Chinas Impfstoffpolitik und ihre geopolitische Bedeutung

, von  Maria Mitrov

Chinas Impfstoffpolitik und ihre geopolitische Bedeutung
China hat sich vom Corona-Ursprungsland in rasanter Geschwindigkeit zum Impfstoffprovider heraufgeschwenkt, der bereits im Ausland testet und dealt, weil die Infektionszahlen Zuhause so niedrig sind. Foto: Unsplash / Markus Spiske /Unsplash Lizenz

Vom Land, das als Ursprung des Coronavirus gilt, zum globalen Wohltäter – die Impfstoffpolitik Chinas hat nicht nur weitreichende Folgen für Nachbarsstaaten, sondern stellt auch eine Heraus-forderung für den Westen dar. Eine Analyse.

Das Virus ist in Europa angekommen. Es ist der 16. März 2020, als in Frankreich eine landesweite Ausgangssperre angeordnet wird. In Deutschland handelt es sich nur um eine Woche, bis der erste Lockdown verhängt wird. In den nächsten Tagen wird Italien mehr Opfer zu beklagen haben als China, bald werden auch die tragischen Bilder um die Welt gehen von Bergamo, wo Militärlastwagen unzählige Särge zu Krematorien transportieren.

An diesem 16. März 2020 startet das chinesische Pharmaunternehmen CanSino den weltweit ersten Corona-Impfversuch überhaupt – ausgerechnet in Wuhan, wo die Pandemie ihren Ursprung hat. Innerhalb eines Monats hat das Unternehmen einen vorläufigen Impfstoffkandidaten gefunden, zwei weitere Impfstoffhersteller sollen bald ins Rennen einsteigen. Bereits im September, als sich die zweite Welle in Europa ankündigt, sind Hunderttausende Diplomat*innen, Militärs und Angestellte des Gesundheits- und Pflegesektors mit dem Impfstoff des Pharmaproduzenten Sinopharm geimpft.

Es ist Chinas Glück im Unglück, das Virus im eigenen Land mithilfe rigider Maßnahmen bislang weitgehend eingedämmt haben zu können: Impfstoffe werden momentan für die eigene Bevölkerung nicht dringend benötigt. Während Europa schon seit Beginn der Pandemie von inneren Zerwürfnissen und lähmender Bürokratisierung geschwächt ist, sprechen Chinas führende Impfstoffhersteller von bis zu 1,5 Milliarden Dosen , die 2021 produziert werden können. Während westliche Staaten im Alleingang impfen und Impfstoffe reservieren, hat China bereits Deals ausgehandelt mit 14 Ländern, in denen chinesische Impfstoffe getestet und angewandt werden sollen. Länder, wie Brasilien, Malaysia und die Türkei, die vom Westen während der Krise scheinbar im Stich gelassen worden sind.

Impfstoffe als „globales öffentliches Gut“: Chinas Impfstrategie

Bereits im Mai verkündigte Chinas Staatspräsident Xi Jinping gegenüber der WHO, sein Land werde die nationalen COVID-19-Impfstoffe als „globales öffentliches Gut“ bereitstellen. Die Erfolge der chinesischen Hersteller*innen kamen gerade recht – aus zwei Gründen. Erstens bemühte sich China, von seinem Image als Ursprungsland der Pandemie wegzukommen und sich stattdessen als weltweiter Wohltäter zu inszenieren. Zweitens waren vielversprechende Impfstoffe aus dem eigenen Land nötig, um nach der teilweise missglückten Exportstrategie im Frühjahr wieder vorn bei der Bekämpfung des Virus mitzuspielen: die medienwirksame Unterstützung Chinas im Ausland – allen voran in europäischen Ländern wie Italien – bestand zuvor nicht selten aus kaputten Masken und anderer defekter Schutzausrüstung.

Sichtbar daran interessiert, international wieder Präsenz zu zeigen, beschloss China dann im Oktober, der WHO-Initiative COVAX beizutreten. Diese soll gewährleisten, dass auch benachteiligte Länder im angeheizten globalen Wettbewerb um zuverlässige Impfstoffe nicht leer ausgehen. Vorhandene Impfstoffe sollen an alle beteiligten Länder je nach ihrer Bevölkerungsgröße verteilt werden, in der zweiten Phase zusätzlich an jene Staaten, die besonders dringend Hilfe benötigen. 189 Länder sind an der Initiative beteiligt, Russland und die USA nicht. Chinas Unterstützung für die Initiative kommt gelegen für jene Länder, die alle die berechtigte Sorge teilen, der Westen könne sie bei der Verteilung von Impfstoffen übersehen. Eine Befürchtung, die sich bisher zu bestätigen scheint.

Allerdings hat COVAX bislang nicht einmal ein Zehntel der erforderlichen 35 Milliarden US-Dollar aufbringen können, damit der Plan einer erfolgreichen Ausweitung der weltweiten Impfstoff-verteilung aufgehen kann. Deswegen konzentriert sich China stattdessen auf bilaterale Deals, bei denen lateinamerikanischen, afrikanischen und südostasiatischen Ländern Kredite bereitgestellt werden für den Erwerb von Impfstoffen. Die meisten von ihnen können auf Unterstützung hoffen, weil sie sich für die Durchführung von Impfstoffversuchen angeboten haben.

Zwar sind die Bedingungen dieser Deals intransparent und dürften die beteiligten Staaten in ein Abhängigkeitsverhältnis mit China bringen, welches deutlich über gesundheitspolitische Fragen hinausgeht. Doch sehen sich viele von diesen Ländern in einer Zwickmühle gefangen: Impfstoff aus Europa oder den USA können sie nicht garantiert erhalten. Bleibt nur noch die chinesische Alternative – oder der russische Impfstoff „Sputnik V“, der bereits von Indien, Mexiko und Kasachstan gekauft worden ist. Für den Nahen Osten ist China momentan der einzige Impfstoffgarant überhaupt. Nicht selten führt das zu paradoxen Konstellationen: Den meisten muslimisch-geprägten Staaten der Region dürften Chinas Menschenrechtsverstöße gegen die muslimische Minderheit der Uigur*innen ein Dorn im Auge sein. Doch die Aussicht auf Corona-Impfungen stellt politische Haltungen in den Hintergrund. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) waren im Dezember 2020 das erste Land, das den chinesischen Impfstoff von Sinopharm genehmigte – schon kurz darauf wurde mit ihm geimpft. Chinas Impfstoff garantiert auch in Zukunft enge wirtschaftliche Verbindungen: Länder wie die VAE, Saudi-Arabien und Kuwait sind auf den Exporthandel mit China angewiesen. Auf beiden Seiten steht dafür der politische Preis des gegenseitigen Nicht-Einmischens in innere Angelegenheiten.

Einflussnahme auf Umwegen: Comeback der „Health Silk Road“

Das schwierige Abwiegen von politischen Interessen und der Wahrung von Unabhängigkeit auf der einen Seite und zuverlässigem Impfstoff auf der anderen betrifft jedoch nicht nur den Nahen Osten. Aktuell erleben die meisten Länder, die sich auf Chinas Hilfe einlassen, wie die Einflussnahme der Großmacht in allen Bereichen zunimmt. Das Projekt einer „Seidenstraße der Gesundheit“ soll vordergründig die Genesung der gesamten Welt und ein Ende der Pandemie beschleunigen. Allerdings ist die „Health Silk Road“ (HSR) als integraler Bestandteil eng gekoppelt an Chinas „One Belt, One Road Initiative“ – quasi der ursprünglichen Seidenstraße: Das Langzeitprojekt eines interkontinentalen Handels- und Infrastrukturnetzes zwischen China und über 60 weiteren Staaten dient als Grundlage für die chinesische Pandemiepolitik im Ausland. Seidenstraßenkorridore, Häfen und Logistikhubs konnten für die Lieferung medizinischer Hilfsgüter genutzt werden. Über diese bereits bestehenden Transitwege wurden im Frühjahr über 120 Länder mit relevantem Material versorgt.

Die Pandemie war gewissermaßen das unverhoffte Comeback einer Idee, die zwar auf dem Blatt existierte, aber praktisch noch nicht Fuß gefasst hatte. 2017, nach einem „Belt and Road Forum“ zum Thema Gesundheitszusammenarbeit, unterzeichnete China gemeinsam mit 30 weiteren Staaten ein „Health Silk Road“-Kommuniqué. Als gemeinsame Initiative mit der WHO umfasst die HSR dennoch kein multilaterales Forum per se. Chinas Interessen stehen im Zentrum, drumherum gruppieren sich bilaterale Verbindungen, die diesen Interessen dienen. Während wirtschaftliche Argumente zahlreiche Staaten dazu bewegten, sich an Chinas „One Belt, One Road Initiative“ zu beteiligen, schien die Gesundheitspolitik ein sensibler und von souveränen Staaten selbst zu verwaltender Bereich – enge Verbindungen zu China wollte man vermeiden.

Jetzt hat Corona die engmaschigen Verstrickungen zwischen Wirtschafts- und Gesundheitspolitik offengelegt – und darüber hinaus deutlich gemacht, dass eine Pandemie im nationalen Alleingang nicht zu bekämpfen ist. Die Lieferungen von medizinischen Hilfsgütern ins Ausland haben China einen Grund gegeben, die HSR erneut ganz oben auf die Liste von politischen Strategien zu setzen. Auf der anderen Seite fällt es den Ländern, die die Hilfe von China angenommen haben, immer schwerer, die Bereiche Politik, Wirtschaft und Gesundheit voneinander zu trennen. Chinas Unterstützung während der Pandemie ist indirekt gekoppelt an die Bereitschaft der Länder, Teil zu werden von Projekten wie der HSR.

Gleichzeitig bedeutet die Pandemie eine Chance für China, sich über den Umweg der HSR größere wirtschaftliche Dominanz in der Region und darüber hinaus aufzubauen. Erst kürzlich unterzeichnete China mit 14 anderen Staaten der asien-pazifischen Region RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership), das weltweit größte Freihandelsabkommen. Die aktuelle Notwendigkeit medizinischer Güter könnte in diesem Zusammenhang Expansionen und Verlagerungen chinesischer Unternehmen rechtfertigen: viele Länder Südostasiens verfügen jetzt schon über ideale Ressourcen für die Fertigung von Medizingütern. Verlagerungen wären kostengünstig und zugleich rentabel. Auch die direkte Beteiligung chinesischer Unternehmen an der staatlichen Pandemiestrategie im Ausland lassen keinen Zweifel übrig, dass China die Krise zu nutzen weiß, um wirtschaftlich und politisch mit den Muskeln zu spielen. Die private Stiftung des Alibaba-Gründers Jack Ma spendete medizinische Ausrüstung an die USA und Länder Europas, Afrikas und Südasiens. Der Tech-Gigant Huawei verschickte tausende Atemschutzmasken nach USA und Europa und startete in Italien mehrere 5G-Prüfstände, um die Netzwerke des Landes auszubauen – nachdem China das schwer getroffene Italien im Frühjahr unterstützte.

Die geopolitische Bedeutung

Chinas Impfstrategie gestaltet bereits jetzt internationale Beziehungen und dürfte die globale Präsenz der Großmacht nur noch erweitern. Schon vor der Pandemie produzierte China für den gesamten Weltmarkt fast 50 Prozent der Schutzausrüstungsprodukte. Corona wird diese Entwicklung nur noch weiter ankurbeln. Bei dem globalen Impfstoff-Aufrüsten ist China ebenfalls schon seit Monaten in der vordersten Linie dabei. Ähnlich wie auch in der Industriebranche folgt das Land dabei eigenen Richtlinien, die nicht unbedingt den westlichen Standards entsprechen: Genauso wie Russland produzierte und exportierte China Impfstoffe bereits, als die finalen Testergebnisse der besonders kritischen Phase 3 noch gar nicht vorlagen.

Als aktiver Player bei dem weltweiten Impfstoff-Wettrennen stellt China internationale Machtverhältnisse in Frage: Warum hinkt der Westen immer noch bei der Bekämpfung des Virus hinterher? Wieso fehlte es monatelang auch in Europa an konkreten Impfstrategien? Diese unterschwellige Botschaft kommt an. Die Länder, die mit China Impfstoff-Deals eingegangen sind, sehen in dem Westen keinen Retter in der Not. Sondern viele mächtige Staaten, die untereinander einen schon lange nicht mehr verdeckt ausgetragenem Kampf führen, um sich selbst mit Impfstoffen abzusichern. Insbesondere Ländern Südostasiens könnte es immer schwieriger fallen, sich komplett von China abzukoppeln.

Wirtschaftliche Verbindungen in der Region sind ohnehin viel stärker als die mit Europa und den USA. Die Pandemie scheint nun eine weitere Brücke geschlagen zu haben zwischen China und den Nachbarstaaten: Nicht nur ist China der zuverlässigste Impfstoffgarant. Es ist auch scheinbar die asiatische Corona-Strategie, die aufgegangen ist. Denn während in Europa und den USA die Infektionszahlen unaufhaltsam in die Höhe schnellen, hat sich Südostasien schon vor Monaten weitgehend erholt. Da die meisten Impfstoffe eine vollständige Immunität gegen Corona erst bei mehrfachem Nachimpfen garantieren, werden mit großer Wahrscheinlichkeit längerfristige Abhängigkeiten zwischen China und den Partnerländern entstehen. Während China seinen Einfluss in der Region und darüber hinaus erweitert, zieht sich der Westen immer stärker zurück.

Das asiatische Zeitalter und Europa

Auch in Europa hat China die Pandemie als Chance nutzen können. Als Italien im Frühjahr händeringend und dennoch erfolgslos EU-Nachbarn um schnelle Hilfe bat, begann China seine Charmeoffensive und belieferte das Land mit dem nötigen Material. Italien war das erste G7-Land, das mit China eine Absichtserklärung zur Zusammenarbeit im Rahmen der neuen Seidenstraße abschloss. Die chinesische Corona-Hilfe könnte Italien dazu bewegen, auch in Zukunft bei anderen wirtschaftspolitischen Projekten Chinas um Unterstützung nicht abgeneigt zu sein.

Tatsächlich stellt die chinesische Pandemiestrategie auch das System der EU in Frage. Der Maskenkampf und die raschen Grenzschließungen im Frühjahr ließen an der Glaubwürdigkeit der europäischen Idee zweifeln. Bürokratisierung und Vielstimmigkeit erschweren die Impfpolitik eines Systems, das anders als das chinesische nicht aus einer Einheitspartei und Autoritarismus besteht. Verstärkt wurde dieses Bild eines schwachen, in Zerwürfnissen verfangenen Europas durch chinesische und russische Medien, die dem Westen allgemeines Versagen bei der Bewältigung der Pandemie unterstellten – teilweise berechtigte Kritik, die jedoch übertönt wurde von Desinformation und ideologischer Polarisierung. Doch auch ganz ohne Fake News: Die Schwächen der EU wurden durch die Pandemie so deutlich offengelegt wie selten zuvor. Der europäischen Coronastrategie fehlt es auch weiterhin an Konsens, die Impfstoffdebatte dreht sich dieser Tage viel zu wenig um Solidarität.

Dennoch darf Chinas Charmeoffensive nicht Schatten werfen über die Erfolge und Vorteile des EU-Systems. Italien erhielt von der EU in der Summe mehr Hilfsgüter als von China. Mehr als 1 Million Masken und 7,5 Tonnen medizinische Geräte, einschließlich Beatmungsgeräte, wurden bislang aus Deutschland eingeflogen. Österreich spendete 1,5 Millionen Masken, Frankreich 1 Million. Mehrere Corona-Patienten aus Italien wurden in Deutschland und Österreich behandelt. Die Solidarität aus Europa brauchte Zeit, um anzukommen. Doch sie ist geblieben, während China sich bereits vor Monaten zurückgezogen hat. Auch wenn die chinesische Strategie Spuren hinterlassen wird . Denn wenn auch die Impfstrategie der EU deutlich auf Gemeinschaft baut: Die ersten Monate der Pandemie haben gezeigt, wie verletzlich und zerstritten die EU sein kann – und wie sich eine Macht von außen diese Schwäche zunutze machen kann.

China: immer zwei Schritte voraus?

Das 21. Jahrhundert wird nicht grundlos das asiatische Zeitalter genannt. Einmal mehr hat China bewiesen, dass es nicht unterschätzt werden darf. Vom Corona-Ursprungsland hat es sich in rasanter Geschwindigkeit zum Impfstoffprovider heraufgeschwenkt, der bereits im Ausland testet und dealt, weil die Infektionszahlen Zuhause so niedrig sind. Das westliche Selbstbild hat den Spiegel vorgehalten bekommen – längst gelten nicht mehr die Machtverhältnisse von früher, als der Westen jede politische und wirtschaftliche Krise zu meistern wusste. Wenn der Westen nicht von China und anderen asiatischen Mächten abgehängt werden will, muss er die eigenen Strategien weit über Corona hinaus überdenken – und dabei gleichzeitig nicht in Versuchung geraten dürfen, essentielle Prinzipien und Normen über Bord zu werfen.

Das asiatische Zeitalter muss nicht unbedingt eine Gefahr bedeuten für den Westen allgemein und für Europa im Speziellen. Aber es ist eine Herausforderung, die ein vereintes, selbstbewusstes und präsentes Europa annehmen werden muss. Denn während die meisten EU-Länder noch mittendrin in der Bewältigung der Pandemie stecken, scheint China schon mindestens zwei Schritte voraus zu denken.

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