Merkels Ansicht
Bundeskanzlerin Merkel hat ihre eigene Art, historische Herausforderungen zu kommunizieren. Gestik und Tonfall unterstreichen gekonnt die ernsten Worte: „Europa ist ohne den Euro nicht mehr zu denken“, sagt sie. Nur, ihre Mimik steht in so krassem Kontrast zu dieser Aussage, dass es schwer fällt, ihr Glauben zu schenken. Die Kanzlerin wirkt kalt und berechnend – und nicht nur bei dieser Pressekonferenz am 19. Juli in Hannover. Kurz darauf folgt der Rede Inhalt dem Gesichtsausdruck der Rednerin: „und deshalb ist es jede verantwortbare Anstrengung wert unternommen zu werden, um die Probleme von der Wurzel her zu lösen“. Einen großen Schritt lehnt sie ab und behauptet, jene, die nun danach streben, hätten „die Dimension und die Aufgabe, um die es geht, nicht verstanden“.
Ist es nicht genau andersherum?
Primat des Pragmatismus
Europa ist aus jeder Krise gestärkt hervorgegangenen, ist eine Erkenntnis der Europawissenschaften, zumindest was die Integration von Institutionen angeht. Und ausgerechnet jetzt, während der größten Krise der europäischen Einigung seit Charles de Gaulles Politik des leeren Stuhls, sieht die deutsche Kanzlerin die Chance nicht. Warum?
Vermutlich liegt es an ihrer Grundeinstellung. Im Gegensatz zu Europäern wie Mitterrand, Delors, Fischer oder Kohl ("Die macht mir mein Europa kaputt" [1]) ist für Merkel Europa in erster Linie ein Alltagsgeschäft. „Für die Kanzlerin ist die EU ein Zustand und keine Vision“, bemerkt der Berliner Tagesspiegel treffend.
Nach dem Krieg geboren und seit 1990 im Bundestag aktiv, fehlt ihr die Wertschätzung, dass allein die Existenz einer Union ehemaliger Todfeinde, eine der größten Errungenschaften der neueren Geschichte ist.
Für sie ist Europa gleich EU – inklusive der lästigen Kommission mit ihren Richtlinien, dem europäischen Gerichtshof und der alltäglichen Machtkämpfe mit den anderen Mitgliedsstaaten.
Wo keine Vision, da keine Richtung
Man könnte zu der Einschätzung kommen, dass dies nicht schlimm sei. Wenn Europa im Alltag einer nationalen Regierung angekommen ist, vielleicht ist dann das Ziel bereits erreicht. Doch, dem ist nicht so.
Was Merkel, und mit ihr die meisten europäischen Regierungschefs nicht erkennen, ist, dass die Bürger nach einem Plan verlangen. Vor zwanzig Jahren hätte man auch noch Vision schreiben können, aber das klingt wohl zu altbacken im 21. Jahrhundert.
Im Kern meint es aber das Gleiche: Anstatt einer Regierung, die sich wie ein Abstiegskandidat im Fußball von Entscheidungsspiel zu Entscheidungsspiel quält, wollen die Menschen wissen, worauf sie sich einstellen müssen. Weder sie, noch die Finanzmärkte glauben den immer gleichen Beteuerungen der europäischen Eliten.
Warum? Weil eben niemand sagt „So schlimm steht es, das machen wir um die Krise zu überwinden, das sind die Risiken dabei, und in drei Jahren geht es uns allen in der Union besser: den Deutschen, aber auch den Griechen, Spaniern und Iren.“
Einen „kontrollierten, beherrschbaren Prozess“, wie ihn Merkel zur Lösung fordert, gibt es nicht. In einer historischen Situation, bei der alles auf dem Spiel steht, gilt es zu analysieren und dann zu entscheiden. Ansonsten verlieren Geldanleger, Bürger und die europäischen Nachbarn das Vertrauen. Und wir Europäer vielleicht unser Europa.
Man möchte ihr zurufen: „Sie, Frau Kanzlerin, haben es nicht verstanden!“
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