Bildung, Busse und Internet für alle – Sieht so der Sozialstaat der Zukunft aus?

, von  Fabian Waiblinger

Bildung, Busse und Internet für alle – Sieht so der Sozialstaat der Zukunft aus?
Der Sozialstaat braucht dringend ein Update. Einen Vorschlag liefern einige britische Wissenschaftler*innen mit dem Ansatz der Universal Basic Services: Sie versprechen kostenfreie Busfahrten und vieles mehr. Fotoquelle: Unsplash / Annie Spratt / Unsplash Lizenz

Der Sozialstaat war die erfolgreichste Emanzipationsmaschine in der Geschichte Europas. Sozialer Aufstieg wurde für viele Menschen ermöglicht, Lebenschancen wurden demokratisiert und absolute Armut reduziert. Diese Maschine scheint ins Stocken geraten zu sein: Wachsende Ungleichheit, Jugendarbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsbedingungen sind für viele Menschen in Europa Realität. Ein Update für den Sozialstaat ist bitter nötig – die Idee der Universal Basic Services bietet eine hoffnungsvolle Perspektive. Ein Kommentar.

Ohne Zweifel, eine der größten politischen Erfindungen der letzten 150 Jahre in Europa ist der Sozialstaat. Er hat es geschafft, die produktive Dynamik der Marktwirtschaft für alle nutzbar zu machen und damit wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu vereinen. Die Freiheit von größter Not sowie das Versprechen, mehr zu haben als die eigenen Eltern, wurde für weite Teile der Bevölkerung realisiert. Auch während der Pandemie hat sich gezeigt, dass ein starker Sozialstaat die Gesellschaft widerstandsfähiger macht. Großzügige Regelungen zum Kurzarbeitergeld haben den starken Anstieg von Arbeitslosigkeit in Deutschland gebremst und soziale Härten vermieden. Ohne die Errungenschaft des Sozialstaates als Ganzes in Frage zu stellen, scheint er jedoch durch aktuelle Entwicklungen vor neuen Herausforderungen zu stehen.

Der Sozialstaat unter Druck

Der Sozialstaat versagt immer häufiger und kann sein Freiheits- und Sicherheitsversprechen oft nicht mehr erfüllen. Alleinerziehende Eltern zählen zur gesellschaftlichen Gruppe mit einer der höchsten Armutsgefährdungsquoten. Die ökonomische Ungleichheit ist in den letzten Jahrzehnten in den meisten europäischen Staaten gestiegen. Viele Jobs in der Dienstleistungsbranche, insbesondere in der digitalen Plattformökonomie, sind prekär. Werksverträge, Scheinselbständigkeit und Überwachung sind häufig Teil der neuen Arbeitswelt. Warum scheint der Sozialstaat an diesen Herausforderungen zu scheitern?

Automatisierung, neue Arbeitsformen und die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche verändern die Anforderungen an den Sozialstaat grundsätzlich. Neue Jobs entstehen, Berufswechsel werden häufiger und der Wert von Bildung steigt weiter. Auch gesellschaftliche Erneuerungen verändern die Anforderungen an den Sozialstaat. Neue Formen des Zusammenlebens, eine gesteigerte Erwerbsquote von Frauen und der Wunsch nach einer ausgeglichenen Work-Life-Balance verändern die Anforderungen an die Sozialpolitik.

Darauf findet der heutige Sozialstaat häufig keine Antworten. Das primäre Ziel ist immer noch, das Einkommen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter zu sichern. Diese Funktion ist essentiell, greift aber zu kurz. Das System der Sozialversicherungen wirkt am besten für männliche Arbeitnehmer mit ununterbrochener Erwerbsbiografie. Das lässt sich historisch erklären. Der Sozialstaat ist entstanden, als industrielle Arbeit und traditionelle Familienmodelle die Gesellschaft prägten. Dem Sozialstaat von heute scheinen die Instrumente zu fehlen, auf die großen Trends unserer Zeit zu reagieren. In den letzten Jahren wurden Reformen umgesetzt, die stärker auf soziale Investitionen abzielen, wie die Förderung von Weiterbildung, Kinderbetreuung oder Ganztagesschulen. Diese Ansätze gehen in die richtige Richtung, müssen aber noch erweitert werden.

Universal Basic Services - Ein Versprechen

Die Universal Basic Services, bisher nur unter einigen britischen Wissenschaftler*innen diskutiert, könnten eine solche Ergänzung, ein solches Update für den Sozialstaat darstellen. Das Grundprinzip ist die steuerfinanzierte, öffentliche Bereitstellung von freien Dienstleistungen. Der Staat soll dazu verpflichtet werden, eine kostenlose Grundausstattung an notwendigen Dienstleistungen anzubieten. Konkret kann dies Bereiche umfassen, wie Unterkunft, Verpflegung, Gesundheitsfürsorge, Bildung, öffentlicher Nahverkehr und Internetversorgung. Diese Idee scheint auf den ersten Blick nicht revolutionär, da die öffentliche Bereitstellung dieser Dienstleistungen und Güter in einigen europäischen Ländern schon teilweise Realität ist. Außerdem experimentieren Mitgliedstaaten mit Elementen der Idee, wie dem freien öffentlichen Nahverkehr, z.B. in Luxemburg. Die Universal Basic Services in ihrer Gesamtheit könnten jedoch eine neue zentrale Säule für den Sozialstaat der Zukunft darstellen.

Der freie Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen sichert die Teilhabe an der Gesellschaft für alle, unabhängig vom Geldbeutel. Die Universal Basic Services machen das Leben für wirtschaftlich schwächere Menschen unmittelbar günstiger, ohne auf Transferzahlungen angewiesen zu sein, da benötigte Dienstleistungen kostenlos bereitgestellt werden. Sie bieten ökonomische Sicherheit, ähnlich wie klassische Sozialversicherungen, sind jedoch universell und damit unabhängig von individuellen Biographien und Lebensführungen. Niemand muss sich einen Anspruch erarbeiten, sondern alle genießen den freien Zugang zu den bereitgestellten Dienstleistungen, losgelöst von der individuellen Situation. Gleichzeitig sind sie effizient, da sie Unterstützung anbieten ohne Fehlanreize zu bieten. Nur diejenigen, die die Dienstleistung in Anspruch nehmen, können davon profitieren.

Durch die Digitalisierung scheinen immer mehr Lebensbereiche von einer ökonomischen Logik dominiert zu werden. Internetplattformen machen aus vielen Lebensbereichen Geschäftsmodelle, angefangen von leerstehenden Wohnungen bis hin zu Fahrgemeinschaften. Mit den Universal Basic Services werden Bereiche in der Gesellschaft geschaffen, die nicht von einer ökonomischen Logik dominiert werden, sondern von der Idee des freien und bedingungslosen Zugangs für alle Bürger*innen.

Ist das Bedingungslose Grundeinkommen eine Alternative?

Diskussionen zur Zukunft des Sozialstaates werden in den letzten Jahren von der Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens dominiert. Befürworter*innen argumentieren ebenfalls mit der Universalität, der Bedingungslosigkeit und den entstehenden Freiräumen für alle. Die Vision derer, die auf die freie, öffentliche Bereitstellung von Dienstleistungen setzen, ist jedoch eine grundsätzlich andere.

Das Bedingungslose Grundeinkommen basiert stark auf der Eigenverantwortung des einzelnen Menschen. Mit einem bestimmten Geldbetrag wird der Staat von jeglicher Verantwortung freigekauft. Nach dem Transfer des Grundeinkommens liegt es an dem Individuum, auf dem Markt zu bestehen. Die Universal Basic Services setzen auf einen starken Staat, der Verantwortung für die freie Grundversorgung mit Dienstleistungen und Gütern übernimmt. Hier wirken die Universal Basic Services passgenauer, da nicht mit der Gießkanne Geld für Menschen ausgegeben wird, die eigentlich keine Unterstützung bräuchten. Außerdem scheint die Realisierung deutlich realistischer. Eine Studie schätzt die Kosten für die Einführung der Universal Basic Services im Vereinigten Königreich auf 2,3% des BIPs während das Bedingungslose Grundeinkommen, abhängig von der genauen Umsetzung, ein Vielfaches kosten würde.

Das Soziale Europa für die neue Zeit

Der Sozialstaat ist eine europäische Erfindung, die unseren Kontinent geprägt hat. Die Idee, ökonomischen Erfolg mit sozialem Fortschritt zu verknüpfen, ist Teil der europäischen Identität. Vor uns stehen Zeiten der ökonomischen Veränderung. Der ökologische Umbau unserer Wirtschaft und die Digitalisierung werden zu großen Umbrüchen führen. In diesen Zeiten ist ein Sozialstaat so wichtig wie nie zuvor für den Zusammenhalt der Gesellschaft und die politische Stabilität. Daher gilt es, den Sozialstaat neu zu denken und um neue Instrumente zu erweitern. Die Emanzipationsmaschine des 20. Jahrhunderts muss sich verändern, um auch in der Welt von morgen Chancen zu stiften und Sicherheit zu bieten. Die Universal Basic Services können einen Teil der Lösung darstellen.

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