Europäische Sparmaßnahmen ohne Wachstum? Europäisches Wachstum ohne europäische Demokratie? (1)

Erster Teil: Wie die europäischen Bürger das europäische Projekt wieder in Gang bringen und den Euroskeptizismus besiegen können

, von  Guido Montani, Übersetzt von Tobias Sauer

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Europäische Sparmaßnahmen ohne Wachstum? Europäisches Wachstum ohne europäische Demokratie? (1)
Europa im Umbau - und wo bleibt der Bürger? Bild: Travaux, Berlaymont von Simon Blackley, bestimme Rechte vorbehalten.

Das europäische Projekt ist in der Krise. Die europäischen Bürger verstehen nicht mehr Bedeutung und Ziel, die jungen Europäer und die Führungsschicht scheinen die klare Botschaft vergessen zu haben, die im europäischen Projekt, das unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen wurde, enthalten ist: „Nie wieder Krieg zwischen Europäern!“.

Die Gründungsväter der Europäischen Union werden zwar in den Geschichtsbüchern erwähnt, aber das Europa von heute wird eher als ärgerliche Bürokratie wahrgenommen. In Europa werden Frieden und wirtschaftliche Stabilität wie ein Naturzustand betrachtet, wie eine Gabe des Himmels. Warum also eine unnütze EU am Leben erhalten?

Der Aufmarsch der anti-europäischen Kräfte

Der Zustand der EU verschlechtert sich rasch. In fast allen Mitgliedstaaten gewinnen anti-europäische Kräfte an Zuspruch. Der Populismus ist keine neue Ideologie und auch nicht notwendigerweise europäisch, etwa wenn man an den argentinischen Peronismus denkt. Im heutigen Europa ist der Populismus vor allem ein neuer Ausdruck des Nationalismus. In Italien unterstützt die Lega Nord die europaskeptische Regierung Berlusconis. In Frankreich greift der Front National die Hegemonie der UMP an. In Belgien bringen die Gegensätze zwischen Flamen und Wallonen den Staat in Gefahr. In den Niederlanden, Ungarn, der Tschechischen Republik, in Österreich und in Finnland sind die populistischen Kräfte entweder an der Regierung beteiligt oder sie beeinflussen diese maßgeblich.

Der Nationalismus heute: eine andere Dimension

Dieser neue National-Populismus unterscheidet sich vom Nationalismus der Vergangenheit. Der Nationalismus De Gaulles war eine Ideologie, die auf der „grandeur“ der Geschichte Frankreichs und auf einer Idee Europas basierte, das begriffen wurde als ein „Europa der Vaterländer“, unter denen Frankreich die Führung in der internationalen Politik innehabe. Der heutige National-Populismus ist dagegen eine Form von Mikro-Nationalismus: das europäische Projekt wird abgelehnt, aber ohne eine präzise Alternative zu haben. Gerade deshalb ist der Populismus gefährlich. Denn dessen Ziel ist nicht nur, das Projekt der europäischen Einigung abzubrechen, sondern auch die alten Nationalstaaten aufzulösen, um sie in ethnische Mikro-Staaten zu verwandeln, wie es im ehemaligen Jugoslawien geschehen ist.

Der europäische Populismus und der Euroskeptizismus sind zwei Gesichter derselben Medaille. Die pro-europäischen demokratischen Parteien können sie nicht innerhalb der Grenzen des Nationalstaats besiegen. Beide sind das Ergebnis der Krise des europäischen Projekts. Diese Krise begann mit dem Ende des Kalten Krieges, als die europäischen Eliten unfähig waren, die günstige Gelegenheit zu nutzen, um das ursprüngliche Projekt der Gründerväter zum Abschluss zu bringen. Es genügt, sich an einige wenige verschenkte Gelegenheiten zu erinnern: Der Vertrag von Maastricht war ein unbefriedigender Kompromiss, eine Währungsunion ohne eine Wirtschaftsunion und ohne eine politische Union. Der Europäische Konvent hat eine Europäische Verfassung erarbeitet, die keine europäische Regierung beinhaltete. Darüber hinaus hat der Vertrag die Einstimmigkeitsregel für die Ratifizierung nicht geändert, obwohl das Prinzip der doppelten Mehrheit der Bürger und der Staaten in das Verfassungsprojekt aufgenommen worden war. So kam es, dass, als die Franzosen und die Niederländer in einem Referendum gegen den Verfassungsvertrag stimmten, niemand wahrnehmen konnte, dass sich nur eine Minderheit der Bürger gegen das Projekt aussprach, während eine Mehrheit dafür war. Heute haben wir als Ersatz für den Verfassungsvertrag den Vertrag von Lissabon. Doch mittlerweile hat sich das Klima geändert: Die alte Generation, die die Schrecken des Krieges erlebt hatte, hat das Feld verlassen. Die neue politische Klasse sieht sich mit neuen Problemen konfrontiert: dem internationalen Terrorismus, den Schwierigkeiten der Erweiterung, der Immigration, den Herausforderungen durch die Globalisierung, das immer schwierigere Bündnis zwischen den beiden Seiten des Atlantiks und die Unfähigkeit Europas, das wirtschaftliche Wachstum zu stimulieren.

Die Europäische Union - Vehikel nationaler Interessen

In dieser neuen politischen Atmosphäre wird die Europäische Union verstanden als eine Sammlung von nützlichen Institutionen für die nationalen Regierungen, aber nicht als langfristiges Projekt, das es lohnt, verfolgt zu werden. Nicht als „der erste Grundstein einer europäischen Föderation“, wie es in der Erklärung Schumans heißt. Darüber hinaus hat sich der relative Einfluss Frankreichs und Deutschlands, der alte Motor der europäischen Integration, radikal gewandelt. Nach dem Krieg war Frankreich der einzige Staat, der in der Lage war, die Initiative zur Einheit Europas zu ergreifen, und Frankreich tat das. Heute, nach der Wiedervereinigung, trachtet Deutschland nach einem neuen globalen Status, wirtschaftlich und politisch, wie die Bemühungen um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zeigen. Auf diese Weise hat sich der französisch-deutsche Motor der europäischen Integration langsam, aber unaufhaltsam in eine Art Direktorium verwandelt. Da der Vertrag von Lissabon das Problem der europäischen Regierung nicht gelöst hat, begannen Frankreich und Deutschland, eine Wirtschaftsregierung vorzuschlagen, die, laut Präsident Sarkozy und Kanzlerin Merkel, nichts anderes sein soll als der Europäische Rat, in dem die wichtigsten Entscheidungen in Hinblick auf die Außen- und Finanzpolitik einstimmig beschlossen werden. Das Resultat dieses Projekts ist, dass bei Ausbruch der Finanzkrise das französisch-deutsche Direktorium die Führung übernommen und intergouvernementale Lösungen durchgesetzt hat, außerhalb des traditionellen „institutionellen Dreiecks“, das heißt des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Ministerrats. Nach den Verträgen müssen diese nach der Gemeinschaftsmethode entscheiden: Das Europäische Parlament und der Ministerrat beschließen gemeinsam und die Kommission führt aus (in diesem Falle wird die Kommission zur „Regierung“ der Union). Im Gegensatz dazu wird das Europäische Parlament durch das das Direktorium beinahe ganz aus dem Entscheidungsprozess herausgehalten.

„Wer zahlt die Rechnung?“

Betrachtet man die Finanzkrise, ohne eine kleinteilige Beschreibung der getroffenen Entscheidungen zu beginnen, ist zu beobachten, dass im Mittelpunkt die Frage stand: Wie viel müssen „tugendhafte“ Staaten an die „lasterhaften“ Länder, die sogenannten PIGS (Portugal, Italien, Griechenland und Spanien), zahlen? Um deren Konkurs zu vermeiden, wurde nach einer Vertragsreform der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) geschaffen, der unter Kontrolle der nationalen Regierungen bleibt. Dieser Mechanismus soll, zusammen mit dem Europäischen Semester, den Respekt der nationalen Regierungen vor den fiskalischen Regeln verbessern und die notwendigen Sparmaßnahmen garantieren. Es handelt sich also um eine Verbesserung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Aber auf diese Weise werden auch die Konflikte zwischen den nationalen Regierungen verewigt. Im Gegensatz dazu war eine Lösung zur Hand, die den europäischen Geist respektiert und die keine Reform des Vertrags notwendig gemacht hätte: Es wäre ausreichend gewesen, den europäischen Etat um dieselbe Summe zu erhöhen, die in den ESM eingebracht wurde, um so der EU neue Ressourcen zuzuführen. Denn die Währungsunion ist die Institution, die ein entscheidendes öffentliches Gut sichert: Die Stabilität des Geldes. Wenn die Währungsunion in Gefahr ist, aufgrund schlechter Regierungsführung eines Mitgliedstaats, ist dieser Staat gehalten, die vereinbarten Regeln zu beachten, aber alle europäischen Bürger, unabhängig von ihrer Nationalität, müssen zur Rettung der Union beitragen.

Ursachen des Euroskeptizismus

Das geschaffene Direktorium ist nicht nur ineffizient, da es schwache und provisorische Lösungen für europäische Probleme produziert; es ist auch instabil, denn wenn die Wirtschaftspolitik diskutiert wird, beansprucht Deutschland die Führung, aber sobald eine militärische Verpflichtung notwendig wird – wie es in der Libyen-Frage geschah – übernimmt Frankreich die Führung; es ist nicht demokratisch, weil es die kleinen Länder diskriminiert und das Europäische Parlament (und damit die Bürger) aus dem Entscheidungsprozess ausschließt – können die europäischen Bürger und das Europäische Parlament ein Misstrauensvotum gegen das Direktorium aussprechen?; es ist gefährlich, weil es die falsche Überzeugung nährt, dass die EU nur ein Hilfsinstrument für die nationalen Regierungen darstellt und dass eine größere politische Einheit nicht notwendig sei. Die intergouvernementale Methode und der Wille, ein europäisches Direktorium zu errichten sind die wahren Gründe des Euroskeptizismus, der Wiedergeburt des Nationalismus und des Erfolgs der populistischen Bewegungen in Europa.

Der zweite Teil erschien am 25. Mai und beschäftigte sich mit Nationalismus und Euroskeptizismus.

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