„…und was gestern noch galt, stimmt schon heut´ nicht mehr.“ Ein kleines Erdbeben auf der tschechischen Seite verursachte der Globale Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration der Vereinten Nation (UN-Migrationspakt). Zum Thema wurde der UN-Migrationspakt im September 2018, als Innenminister Jan Hamáček (ČSSD) kommissarisch auch das Außenministerium leitete. Zu dem Zeitpunkt hatte die Tschechische Republik noch keinen Außenminister hatte, weil es Streit zwischen Präsident Zeman, den Sozialdemokraten (ČSSD) und dem potentiellen Kandidaten, der dann letztendlich nicht in sein Amt vereidigt werden durfte. Auf den Webseiten des Innenministeriums findet sich aus dieser Zeit folgendes:
„[Der UN-Migrationspakt] beinhaltet lediglich die Aufzählung möglicher Maßnahmen, Grundsätze und Praktiken, die nach dem Ermessen der teilnehmenden Staaten angewendet werden können. […] Wer das Gegenteil behauptet, hat das Dokument entweder nicht gelesen oder verzerrt absichtlich die Bedeutung des Pakts, um die Streitigkeiten im Abgeordnetentag anzufeuern oder um Pluspunkte für die eigene Kampagne vor den Kommunalwahlen zu gewinnen. Ich möchte allerdings eine sachliche Diskussion führen und der Öffentlichkeit klare Fakten präsentieren. […] Das Dokument betont ausdrücklich die Hoheitsrechte der Staaten, über ihre eigene Migrationspolitik zu bestimmen und die Migration auf dem eigenen Gebiet zu steuern.“
Je näher die Konferenz in Marrakesch rückte, desto eifriger wurde über das Dokument diskutiert. Zeitungen und Online-Nachrichtendienste veröffentlichten jeden Tag mehr und mehr Beiträge zum umstrittenen Dokument, Politiker*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft stürmten die Gastbeitragskolumnen, um ihre jeweiligen Standpunkte klarzumachen. Gleichzeitig kristallisierten sich zwei Meinungslager heraus, die sich unversöhnlich gegenüberstanden: auf der einen Seite ein weltoffenes, das in dem Pakt einen wichtigen Schritt sah, um der Migrationsproblematik einen Rahmen zu schaffen. Auf der anderen Seite stand ein konservatives, das sich um die Zentralbehauptung „Nein zur illegalen Migration“ versammelte und die Befürchtung äußerte, dass die staatliche Souveränität hinsichtlich der Bestimmung der Migrationspolitik beschnitten würde, obwohl der Innenminister das genaue Gegenteil betonte.
Richtungswechsel innerhalb von drei Monaten
Die tschechische Regierung hat letztendlich am 14. November 2018 bekanntgegeben, dass sie dem UN-Migrationspakt nicht beitreten werde. Die Hauptgründe seien, dass das Dokument nicht explizit festlege, dass die sogenannte illegale Migration unerwünscht sei und dass es diese zu verhindern gelte. Ferner war der tschechischen Regierung ein Dorn im Auge, dass es keine Unterschiede bei der Behandlung sogenannter legaler und illegaler Migrant*innen gibt. Die Regierung berief sich in ihrer Erklärung auch auf die Zweifel seitens anderer Staaten wie Österreich oder Ungarn. Nichtsdestotrotz betonte sie ihre Solidarität mit Geflüchteten, welche sie durch die Unterstützung des UN-Flüchtlingspakts verwirklicht.
In Übereinstimmung mit der Regierungserklärung hat Tschechien an der Konferenz in Marrakesch vom 10. bis 11. Dezember 2018, in deren Rahmen der Pakt verabschiedet wurde, nicht teilgenommen. Am 19. Dezember 2018 stimmte Tschechien dann in der UN-Generalversammlung gegen den Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration, was Ministerpräsident Babiš gleich stolz auf seinem Twitter-Account kommentierte:
„Vor zwanzig Minuten stimmte die Tschechische Republik im Rahmen der UN-Generalversammlung in New York GEGEN den Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration, die sog. „Deklaration von Marrakesch“. So wie wir versprochen haben [Emoji: Tschechische Flagge]. Wir halten unsere Strategie gegen illegale Migration ein. Und wie nehmen keinen einzigen Migranten auf.“
Dieses Vorgehen war allerdings angesichts der Regierungserklärung absehbar, genauso wie die Unterstützung für den UN-Flüchtlingspakt. Nichtsdestotrotz teilte Ministerpräsident Babiš am Montag, den 17. Dezember 2018, im Widerspruch zu der Regierungserklärung und den Statements seines Außenministers mit, dass sich Tschechien seiner Meinung nach auch zu diesem Pakt nicht verpflichten sollte.
Nicht nur dank seinem Anti-Establishment-Imgage, sondern auch dank der Stilisierung in die Position des Souveränitätsverteidigers und dem Widerstand gegen Migration. Genau diese sind nämlich die Saiten, die unter den tschechischen Wähler*innen, und somit auch in dem Parteispektrum, derzeit in verschiedenen Klangfarben resonieren, die sich in Unterstützung bei dem Urnengang verwandeln. zwei klangvollen Saiten gibt, deren Resonanz Unterstützung bringt, dann sind es genau solche.
Warum der Richtungswechsel?
Auch wenn es so aussieht, dass der Beitrag des Innenministers vom September seine Gültigkeit verloren hat wie Bäume ihr Laub, stimmt dies nicht so ganz. Hamáček spricht nämlich das Konfliktpotenzial des UN-Migrationspakts an, das die Parteien, welche durch veröffentlichte Skandale in temporäre Ungnade gefallen sind, sehr gut für eigene (partei-)politische Zwecke nutzen können. So tat auch Ministerpräsident Babiš, der sich wegen der Affäre um seinen verschwundenen Sohn und seine Verwicklung in verdächtige Tätigkeiten in Verbindung mit Unternehmensaktivitäten einem Misstrauensvotum und einem „medialen Anprangern“ stellen musste. Nicht nur dank seinem Anti-Establishment-Image, sondern auch dank dem Widerstand gegen Migration und der Stilisierung in die Position des Souveränitätsverteidigers überstand er diese stürmische Zeit und seine Partei Ano gewann sogar noch mehr Unterstützung. Die oben genannten Merkamle sind nämlich die Saiten, die unter den tschechischen Wähler*innen, und somit auch in dem Parteispektrum, derzeit in verschiedenen Klangfarben resonieren. Dessen sind sich auch andere tschechische Parteien bewusst, denn gegen das Vorgehen der Regierung protestierte nur der ehemalige Außenminister Karel Schwarzenberg von der Partei TOP 09 (Tradice, Odpovědnost, Prosperita 2009 - Tradition, Verantwortung, Prosperität).
Das Erbe der Jahre 2014 und 2015 hat in dem politischen Denken der Gesellschaft eine Phantomangst zurückgelassen, die nur alleine durch das Erwähnen des Wortes „Migration“ wieder hervorgerufen wird. Selbst wenn sich das Adjektiv „illegal“ nicht zum Nomen gesellt, ist „Migration“ automatisch negativ konnotiert.
Diese Dämonisierung der Migration in Verbindung mit einem Abschottungstrend verhindert eine ganzheitliche Betrachtungsweise. In öffentlichen Debatten wird viel mehr über Auswirkungen als über Ursachen gesprochen, der Begriff „Klimaflüchtling“ wird entweder mit dem zu verachtenden „Wirtschaftsflüchtling“ gleichgesetzt oder die Grundlage einer solchen Bezeichnung bestritten.
Salopp gesagt ist der Globale Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration für den tschechischen „Max Mustermann“ zu fortschrittlich und zu weltoffen. Er zwingt die*den Leser*in, global zu denken – etwas, woran die tschechische Gesellschaft weder gewöhnt noch wozu sie bereit ist. Es fehlt sowohl an einer realitätsnahen Vielfaltserlebnispädagogik für Bürger*innen, welche in der homogenen Gesellschaft kaum vorhanden ist, sowie an einer erleuchteten Persönlichkeit, die mit Mut die Wunschkurzsichtigkeit ansprechen und jedem*r Bürger*in eine Brille verschreiben würde. Keine rosarote Brille oder pessimistische, sondern eine Schutzbrille gegen patriotische Parolen, um auch langfristig den erfrischenden Blick zu erhalten, denn die gegenwärtige Position gegenüber der Migration ist alles andere als nachhaltig. Mit der Ignoranz der realen Gegenwart erschwert sich die tschechische Gesellschaft die Bewältigung ihrer zukünftigen Herausforderungen, denn dieser Abschottungskurs wird irgendwann geändert werden müssen, genauso wie die Tonart des Protestliedes der Visegrad-Gruppe. Noch singt die Mehrheit heiter „in Dur“ mit. Wenn man aber mit viel dramatischeren Entwicklungen als in den Jahren 2014 und 2015 konfrontiert wird, kommt rasch „ein melancholisches Moll“, was genauso wie „Hab ich‘s doch gesagt!“ keiner hören wollen wird.
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