Sinti und Roma in Osteuropa
Sechs kaltblütig ermordete Menschen, 55 Schwerverletzte – eine Schreckensbilanz, verursacht zwischen 2008 und 2009 durch Anschläge ungarischer Rassisten an einer Bevölkerungsgruppe: den Sinti und Roma. Unter den Opfern befand sich auch ein fünfjähriges Kind, das in den Armen seines Vaters erschossen wurde. Ein ungarisches Gericht verurteilte nun die drei Täter zu lebenslangen Haftstrafen, einen Komplizen zu 13 Jahren Gefängnis.
Antiziganismus, also Diskriminierung gegen Sinti und Roma, ist in der ungarischen Gesellschaftsstruktur tief verwurzelt. Selbst Politiker distanzieren sich manchmal nicht oder nicht ausreichend von rassistischen und menschenverachtenden Hetztiraden gegen die Minderheit. Die Lebenssituation der Sinti und Roma ist besonders in den südosteuropäischen Ländern kritisch. „Armut, Isolation, schlechte Wohnverhältnisse und unzureichende medizinische Versorgung gehören vor allem in den Balkanländern für sie zum Alltag“, sagt Rudi Tarneden, Pressesprecher von Unicef Deutschland im Bereich Kinderrechte. Damit sich das langfristig ändert, müssten Slums und Ghettos schrittweise abgebaut werden. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordert hierfür eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Regierungen und Nicht-Regierungs-Organisationen in den Heimatländern der Flüchtlinge.
Sinti und Roma in Westeuropa
Handlungsbedarf besteht jedoch nicht nur in südosteuropäischen Ländern, sondern auch in Westeuropa. Einige Länder wie Frankreich, Belgien und Griechenland haben einschlägige Konventionen des Europarates zum Schutz von Minderheiten nicht ratifiziert. Damit haben Sinti und Roma zumindest theoretisch in einigen südosteuropäischen Ländern wie Rumänien und Bulgarien mehr Rechte als in diesen Staaten. Daher sollten sie die Konventionen dringend ratifizieren. Nur so kann der Schutz der Minderheitengruppe rechtlich gewährleistet werden.
Auch in Deutschland gibt es Rassismus gegen Sinti und Roma: Über das soziale Netzwerk Facebook riefen Nutzer zum Abbrennen eines Hauses in Duisburg auf, das überwiegend von der Bevölkerungsgruppe bewohnt wird. Die NPD bezeichnet sie in ihren Wahlkampf-Flyern als „kriminelle Zigeuner“. Nicht nur am rechten Rand, sondern auch bei den etablierten Parteien gibt es Stimmungsmache gegen Sinti und Roma. So fordert CSU-Gemeinderätin Michaela Neumeier: „Hauptsache die Roma verschwinden“. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (ebenfalls CSU) spricht von Asylmissbrauch und Armutseinwanderern aus Ländern wie Rumänien und Bulgarien, mit denen in erster Linie Sinti und Roma gemeint sind. „Politik und Medien agieren leider häufig gedankenlos und pauschal mit Begriffen wie ’Armuts- oder Wirtschaftsflüchtlingen’“, erklärt Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, gegenüber treffpunkteuropa.de. Das fördere Ablehnung und Ausgrenzung.
Tatsächlich weist der Politikwissenschaftler Markus End in einem Gutachten auf eine Studie hin, laut der mehr als jeder vierte Deutsche der Meinung ist, Sinti und Roma sollten aus den heimischen Innenstädten verbannt werden. „Insbesondere die neu zugewanderten Roma sind in praktisch allen Lebensbereichen Diskriminierung ausgesetzt“, erklärt Lüders. Das betreffe insbesondere den Wohnungs- und Arbeitsmarkt, aber auch Schulen.
Rechte von Roma und Asylbewerbern
Hierzulande sind Sinti und Roma durch das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten gesichert. Sie haben dadurch unter anderem Anspruch auf Teilnahme am kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben, sie genießen Freiheitsrechte und können sich an öffentlichen Angelegenheiten beteiligen. Außerdem hat sich die Regierung zur Förderung von Toleranz und interkulturellen Dialog verpflichtet.
Allerdings stehen diese Ansprüche nur den Sinti und Roma zu, die über eine Aufenthaltsgenehmigung verfügen. Flüchtlinge und Asylbewerber sind zwar vorübergehend geduldet, haben aber eingeschränkte Rechte und können damit jederzeit abgeschoben werden. Sie wohnen in provisorischen Flüchtlingsunterkünften, dürfen nicht in gewöhnliche Mietwohnungen umziehen und mindestens ein Jahr lang nicht arbeiten. Asylbewerber leben oft jahrelang unter diesen Bedingungen und sind von vornherein von der Mehrheitsgesellschaft isoliert. Kinder, die teilweise schon in Deutschland geboren sind, wachsen ohne Schulbildung auf, weil eine gesetzliche Schulpflicht für sie nicht besteht. Sie dürfen in manchen Bundesländern zwar freiwillig den Unterricht besuchen, in anderen Ländern, wie zum Beispiel im Saarland, wird ihnen dieses Recht aber verwehrt. Es verwundert demnach nicht, dass 57 Prozent der in der Studie von End befragten Sinti und Roma angaben, über keinen Schulabschluss zu verfügen.
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordert deswegen die Bundesregierung auf, die Rechte des Rahmenübereinkommens auch auf Flüchtlinge und Asylbewerber zu übertragen. Die gesundheitliche und schulische Versorgung von Kindern soll unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus sichergestellt werden. Rudi Tarneden von Unicef unterstützt diese Forderung: „Für Roma-Kinder müssen die gleichen Rechte gelten, wie für alle anderen Kinder. (Das) Kindeswohl (muss) bei allen politischen Entscheidungen (…) im Mittelpunkt stehen.“
Stichwort Partizipation und Aufklärung
Kinder und Jugendliche von Sinti und Roma sollen gezielt gefördert und in die Mehrheitsgesellschaft integriert werden – das verlangen sowohl Unicef als auch der Zentralrat der deutschen Roma. In kostenlosen Kindergärten und Vorschulen sollen sie gemeinsam mit anderen Kindern auf den Schulbesuch vorbereitet werden, schlägt Tarneden vor. Durch lokale Programme und Mentoren sollen sie zudem die jeweilige Landessprache besser erlernen, insistiert der Zentralrat in seinem Positionspapier zur Rahmenvorgabe der Europäischen Union zur Verbesserung der Lage von Roma in Europa. Außerdem soll die deutsche Regierung Untersuchungen zum Antiziganismus fördern und ständige Expertengremien und Arbeitsgruppen ins Leben rufen.
„Die Antidiskriminierungsstelle setzt im kommenden Jahr einen Schwerpunkt auf die Bekämpfung von Antiziganismus und wird Roma verstärkt über ihre Rechte aufklären“, versichert Lüders, die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle. Dazu sollen Info-Materialien in Romanes, der Sprache der Sinti und Roma, herausgegeben werden sowie Veranstaltungen und Aktionen organisiert werden. Die Antidiskriminierungsstelle und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sind sich einig, dass auch staatliche Institutionen wie Schulen, Justiz und Polizei für das Thema sensibilisiert werden müssen. Wie dringend Handlungsbedarf besteht, wird sich wohl erst im nächsten Jahr genauer zeigen. Laut Lüders soll dann eine Studie veröffentlicht werden, die die Einstellung der Allgemeinbevölkerung zu Sinti und Roma thematisiert.
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