Die Europäische Union versteht sich als Garant des Friedens in Europa. Doch trotz aller diplomatischen Bemühungen ihrer Vertreter*innen und Mitgliedsstaaten ist erneut ein grausamer Krieg auf dem Kontinent ausgebrochen. Seit dem 24. Februar verteidigt sich die Ukraine gegen die russischen Invasoren. Die Union unterstützt die militärisch unterlegenen Verteidiger*innen durch große finanzielle Hilfen und beschließt ein Sanktionspaket nach dem anderen. Genug, um die Sicherheit der Ukraine kurz- wie langfristig zu gewährleisten? Nein, sagt der ukrainische Präsident Selenskyj und fordert einen schnellen Beitritt seines Landes zur Europäischen Union (EU).
Auch Spitzenpolitiker*innen aus Deutschland und der EU stehen hinter der Forderung, der Ukraine schnell eine Perspektive in der engen europäischen Gemeinschaft zu verschaffen. „Sie sind einer von uns und wir wollen sie drin haben“, erklärt Kommissionspräsidentin von der Leyen dem TV-Netzwerk Euronews. Allerdings stellt sich die Frage: wie realistisch ist ein beschleunigter EU-Beitritt wirklich?
Ursula von der Leyen spricht sich für EU-Beitritt der Ukraine aus: Wörtlich sagte sie dem Sender Euronews: "Sie sind einer von uns und wir wollen sie drin haben."https://t.co/4ptUnR8Bqk #Ukraine @ZelenskyyUa @vonderleyen #EU @euronews
— Die Nachrichten (@DLFNachrichten) February 28, 2022
Wer kann Mitglied der EU werden?
Wer einmal einen Blick in den Vertrag über die Arbeitsweise der EU wirft, der wird eine feste, aber vage Antwort in Artikel 49 finden. Dort steht geschrieben, „jeder europäische Staat […] kann beantragen Mitglied der Union zu werden“. Hierbei darf man „europäisch“ nicht so sehr geographisch verstehen, schließlich ist etwa Zypern, das in Asien liegt, bereits seit 2004 Mitglied. Vielmehr geht es um die demokratischen Werte der EU, für die ein Anwärterland einstehen muss. Gemessen wird die Beitrittsperspektive dann an strengen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, den sogenannten drei Kopenhagener Kriterien.
- Das Politische Kriterium fordert von den Kandidatenländern institutionelle Stabilität, die Wahrung der Menschenrechte und eine demokratische sowie rechtsstaatliche Ordnung.
- Das Wirtschaftliche Kriterium wiederum setzt eine funktionsfähige Marktwirtschaft voraus, welche stabil genug ist, um dem Wettbewerb innerhalb der EU standzuhalten.
- Um das Acquis-Kriterium zu erfüllen, muss der Anwärterstaat sich dazu verpflichten, das gesamte EU-Recht umzusetzen.
- Darüber hinaus wird oft über die „Aufnahmefähigkeit der EU“ als zusätzliches informelles Kriterium diskutiert. Damit ist gemeint, inwieweit der Beitritt eines neuen Mitgliedsstaates das politische und wirtschaftliche Gleichgewicht in der EU stören könnte. Dieses Kriterium betrifft allerdings bisher vor allem Länder mit sehr großer Bevölkerung.
Ein Beitrittskandidat muss außerdem die Maastrichter Kriterien zu Preisstabilität und Schuldenquoten erfüllen und sich zu einer Aufnahme in Wirtschafts- und Währungsunion verpflichten. So sollen die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der EU angeglichen werden.
Wie läuft das Beitrittsverfahren ab?
Der Beitrittsprozess beginnt mit einem formalen Aufnahmeantrag der jeweiligen Regierung an den Rat der EU, der dann zusammen mit der Kommission über dessen Prüfung entscheidet. Das Europäische Parlament (EP) und die nationalen Parlamente werden zudem über den Antrag informiert.
Sollte eine allgemeine Eignung festgestellt werden, wird dem Land der Kandidatenstatus verliehen. Der Kommissar für Erweiterung, aktuell der Ungare Olivér Várhelyi, beginnt dann die Vorverhandlungen zum Zeitplan einer möglichen Aufnahme in die EU und erklärt dabei die unverhandelbaren Kriterien von Seiten der EU. Während dieses Schrittes legt die Europäische Kommission dem Rat einen jährlichen Fortschrittsbericht vor und gibt eine Stellungnahme ab, aufgrund derer, der Rat dann einstimmig über die Aufnahme von Verhandlungen entscheidet.
Ukraine belongs in the European family.
And today, Ukraine takes another important step towards EU membership.
We will accelerate this process as much as we can, while ensuring that all conditions are respected.#StandWithUkraine pic.twitter.com/q7Yi5gMOBH
— Ursula von der Leyen (@vonderleyen) April 8, 2022
Bevor die offiziellen Beitrittsverhandlungen starten, wird meist ein sogenanntes Stabilitäts- und Assoziierungsabkommen (SAA) mit dem Beitrittsanwärter abgeschlossen. Dies dient dazu, die jeweilige Markwirtschaft schon einmal in den Binnenmarkt zu integrieren und die Bemühungen zur Erfüllung der in den Vorverhandlungen definierten Kriterien finanziell zu unterstützen. Während der offiziellen Beitrittsverhandlungen zwischen Kandidat und Delegationen von Rat und Kommission, werden 35 Kapitel behandelt, die alle Rechtsbereiche der EU abdecken. Sind die Kapitel abgearbeitet, unterzeichnen alle Delegationen den Vertrag und das EP sowie alle mitgliedsstaatlichen Parlamente und die Volksvertretung des Kandidaten ratifizieren das Dokument.
Was sich nach einem machbaren Prozess anhört ist für viele Kandidaten ein langwieriger Vorgang, dessen Verhandlungen sich meist über viele Jahre zieht. So hatte die Türkei bereits 1959 einen Antrag gestellt und kommt seit 1999 nicht über den Status des Beitrittskandidaten hinaus. Gleichzeitig stellt das kleinteilige Verfahren eine Übergangsphase dar, während welcher Union und Kandidat Zeit finden, sich anzunähern und sich aneinander zu gewöhnen. Die Ukraine hat bisher noch nicht den Status als Beitrittskandidat.
Welche Verbindungen bestehen bereits zwischen Ukraine und der EU?
Bereits 2008 wurde ein Assoziierungsabkommen zwischen EU und Ukraine abgeschlossen. Dieses ist allerdings vor allem wirtschaftlicher Natur und kann nicht wie das SAA als Vorstufe zur Mitgliedschaft verstanden werden. Dafür wurde das Land im Rahmen der Östlichen Partnerschaft, einem Instrument der EU-Außenpolitik mit dem Ziel die östlichen Nachbarländer näher an die EU heranzuführen, auch in die vertiefte Freihandelszone mit eingebunden. Die Mitgliedschaft in der Östlichen Partnerschaft bedeutet allerdings ebenfalls keine Beitrittsgarantie, zeigt aber ein ernsthaftes Interesse der Union an seinen Nachbarstaaten.
Erfüllt die Ukraine die formalen Voraussetzungen für einen EU-Beitritt?
Zwar strebt die Ukraine bereits seit mehreren Jahrzehnten eine EU-Mitgliedschaft an und ließ dieses Ziel auch jüngst in der Verfassung verankern, in Wirklichkeit erfüllt das Land allerdings weder die Kopenhagener, noch die Maastrichter Kriterien. Zunächst torpedierten die jahrelangen Grenzstreitigkeiten mit Russland und die Krim die Verhandlungsperspektive und nun tobt ein brutaler Krieg auf ukrainischem Territorium.
Ein schneller EU-Beitritt würde diesen Konflikt nach Brüssel holen und alle Mitgliedsstaaten zur direkten Hilfe verpflichten. Ein Risiko, das die Staaten in West- wie Osteuropa wohl nicht eingehen wollen. Auch wirtschaftlich könnte die Ukraine, trotz Wachstums insbesondere in der Tech-Branche, aktuell wohl nicht auf dem Binnenmarkt bestehen.
Die Größe des Landes würde außerdem die Kräfteverhältnisse in Europa recht grundsätzlich verändern, denn plötzlich würden circa 42 Millionen Einwohner mehr einen Anspruch auf Repräsentation im EP erhalten. Auch die anderen Institutionen müssten ihre Macht weiter teilen. Darüber hinaus müsste die Ukraine vor einem Beitritt das gesamte EU-Recht umsetzen, ein momentan schier unüberwindbares Kriterium. Kiew hat momentan drängendere Prioritäten und die Acquis-Bedingung steht für die Union nicht zur Debatte.
Wie steht es also um die Beitrittsperspektive der Ukraine?
Die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt sind hoch und das Verfahren langwierig- und das nicht ohne Grund. Die Mitgliedstaaten haben die Beitrittsbedingungen hart verhandelt, um die Stabilität der Union auf lange Frist zu gewährleisten und ein harmonisches Miteinander zu ermöglichen. Der Vertreter der EU-Kommission in Deutschland, Jörg Wojahn fasst zusammen: „Nach den Verträgen ist die Ukraine ein europäisches Land und kann damit beitreten. Das bedeutet aber trotzdem, dass alle Beitrittspunkte abgearbeitet werden müssen. Es gibt keinen fast-track zur EU-Mitgliedschaft.“
Auf der anderen Seite hängt der Fortschritt der Beitrittsverhandlungen zu einem großen Teil auch vom Verhältnis der Mitgliedsstaaten und der europäischen Öffentlichkeit zum Kandidaten ab. Die Beitrittskriterien sind nicht veränderbar, aber wenn die Bevölkerung der EU und die nationalen Regierungen einen Beitritt der Ukraine klar befürworten, kann das die Verhandlungen immens verkürzen und die Mehrheitsbeschaffung in den europäischen Institutionen vereinfachen. Man kann wohl von einer starken Annäherung in den letzten Wochen und Monaten sprechen. Eine immense Welle der Solidarität in Europa führte zu direkter militärischer diplomatischer und humanitärer Unterstützung für die Ukraine. Die öffentliche Meinung hat dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt und wird, wenn sie dem neuen östlichen Partner gewogen bleibt, auch einen EU-Beitritt beschleunigen können.
Gleichzeitig werden sich wohl viele ukrainische Flüchtlinge auf Dauer in Europa niederlassen und so mit lauter werdender Stimme ein Teil Europas werden. So würde die EU ganz automatisch an den Gedanken einer Integration der Ukraine in die Union gewöhnt.
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