Der erste Teil erschien am 23. Mai und beschäftigte sich mit Nationalismus und Euroskeptizismus.
Über Institutionen und Initiativen
Trotz der Krise der EU ist das europäische Projekt aber keineswegs tot. Die aktuelle politische Klasse ist zwar unfähig, eine Zukunftsvision zu erarbeiten, aber glücklicherweise sind die Institutionen, die von den Gründervätern geschaffen wurden, weiser. Jean Monet vertrat die Ansicht, dass „das Leben der Institutionen länger ist als das Leben der Menschen, und deshalb können die Institutionen, wenn sie gut geplant wurden, die Weisheit der aufeinander folgenden Generationen anhäufen und weitergeben.“ Dies ist der Fall beim Europäischen Parlament, einer Institution, die ursprünglich schon für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) entwickelt wurde. Mit der ersten Wahl 1979 wurde das Europäische Parlament zur einzigen Institution, die legitimiert ist, den Willen der Bürger Europas auszudrücken. Daher war das Parlament bei jeder Vertragsrevision in der Lage, die eigenen Befugnisse auszuweiten. Mit dem Vertrag von Lissabon hat das Parlament heutzutage auch das verfassungsgebende Recht erworben, die Prozedur zur Reform der Verträge einzuleiten. Aktuelle Ereignisse zeigen, dass das Europäische Parlament immer weniger die Arroganz der nationalen Regierungen akzeptiert. Es lohnt, sich wenigstens drei Initiativen ins Gedächtnis zu rufen.
Die Spinelli-Gruppe
Eine Gruppe von 97 europäischen Abgeordneten aus Europäischer Volkspartei (EVP), Sozialdemokraten ( S&D) und Liberalen (ALDE), hat die „Spinelli-Gruppe“ gegründet, ein Netzwerk, das offen ist für Initiativen aus der Zivilgesellschaft. Die Gruppe basiert auf einem „Manifest“, in dem sie erklärt, dass „während außerordentliche Herausforderungen einer komplexen Krise gemeinsame Antworten erfordern, die zumindest auf europäischen Level ausgearbeitet wurden, denken zu viele Politiker unglücklicherweise, dass Lösungen nur auf der nationalen Ebene zu finden seien. In einer Epoche der Interdependenz und in einer globalisierten Welt ist dies nicht nur ein Angriff auf den europäischen Geist, es ist ein sich Verschanzen hinter der nationalen Souveränität und dem Intergouvernementalismus; es ist eine Gewöhnung an die Politik der Machtlosigkeit. […] Der Nationalismus ist eine Ideologie der Vergangenheit. Unser Ziel ist ein föderales und post-nationales Europa, es ist das Europa der Bürger.“ Bisher haben sich die öffentlichen Debatten der Spinelli-Gruppe am Zusammenkommen des Europäischen Rats orientiert, bei denen Gegenvorschläge eines „Schattenrats“ als Alternative zu den Positionen der nationalen Regierungen vorgestellt wurden. Das Ziel der Gruppe ist, durch Konsensbildung im Europäischen Parlament und in der Öffentlichkeit eine Reform der Europäischen Union einzuleiten.
Transnationale Wahlliste
Eine zweite Initiative fordert die Reform des Wahlsystems zum Europäischen Parlament. Die Verfassungskommission des Europäischen Parlaments hat im April 2011 einen Vorschlag des föderalistischen Abgeordneten Andrew Duff angenommen: ab den Wahlen 2014 sollen 25 Parlamentssitze für Kandidaten reserviert sein, die in pan-europäischen Listen gewählt werden. Diese Listen sollen von den europäischen Parteien vorgeschlagen werden. Mit dieser transnationalen Liste sollen die europäischen Parteien ermuntert werden, bedeutende und in ganz Europa bekannte politische Persönlichkeiten vorzuschlagen. Diese sollen dann die Möglichkeit haben Präsident der Europäischen Kommission zu werden, wenn er oder sie gewählt wird und wenn seine oder ihre Partei beziehungsweise Parteienkoalition die Mehrheit der Stimmen erhält. Jeder Wähler hätte zwei Stimmen: eine für die nationale und eine für die transnationale Liste. Duff erklärt: „Die Vertreter aller politischen Gruppen haben einen wichtigen Konsens gefunden: das Parament muss reformiert werden. Auf Grundlage des vorgeschlagenen Projekts kann die nächste Wahl 2014 eine wirkliche europäische Dimension erhalten. Die Möglichkeit, eine zweite Stimme für transnationale Abgeordnete zu benutzen, würde die Wähler aufrütteln. Die nationalen politischen Parteien sind nicht mehr in der Lage, den europäischen Integrationsprozess auf demokratische und effiziente Art zu unterstützten.“
Echte Eigenmittel für die EU
Die dritte Initiative wurde von den drei Abgeordneten Jutta Haug (S&D), Alain Lamassoure (EVP) und Guy Verhofstadt (ALDE) lanciert: „Europe for Growth – For a Radical Change in Financing the EU“. Lamassoure ist auch Präsident der Haushaltskommission des Europäischen Parlaments. Der Vorschlag kann als die notwendige Ergänzung zum Sparpaket des Rats betrachtet werden: Wenn die Wirtschaft Europas nicht in der Lage ist, zu wachsen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und auf dem globalen Markt wettbewerbsfähig zu sein, ist das Sparpaket zum Scheitern verurteilt. Wie schon angedeutet, wurde in Maastricht zwar entschieden, eine Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) zu schaffen, tatsächlich aber wurde nur die Währungsunion verwirklicht und die Wirtschaftsunion vergessen. Heute haben wir zwar eine europäische Währung, aber 17 nationale Finanzpolitiken. Die Staatsschuldenkrise zeigt, dass diese asymmetrische Wirtschaftsregierung nicht funktioniert. Damit bleibt die Frage: Ist eine autonome Finanzpolitik der EU möglich? Tatsächlich hat die EU bereits einen eigenen Haushalt, der aber nur 1 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts entspricht. Ein Großteil dieses Haushalts ist außerdem der Agrarpolitik gewidmet; darüber hinaus wird er praktisch ausschließlich durch Beiträge der Nationalstaaten finanziert. Das Ergebnis ist, dass jeder Staat einen „gerechten Rückfluss“ der eigenen Zahlungen an die EU fordert, so dass sich nach ermüdenden Debatten zwischen nationalen Ministerien der europäische Haushalt auf eine externe Unterstützung der nationalen Haushalte reduziert. Die eigentliche wichtige Rolle des europäische Haushaltes wird komplett ignoriert. Eigentlich sollte die EU für die Bereitstellung europäischer öffentlicher Güter sorgen, die nicht auf nationaler Ebene realisiert werden können.
„Europe for Growth“ schlägt nun zwei ambitionierte Ziele vor. Das erste ist das Ende der nationalen Beiträge dank der Rückkehr zur ursprünglichen Idee der „Eigenmittel“. Der aktuelle Haushalt der EU könnte komplett finanziert werden durch 1 Prozent der Mehrwertsteuer, einer Kohlendioxid-Steuer und, eventuell, einer Finanztransaktionssteuer. Das zweite Ziel ist ein Plan für öffentliche Investitionen, die komplett durch Project Bonds finanziert werden, die die Europäische Investitionsbank (EIB) ausgiebt. Der Hintergrund für diesen Plan ist, dass „in den letzten drei Dekaden die Rate der öffentlichen Investitionen in der Eurozone um mehr als ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zurückgegangen ist. Dieser Trend hat einen wichtigen Teil dazu beigetragen, dass aus der Eurozone ein Gebiet mit niedrigen Wachstumsraten geworden ist. Dieser Trend muss umgekehrt werden. Das kann erreicht werden mit einer neuen Emission von Project Bonds, um die Rate der öffentlichen Investitionen im Euroraum um 1 Prozent des BIP wachsen zu lassen. Weil das BIP der Eurozone etwa 10.000 Milliarden Euro beträgt, müssten jährliche Emission von Project Bonds von 100 Milliarden Euro durchgeführt werden.“ Die Dimensionen dieses Plans entsprechen also drei Mal dem Umfang des Delors-Plans aus dem Jahr 1993.
Mehr Bedeutung für die Europawahl
Diese drei Initiativen sind entscheidend, um die Bedeutung und das Ergebnis der nächsten europäischen Wahlen 2014 zu verändern. Seit 1979 ist die Wahlbeteiligung von einer Abstimmung zur nächsten kontinuierlich zurückgegangen. Die Erklärung dafür ist einfach: Mit den Wahlen ist keine echte Entscheidung über Politik verbunden, denn die Bürger können über keine echte Regierung abstimmen, und daher reduziert sich die europäische Wahl zu einer nationalen Wahl zweiten Ranges. Das Europäische Parlament wird nicht als eine entscheidende Institution für die Zukunft der Bürger eingeschätzt, und im Endergebnis bildet sich der Rat ein, das einzige Organ zu sein, das die wichtigen Entscheidungen treffen darf. Aber wenn die europäischen Bürger in einem europäischen Wahlbezirk über eine europäische Persönlichkeit entscheiden können, die auch Präsident der Europäischen Kommission werden kann, und wenn die großen europäischen Parteien in ihre Programme einen effektiven Plan für Wachstum in Europa aufnehmen, für mehr öffentliche Investitionen und mehr Arbeitsplätze, können die Bürger endlich ein echtes Interesse an den europäischen Wahlen entwickeln. Wenn dies geschieht, muss das kommende Europäische Parlament die Wahlversprechen auch umsetzen. Eine Politik für Wachstum kann keinen Erfolg haben ohne die Unterstützung der Bürger, der Organisationen der Zivilgesellschaft, der politischen Parteien und der Gewerkschaften; alles in allem ist eine europäische Politik für Wachstum unmöglich ohne europäische Demokratie.
Demokratie über das Parlament hinaus
Die Beteiligung der Bürger am europäischen Projekt darf sich aber nicht auf die europäischen Wahlen beschränken. In einer demokratischen Gemeinschaft diskutieren die Bürger öffentlich die politischen Optionen und nehmen täglich für oder gegen die von den Parteien eingenommenen Positionen Stellung. Aber existieren ein europäisches Volk und ein europäischer Diskursraum? Die Position der Euroskeptiker, dass nämlich ein öffentlicher europäischer Diskursraum und ein europäischer Demos nicht existieren, hat das Ergebnis der Debatte über die europäische Verfassung stark beeinflusst. Heute eröffnet der Vertrag von Lissabon die Möglichkeit, diese Kritik zu widerlegen. Eine Million Bürger können die Initiative übernehmen, um die Kommission aufzufordern „im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf.“ Natürlich können auch die euroskeptischen Kräfte versuchen, die Europäische Bürgerinitiative (EBI) auszunutzen. Im Ergebnis kann aber jede EBI nützliche öffentliche Debatten in der EU auslösen und Reaktionen von Seiten der politischen Parteien und der europäischen Institutionen provozieren. Die EBI kann auch genutzt werden, um die politische Einigung Europas voranzutreiben. Zum Beispiel könnte eine EBI die Kommission auffordern, alle notwendigen legislativen Akte vorzubereiten, um den Vorschlag „Europe for Growth“ umzusetzen. Diese Initiative könnte nicht nur durch die großen Parteien unterstützt werden, sondern auch durch die Gewerkschaften, die Industrieverbände, lokale Regierungen, die Organisationen der Zivilgesellschaft und unzählige Bürger.
1989 versammelten sich viele Bürger auf den Plätzen Osteuropas, um demokratische Regierungen und demokratische Institutionen einzufordern. Heute protestieren und kämpfen die Bürger der arabischen Länder gegen ihre Diktatoren. Jedes Volk muss seinen eigenen Weg und die eigenen Mittel finden, um die Demokratie durchzusetzen oder voranzubringen. In Europa gib es keinen klar erkennbaren Diktator zu bekämpfen. Der Gegner der europäischen Demokratie ist der Intergouvernementalismus mit der ihm zugrunde liegenden Ideologie, dem Euroskeptizismus. Wenn die hier vorgeschlagenen EBIs Erfolg haben sollten, können die Euroskeptiker nicht länger behaupten, ein europäischer Demos existiere nicht – damit würde sich der Weg öffnen, um die Europäische Union in eine wirkliche übernationale Demokratie zu verwandeln.
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