Was wäre, wenn sie vielleicht doch Recht hätten?

, von  Marian Schreier

Was wäre, wenn sie vielleicht doch Recht hätten?
Europa verteidigen ist Sisyphosarbeit! Sisyphos von Franz von Stuck © Wikipedia

Im Spätsommer 2011 legt Charles Moore, Redakteur des britischen „Telegraph“ und eingefleischter Konservativer, dar, warum die politische Linke vielleicht doch Recht hat mit ihrer Kritik an entfesselten Kapitalmärkten und Raubtierkapitalismus. Sekundiert wird er in Deutschland vom Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, der bisher auch nicht gerade als Apologet linken Gedankenguts in Erscheinung getreten ist. Die Kritik der Linken soll hier nicht Gegenstand sein, viel mehr aber die Kritik der Euro(pa)skeptiker – was wäre, wenn Sie vielleicht doch Recht hätten?

Spätestens seit der Euro-Krise sind Pro-Europäer härtester Kritik ausgesetzt. In ihrer mildesten Form prangert sie die Aushöhlung des parlamentarischen Budgetsrechts an (siehe Fiskalpakt), in der mittleren Spielart wird der Finanzsozialismus ausgerufen (siehe Europäischer Stabilitätsmechanismus) und wenn gar nichts mehr hilft, wird die Abschaffung der Demokratie durch einen Brüsseler Superstaat orwellschen Ausmaßes herauf beschworen. Pro-europäische Recken begegnen den europakritischen Suaden in Parlament, Talkshows und auf der Straße mit unermüdlichen Erwiderungen von der Alternativlosigkeit der Europäischen Union. Doch der Erfolg, der diesem Unterfangen beschieden ist, fällt in etwa so aus wie bei Sisyphos – die Idee Europas verfängt nicht mehr.

Und das ist der Punkt, an dem man als Europäer anfangen muss, sich Gedanken zu machen und vielleicht auch eingestehen kann, dass unsere Kritiker in einem Punkt Recht haben. Die beiden zentralen pro-europäischen Argumentationslinien sind auf der Prämisse der Alternativlosigkeit gebaut. Kopfeuropäer setzen auf die Rationalität des europäischen Projekts, die in den immensen wirtschaftlichen Vorteilen, vom Binnenmarkt bis zur Freizügigkeit, begründet liegt. Im Gegensatz dazu führen Herzeuropäer die kulturellen Werte und die einzigartige Friedensleistung der Europäischen Union an. Beide Argumentationen haben ihre Berechtigung, gefährlich ist nur ihr argumentativer Unterbau.

Die Rede von der Alternativlosigkeit von Entscheidungen hat seit der Finanzkrise 2008 Hochkonjunktur. Der Sachzwang, welcher keine andere als die eingeschlagene Politik zulässt, regiert. Eine gefährliche Autoimmunisierungsstrategie, um wichtige Weichenstellungen, siehe Fiskalpakt, im Höchsttempo durchzupeitschen - unter bewusstem Verzicht eines öffentlichen Meinungsstreits. Dabei bedarf es einer öffentlichen Auseinandersetzung um und über die Europäische Union, gerade in Zeiten der Krise darf Kritik nicht leichtfertig mit einem „Es geht jetzt nun mal nicht anders.“ abgeschmettert werden. Eine reine Fokussierung darauf, dass das „was hinten rauskommt“ reicht, um politische Entscheidung zu legitimieren, hat sich überlebt.

Mehr noch: Diese Immunisierungsstrategie macht es Europagegnern einfach, die europäische Idee als ein technokratisches und bürgerfernes Unterfangen zu etikettieren. Als pro-europäisch denkender Mensch darf die Diskussion über Alternativen zur Europäischen Union, in historischer wie gegenwärtiger Perspektive, nicht gescheut werden. Wir müssen bereit sein, nicht nur für das „wie“ – die Ausgestaltung der EU -, sondern auch für das „ob“ – die bloße Existenz – zu streiten. Nur so kann deutlich werden, dass der europäische Weg vielleicht nicht der gangbarste, aber der erfolgversprechendste Weg ist!

Ihr Kommentar
  • Am 12. März 2012 um 20:22, von  Eric Bonse Als Antwort Was wäre, wenn sie vielleicht doch Recht hätten?

    Guter Beitrag. Mich beschleicht schon lange der Verdacht, dass die EU an zwei Geburtsfehlern leidet, die in der Schuldenkrise unerträglich wurden: Sie war von jeher ein Elitenprojekt und sie baute auf die Wirtschaft, nicht auf Politik und/oder Kultur. Das musste schief gehen, sobald die Wirtschaft nicht mehr mitspielt und die Eliten auseinanderstreben. Leider ist diese Debatte in Deutschland tabu, wie der jüngste Vorstoß von Außenminister Westerwelle zeigt: Als wenn nichts gewesen wäre, will er eine neue Debatte über die EU-Verfassung anfangen. Der Fiskalpakt soll dabei aber kein Thema sein. Derselbe falsche Ansatz: die Elite verordnet eine Debatte, die Wirtschaft ist tabu... http://lostineurope.posterous.com/westerwelles-neue-mission

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