Asylpolitik - das neue Schlachtfeld im Kampf um die europäischen Demokratien

, von  Alain de Raymond, übersetzt von Gabriel Pritz

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Asylpolitik - das neue Schlachtfeld im Kampf um die europäischen Demokratien

Wie europäische Politiker*innen die Migrationspolitik nutzen, um Macht zu erlangen und demokratische Systeme zu verändern.

Italien hat geltende Asyl-Regelungen der EU gebrochen, als es einem mit Flüchtlingen überfüllten Boot den Zugang zu seinen Häfen verwehrte. Währenddessen werden diese Regeln neudiskutiert und abgeändert. Die entgegengesetzten Auffassungen des Demokratiebegriffs verschiedener Politiker*innen werden ausschlaggebend sein für diese Änderungen. Allerdings wurde die Migrationspolitik bereits in mehreren Ländern genutzt, um demokratische Systeme zu verändern.

Seit 2014 weigert sich die ungarische Regierung im Namen der Demokratie, Flüchtlinge aufzunehmen. Andere europäische Spitzenpolitiker*innen argumentierten, Ungarn solle dies nun endlich tun - ebenfalls im Namen der Demokratie. Ungarische Regierungsmitglieder wiederum argumentierten, die ungarische Wählerschaft unterstütze die Aufnahme von Flüchtlingen nicht. Darauf entgegnete man andernorts in Europa, dass die Flüchtlingsaufnahme auf EU-Ebene beschlossene Sache sei. Also, was ist passiert?

Die EU-Mitgliedsstaaten stimmten Ende 2015 für die Neuaufteilung von Asylsuchenden. Das war einer dieser seltenen Fälle, in denen sich die Mitglieder nicht einig waren. Die Entscheidung konnte aber mit einer einfachen Mehrheit beschlossen werden, zu der Ungarn nicht gehörte. Einige Jahre früher hatte Ungarn jedoch zugestimmt, dass Entscheidungen in diesem Politikbereich keine Einstimmigkeit erfordern. Wieso also protestierte die ungarische Regierung trotzdem gegen die Entscheidung des EU-Rates?

Liberale und illiberale Demokratie

Was ist Demokratie? Ganze Bibliotheken sind mit Versuchen gefüllt, diesen Begriff zu beschreiben. In diesem Fall besteht der Konflikt zwischen denjenigen, die die sogenannte liberale Demokratie verteidigen und denjenigen, die dieses Konzept ablehnen. Die entscheidende Frage in diesem Konflikt: Wie mächtig dürfen Politiker*innen im Vergleich zu anderen Personen und Organisationen außerhalb des Parlamentes werden?

Politiker*innen, die das Konzept der liberalen Demokratie verteidigen, plädieren dafür, dass diese Personen und Organisationen so stark und gut organisiert wie möglich sein sollten. Beispiele: eine freie Presse, unabhängige Richter und Bildungseinrichtungen, starke Privatunternehmen und Nichtregierungsorganisationen (NROs). Da Politiker*innen immer wieder wechseln, ist es vernünftig, sich die Frage zu stellen, ob diese Organisationen und Personen nicht zu mächtig werden. Denn das Ergebnis könnte politischer Stillstand sein: Nicht genug Macht bliebe für Politiker*innen übrig, um wirklich etwas zu verändern. Die Politik sollte die Regeln machen.

Politiker*innen, die die liberale Demokratie ablehnen, glauben, dass bestimmte nicht-parlamentarische Organisationen und Personen schwach, loyal und schlecht organisiert sein sollten. Richter sollten weniger unabhängig sein. NROs sollten in ihren Möglichkeiten limitiert und durch die Regierung kontrolliert sein. Zu kritische Journalist*innen sollten zum Schweigen gebracht werden. Das Ziel ist ein unmittelbares Verhältnis zwischen Politik und Volk. Allerdings: Daraus kann ein autoritäres Regime werden. Politiker*innen können in eine Position gelangen, in der sie demokratische Regeln ändern und ihre eigenen Amtszeiten immer weiter verlängern können. Deshalb werden sie von einigen als „illiberal“ oder „Autokraten“ bezeichnet.

Migration und liberale Demokratie

Die liberalen europäischen Demokratien haben es nicht geschafft, angemessen auf die Migrationskrise zu reagieren, die 2015 ihren Anfang nahm. So nahmen es jedenfalls viele Wähler*innen wahr. Die ungarischen „Autokrat*innen“ an der Macht haben die Gelegenheit genutzt. Nur sie sollten über die Migrationsfragen entscheiden. Keine Limits wie die Menschenrechte sollten diese Macht einschränken. Humanitäre NROs sollten tun, was die Regierung ihnen sagte. Niemand sollte Migrant*innen ohne Papiere Nahrung geben. Die EU sollte sich natürlich auch nicht einmischen. Erlangen also „Autokrat*innen“ mehr und mehr Macht in der EU? Ein weiteres Beispiel sind die Versuche der polnischen Regierung, die Unabhängigkeit der Richter*innen zu beschneiden. Und in Italien gewannen erst kürzlich Populist*innen die Wahlen. Auch sie wollen die Macht der EU zurückdrängen. Obwohl sie den Flüchtlingsverteilungsplan der EU beibehalten bzw. erweitern möchten.

Und die Verteidiger*innen der liberalen Demokratie? Manche von ihnen nutzen auch ihre Macht. Die EU-Kommission stieß ein Verfahren zur Bestrafung Polens an. Sie schlug darüber hinaus vor, EU-Geld an die Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips zu koppeln. Trotzdem zögern viele liberalen Politiker*innen, Ungarn wegen der Verletzung demokratischer Prinzipien zu rügen. Besonders was Asylfragen angeht, da dies ein sehr sensibles Thema ist. Wenn Ungarn Migrant*innen an den Grenzen stoppt, heißt das weniger Migrant*innen in Europa. Politiker*innen gewinnen normalerweise keine Wahlen durch das Anziehen von Migrant*innen. Aber was ist, wenn „Autokrat*innen“ anfangen, die ganze Gesellschaft zu bestimmen – Über das Thema Migration hinaus?

Der Vertrag über die Europäische Union

Ganz zu Anfang, in Artikel 2 des EU-Vertrags heißt es, dass die EU auf Grundlage der „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“ gegründet ist. Alle Mitgliedsstaaten haben diesen Vertrag unterschrieben, einschließlich Ungarn, Polen und Italien. Demokratie bedeutet auch Uneinigkeit, die erlaubt und respektiert sein sollte. Vielleicht gibt es bald eine menschenwürdige Lösung, besonders für die Menschen, die auf zu tausenden im Mittelmeer ertrinken.

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