Alexis de Tocqueville beschrieb 1840 im zweiten Band seines Werkes „Über die Demokratie in Amerika“ im Kapitel „Weshalb die großen Revolutionen selten werden“, warum sich in Demokratien die Bürger vor großen vorwärtstreibenden Entwicklungen fürchten. Sie sind zu sehr mit den allgemeinen Dingen beschäftigt, um selbst Schlechtes zu hinterfragen. Hierfür braucht man viel Zeit zum Reflektieren, die man jedoch in den Wirren des Alltages kaum hat.

Einen großen Sprung nach vorne wagen sie nicht, weil sie lieber das Gegenwärtige sichern wollen, als mit Risiko etwas neues Unbekanntes zu schaffen. Tocqueville warnt, dass „die Menschheit sich zwar unaufhörlich bewegt, aber nicht mehr fortschreitet.“

Die Bürger dort abholen, wo sie Europa kennen

Bei den Bürgern Gehör verschafft man sich indes, wenn man über sie spricht, wenn man das thematisiert, was sie unmittelbar betrifft. Und hierin liegt die Stärke an Gaucks Europa-Rede: Er hat die Allgegenwärtigkeit der Europäisierung für den Einzelnen beschrieben: bürgerliche Freiheiten, insbesondere Reisefreiheit, sowie soziale Mobilität, europaweites Lernen, gemeinsame Währung. Europa ist also nicht etwas Unbekanntes, vor das man sich fürchten muss.

Visionen werden erst durch den Stimmzettel Realität

Große Visionen zu entwickeln, wie etwa die Vereinigten Staaten von Europa, obliegt nicht einem 73-jährigen Bundespräsidenten. Das ist Aufgabe unserer Generation, die die Möglichkeiten eines geeinten Europas wie keine andere verinnerlich hat.

Große Visionen hingegen umzusetzen, obliegt der Politik. Darauf hat aber auch Gauck geschickt verwiesen, als er von der Entstehung der Nationalstaaten in Europa sprach und sich überraschend gewissermaßen als Schüler des marxistischen Historikers Eric Hobsbawn zu erkennen gab: Nationen sind Konstrukte, die ihre Staatsbürger erst noch erschaffen müssen.

Nun waren aber die Entstehungen europäischer Nationalstaaten mit Kriegen und Revolutionen verbunden. In diesem Sinne wurde die letzte Chance, die Vereinigten Staaten von Europa zu konstituieren, 1945 vertan. Wenn sie aber doch früher oder später greifbar werden sollten, dann werden am Ende die Bürger darüber zum Glück nicht mehr mit der Waffe, sondern mit ihrem Wahlzettel entscheiden. Wenn die Mehrheit dann aber ablehnt, sollte keiner fragen, warum sie niemand nach Europa mitgenommen hat – Gauck hat es zumindest versucht.

„Es war eine historische Chance, doch Gauck ’der Europäer’ hat sie vergeben“, das kritisiert Christoph Sebald in einem weiteren Artikel.

Hinweise des Herausgebers

Pressemitteilung der Jungen Europäischen Föderalisten: „Der Bundespräsident hat viele richtige und wichtige Punkte angesprochen, aber auf seine selbst gestellten Fragen noch keine Antworten gegeben.“, kommentierte der Bundesvorsitzende der Jungen Europäischen Föderalisten, Daniel Matteo, die Rede des Bundespräsidenten.

Mitglieder der JEF kommentierten im ARD-Nachtmagazin die Rede des Bundespräsidenten Gauck (ab Minute 12:15).

Ihr Kommentar
  • Am 24. Februar 2013 um 18:29, von  Lars Becker Als Antwort Eine Kritik der Kritik an Gauck

    Große Visionen zu entwickeln, wie etwa die Vereinigten Staaten von Europa, obliegt nicht einem 73-jährigen Bundespräsidenten. Das ist Aufgabe unserer Generation, die die Möglichkeiten eines geeinten Europas wie keine andere verinnerlich hat.

    Ideen, also auch Visionen, müssen artikuliert werden damit sie entwickelt werden können. Die Mitglieder einer Alterskohorte mögen in großer Zahl von gewissen Ideen beeinflusst werden, aber sie wird sie als soziales Aggregat nicht unmittelbar ausdrücken können. Deine Forderung weist die politische Verantwortung von der Hand die politische Akteure haben. Und der Bundespräsident ist ein politischer Akteur (sonst bräuchte man ihn nicht in einem politischen System), der letztlich nur die Rede hat um etwas zu bewegen.

    Was hat er bewegt? Ist er wirklich „bürgernaher Moderator“? Welche Prozesse soll er denn, will er denn moderieren? Wie will er dsa machen? Er hat ja nicht mal wirkliche Adressaten und stellt die falschen Fragen. Gute Moderation ist zielorientiert. Was war das Ziel, dass zu erreichen er beitragen wollte?

    Du schreibst Gauck hätte versucht „die Bürger“ mitzunehmen. Wie denn? Er hat doch weder einen Weg gewiesen auf den man hätte jemanden mitnehmen können, noch hat er die richtigen Fragen gestellt, die es erlaubten den Weg zu finden. Nach seiner Rede ist man genau so orientierungslos wie vorher auch. Jetzt weiß man vielleicht, dass es Unionisten und Föderalisten gibt und das es Pastoren gibt, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit für genuin „europäische Werte“ halten. Diese als konstituierend für eine europäische Identität zu sehen ist schon sehr schwach, da der Anspruch nicht stimmt. Mitnehmen kann nur einer, der weiß wo es lang geht. Der zumindest sagen kann: es gibt diese und jene Pfade, der sagen kann, der eine Pfad ist schön beschwerlich, der andere langweilig, aber auch gut für jene, die nicht gut zu Fuß sind. Wenn Gauck selbst orientiert ist dann hat der „dem Bürger“ nur einen sehr diffusen Einblick in seine Orientierung gegeben. Eine Debatte anstoßen,das tun jetzt höchstens jene, die sich an seiner inhaltsleeren Rede abarbeiten.

    Meine Sicht auf, das was er hätte tun sollen habe ich mal hier, [http://lars-becker.eu/2013/gaucks-europarede/], niedergeschrieben.

  • Am 26. Februar 2013 um 14:35, von  Christoph Als Antwort Eine Kritik der Kritik an Gauck

    Meine Position ist im Grunde ja schon in meinem Artikel enthalten, trotzdem möchte ich Sie noch einmal präzisieren.

    Als Vertreter meiner Generation habe ich den Bundespräsidenten kritisiert, weil er es unterlassen hat, das drängendste Problem der Jugend zur Sprache zu bringen. Gauck fordert, dass Menschen sich engagieren und mutig an ein Europa herantreten das ihnen (anscheinend) Angst macht. Klasse, aber dabei übersieht er doch, dass unzähligen Menschen, insbesondere der (arbeitslosen) Jugend Europas, die soziale Grundlage fehlt, sich zu engagieren. Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung grenzen aus und unterbinden regelmäßig gesellschaftliches Engagement.

    Es ist ein Unding, dass die Folgen der Wirtschaftskrise, aber auch die Last einer zunehmenden sozioökonomischen Spaltung und das Versagen zahlreicher nationaler und europäischer Politiker, vor und während der Krise, unverhältnismäßig stark auf Jugendliche abgewälzt werden. So etwas muss der Bundespräsident zur Sprache bringen.

    Zwar betont Gauck die historischen Errungenschaften des europäischen Projekts, doch völlig unnötigerweise beschränkt er auch das einigende Band Europas maßgeblich auf diese zwei Aspekte. Das einigende Band für Jugendliche sollte doch eher eine gemeinsame Perspektive für die Zukunft sein. Warum hat er da nicht Perspektiven und Mitwirkungsmöglichkeiten in den Raum gestellt oder die Bedeutung, welche die Jugend als zukünftige Generation für Europa besitzt, klarer benannt.

    Wenn Europa seine Bürger und insbesondere die Jugend wieder einbinden will, braucht es mehr soziale Gerechtigkeit und eine ideelle Perspektive, ein ideelles Narrativ. Englisch und Arte für alle – das ist doch alles hübsch dürr.

    Wir müssen wieder die gute Gesellschaft vor Augen haben und wir dürfen uns nicht vor lauter Gipfeltreffen in den toten Morast der Realpolitik hinunterziehen lassen. Gauck hätte ein starkes Zeichen für die Jugend setzen sollen und das hat er nicht getan.

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