Michel Barnier „Der Sport kann zur Verwirklichung der Europa 2020-Strategie beitragen“

Interview mit Michel Barnier, Mitglied der Europäischen Kommission, Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen

, von  Sport et Citoyenneté, übersetzt von Inga Wachsmann

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Michel Barnier „Der Sport kann zur Verwirklichung der Europa 2020-Strategie beitragen“
Michel Barnier © Alain Guizard (bestimmte Rechte vorbehalten)

Ihre Generaldirektion hat ein „Grünbuch Online-Gewinnspiele und Binnenmarkt“ veröffentlicht. Was ist der Hintergrund dieses Grünbuchs?

Michel Barnier: Mit dem Grünbuch haben wir eine weitreichende, unvoreingenommene und ergebnisoffene Konsultation gestartet. Der Markt für Online-Gewinnspiele in der EU wächst immer stärker und verzeichnet große Gewinne. Diese Gewinne können zur Finanzierung von dem was ich „Aufgaben im Sinne des Allgemeinwohls“ nennen würde beitragen, wie zum Beispiel Wohltätigkeitszwecke in bestimmten Ländern oder für den Breitensport.

Andererseits sind Gewinnspiele lukrativ (für die Anbieter) und machen (die Spieler) potentiell abhängig und tragen große gesellschaftliche Risiken in sich. Der Markt für Online-Gewinnspiele entwickelt sich weiter. Das ist ein Faktum. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Spieler, insbesondere schwache Gesellschaftsgruppen wie Minderjährige, schützen können. Das Angebot dieser Art von Dienstleistungen in der EU sollte gesund sein und daher ausreichend reglementiert.

Die öffentliche Konsultation ist eine Antwort auf den Wunsch des Europäischen Parlaments und der Mitgliedstaaten, das Thema ausführlich und in allen Facetten auszuleuchten. Die Konsultation hat nicht die Liberalisierung des Marktes zum Ziel, sondern hinterfragt die Herausfroderungen der Marktentwicklung und die Antworten, die auf europäischer sowie nationaler Ebene dafür notwendig werden können.

Der Sport ist direkt von diesen Herausforderungen betroffen weil einige öffentliche Anbieter finanziell zur Weiterentwicklung des Massensports beitragen. Was sind Ihre Vorhaben in diesem Bereich?

Michel Barnier: Die Konsultation untersucht die Verwendung der Erlöse für Allgemeinwohlzwecke sowie die öffentlichen und privaten Umverteilungsmechanismen der Erlöse aus Online-Gewinnspielen zum Wohl der Gesellschaft z.B. durch Unterstützung von Kunst, Bildung oder Sport. Die Beiträge der betroffenen Akteure zur Konsultation werden uns dabei helfen eine exaktere Vorstellung von der öffentlichen Meinung zu den Herausforderungen zu erlangen und besser abwägen zu können, ob Reaktionen auf europäischer Ebene notwendig sind.

Sie haben am 16. Februar 2010 eine Konferenz zur Finanzierung des Sport für alle organisiert. Welche Konsequenzen haben Sie daraus schließen können? Was sind die Ziele der Studie, die sie zu diesem Thema angestoßen haben?

Michel Barnier: Die Kommission hat im Jahr 2007 als Reaktion auf eine bedeutende Nachfrage als Ergänzung des Weißbuchs Sport den Aktionsplan „Pierre de Coubertin“ eingerichtet und eine unabhängige Studie zur „Finanzierung des Sport für alle in der EU“ gestartet. Sie untersucht die unterschiedlichen Finanzierungssysteme des Sport in den Mitgliedstaaten und ist Basis für unsere Entscheidungen über Maßnahmen im Rahmen des Binnenmarktes. Die belastbaren Zahlen dieser Studie werden für die Debatte sehr nütlich sein. Sie wird bald zur Verfügung stehen.

Die Konferenz aus dem Jahr 2010 war die Gelegenheit für alle Akteure ihren Standpunkt zur Finanzierung des Sport für alle klar zu machen. Zentrales Ziel war die unterschiedlichen Finanzierungssysteme nach Disziplinen und Mitgliedstaaten darzustellen, die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise für die Finanzierung des Sport zu diskutieren, mögliche Herausforderungen bei der Finanzierung des Sport herauszustellen und einige Disziplinen und Mitgliedstaaten auszuwählen, die in den weiteren Etappen der Studie über die Finanzierung des Sport für alle genauer analysiert werden. Vertreter von 18 Mitgliedstaaten haben an der Konferenz teilgenommen.

Die Europaparlamentarier waren präsent aber auch die olympischen Verbände, die nationalen und internationalen Sportverbände und -vereine sowie private Akteure. Die Debatte war sehr bereichernd.

Neben den Risiken der Finanzierung des Sport steht als zweites Handlungsfeld im Zusammenhang mit der Liberalisierung der Online-Gewinnspiele die Angst vor dem größeren Risiko der Manipulation von Spielen. Wurden Maßnahmen dagegen unternommen?

Michel Barnier: Wir müssen zunächst das Ausmaß des Problems feststellen. Das ist das Ziel der Konsulation zum Grünbuch. Ich glaube jedoch, dass das Rikiko besteht und auf nationaler oder gar europäischer Ebene Maßnahmen ergriffen werden müssen. Es existieren viele interessante Initiativen der öffentlichen Hand oder der Gewinnspiel-Operateure, die a priori die Glaubwürdigkeit der Sportwettbewerbe nicht gefährden, weil die Akteure davon als erste betroffen wären!

Wir können in einigen Bereichen handeln: die Sportler und ihre Betreuer auf die Risiken aufmerksam machen und entsprechend schulen; bei den Sportlern und Betreuern einen Reflex dafür entwickeln was sie tun können und was nicht; definieren auf was man wetten kann und auf was nicht (wegen dem zu hohen Risiko der Manipulation); oder über ein Monitoring der Wetten und Sportbegegnungen, das jedes ungewöhnliche Verhalten anzeigt und bei starkem Verdacht auf Manipulation die entsprechenden Wetten annuliert.

Den Sport zu schützen ist ein typischer Fall für eine gemeinsame europäische Antwort. Für die großen Sportereignisse werden die Wetten in vielen europäischen Staaten abgeschlossen und nicht nur in dem Staat, wo das Ereignis stattfindet! Denken wir beispielsweise an Roland Garos oder an einen Formel 1-Grandprix.

Selbst wenn der Staat wo das Ereignis stattfindet strenge Regeln beschließt, könnte eine große Anzahl an Wetten in anderen Staaten mit weniger strengen Regeln abgeschlossen werden. Die Versuchung der Manipulation wäre umso größer. Wir müssen also über europäische oder internationale Mechanismen nachdenken, damit wir zu gemeinsamen Regeln für diese Risiken gelangen.

Denken Sie, dass der Sport zur Erfüllung der Ziele aus der Europa 2020-Strategie (intelligentes, nachhaltiges und inklusives Wachstum) beitragen kann?

Michel Barnier: Ja. Der Sport kann zur Erfüllung der Ziele der Europa 2020-Strategie beitragen. Die kürzlich veröffentlichte Mitteilung der Kommission zur Entwicklung der europäischen Dimension des Sportsstellt unsere Politik für den Sport vor. Wir erkennen darin die wichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle des Sport an und schlagen konkrete Maßnahmen der Kommission und/oder der Mitgliedstaaten vor. Diese Aktionen sollen die Debatte der betroffenen Akteuren über die Herausforderungen für die europäische Ebene fördern und zur Weiterentwicklung des Sport beitragen.

Die Kommission prüft gerade ein europäisches Sportprogramm, das zu einem intelligenten, nachhaltigen und inklusiven Wachstum beitragen könnte. Die Rolle des Sport ist entscheidend, wenn man seinen Einfluss auf Nachbarbereiche wie den Tourismus, das Fernsehen oder sportliche Infrastrukturprojekte bedenkt. Durch seinen positiven Einfluss auf die soziale Integrität, die Bildung und Ausbildung sowie die öffentliche Gesundheit, hat der Sport auch ein großes Potenzial für Wachstum und Beschäftigung. Wirtschaftliche Studien haben gezeigt, dass der Sport in Zypern z.B. 2,2 Prozent der gesamten Beschäftigung ausmacht. In Großbritannien sind es zwei Prozent und in Österreich 5,8 Prozent.

Unser Think Tank beschäftigt sich mit der Idee einer europäischen Identität und Bürgerschaft. Glauben Sie, dass der Sport mit seinen sozialen, bildungstechnischen und bürgerschaftlichen Eigenschaften dafür eine Rolle spielen kann?

Michel Barnier: Der Sport hat eine eindeutige bildungstechnische und soziale Rolle was die „Staatsbürgerschaft“ angeht. Dies kommt nicht allein davon Sport zu treiben (und den positiven Auswirkungen auf die Gesundheit zum Beispiel), sondern betrifft auch das ehrenamtliche Engagement der Betroffenen und das Vereinsleben, was positiv für die gesamte Gesellschaft ist. In Ländern wie Finnland oder Schweden sind 18 Prozenz der Bürger ehrenamtlich im Bereich des Sport aktiv.

Unser Ziel ist es eine EU-Agenda für den Sport zu entwickeln. Europäische Aktivitäten sollen dabei Bereiche betreffen, wo die EU einen Mehrwert hat und die Aktion der Mitgliedstaaten eindeutig ergänzen kann. Häufig wird nach dem Projekt der doppelten Ausbildung (sportlich und allgemein), nach der Verbreitung von physischen Aktivitäten zum Wohl der Gesundheit, nach dem Anti-Doping-Kampf, nach den Rechten am geistigen Eigentum und dem Schutz des Sport, insbesondere bei den illegalen Wettspielen gefragt.

Die Kommission hat für die Förderung von Sport-Gesundheit, sozialer Inklusion, Ehrenamt, Chancengleichheit von Mann und Frau, Zugang von behinderten Personen oder Anti-Doping bereits mehr als sechs Millionen Euro für circa 40 Projekte ausgegeben.

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