Das Europäische Parlament ohne Initiativrecht: Mittelalterliche Zustände?

, von  Paul Brachet, Übersetzt von Anna Strohmeier

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Das Europäische Parlament ohne Initiativrecht: Mittelalterliche Zustände?
Paulo Rangel, Abgeodneter der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament aus Portugal am 9. Juni 2022 bei der Vorstellung der Idee eines Initiativrechts für das Parlament. Quelle: Europäisches Parlament / Mathieu Cugnot / Copyright European Union 2022

In der ersten Juniwoche trafen sich die EU-Parlamentarier*innen zu einer Plenarsitzung im Europäischen Parlament in Straßburg. Eine ideale Gelegenheit, um über Texte, die zumeist aus den Büros der Kommission stammen, zu debattieren und abzustimmen. Doch könnte dieser traditionelle Ansatz bald einem echten, direkten Initiativrecht für das Europäische Parlament weichen? Sicherlich würde das die institutionelle Logik Europas auf den Kopf stellen - doch das ist der Wunsch der Europaabgeordneten.

Was ist das Initiativrecht?

Am Donnerstag, den 9. Juni, stimmten die Abgeordneten des Europäischen Parlaments mit großer Mehrheit für den Vorschlag, ihrer Institution ein direktes Gesetzesinitiativrecht zuzugestehen. Der Initiativbericht fordert damit die anderen politischen Institutionen der Europäischen Union auf, dem Europäischen Parlament ein Initiativrecht einzuräumen. Doch was genau ist ein “Gesetzesinitiativrecht”?

Das Recht auf Gesetzesinitiative ist das Verfahren, durch welches eine politische Institution dazu berechtigt wird, Gesetzestexte beziehungsweise Gesetze vorzuschlagen. Das Gesetzesinitiativrecht war lange Zeit ein Gegenstand politischer Auseinandersetzungen zwischen Regierungen und Parlamenten, zwischen der Exekutive und Legislative, und bleibt es auch weiterhin. Heutzutage verfügen in Europa alle nationalen Parlamente über das Recht auf Gesetzesinitiative, welches sie sich in der Regel mit ihren jeweiligen Regierungen teilen. Manche Kompetenzen sind der Exekutive vorbehalten, während die restlichen Zuständigkeiten dem Parlament obliegen (wie in Deutschland, Italien oder Spanien) oder umgekehrt (wie in Frankreich).

In dieser Hinsicht stellt das Europäische Parlament eine Ausnahme dar. Die Gründungsverträge der Europäischen Union sehen vor, dass die Kommission das alleinige Recht hat, Gesetze zu verfassen, wobei sie sich an die vom Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs festgelegten Leitlinien zu halten hat. Das Europäische Parlament hat nur wenige “Rest”-Kompetenzen, wie der Berichterstatter des Textes und Europaabgeordnete Paulo Rangel darlegt. Diese Kompetenzen umfassen neben der Ausgestaltung der Wahlordnung für die Europawahlen auch ein indirektes Initiativrecht. Letzteres impliziert, dass das Parlament die Kommission dazu auffordern kann, in einem bestimmten Bereich gesetzgeberisch tätig zu werden, ohne sie jedoch dazu zu verpflichten, diesem Aufruf tatsächlich Folge zu leisten.

Ein tatsächlich souveränes Parlament

Für Paulo Rangel ist die Situation, in der sich das Europäische Parlament wiederfindet, “wie die eines Parlaments im Mittelalter.” “Die Volksvertretungen des Mittelalters verfügten stets über verschiedene subsidiäre Kompetenzen, jedoch standen den damaligen Parlamenten im Gesetzgebungsprozess lediglich das Petitionsrecht zu.” Paulo Rangel hält es in diesem Sinne nicht für übertrieben, das mittelalterliche Petitionsrecht mit dem indirekten Initiativrecht zu vergleichen, über welches das Europäische Parlament heutzutage verfügt. Nach Ansicht des portugiesischen Europaabgeordneten sollte die Institution, die “heute die einzige mit direkter demokratischer Legitimität ist”, die Möglichkeit haben, aus eigener Initiative Gesetzestexte vorzuschlagen. Das Europäische Parlament muss nicht zuletzt vor dem Hintergrund aktuell zahlreicher Krisen “ein echtes” und “souveränes” Parlament sein.

Der Europaabgeordnete ist der Meinung, dass das Europäische Parlament nicht unbedingt das „Gesetzgebungsmonopol“ innehaben muss. Er schlägt den Aufbau eines neuen politischen Systems in Europa vor, in dem manche Kompetenzen allein bei der Kommission liegen, während andere mit dem Europäischen Parlament geteilt werden. “Wir können sogar vorschlagen, dass manche Gesetzgebungskompetenzen das Monopol des anderen Mitentscheiders - des Rates - werden sollen. [...] Wir können uns den verschiedenen Vorschlägen nicht verschließen”, sagt Rangel.

Was sind die nächsten Schritte?

Der Text von Paulo Rangel wurde mit 420 “Ja”-Stimmen und 117 “Nein”-Stimmen angenommen. Diese Entscheidung ist das Resultat von fast zwei Jahren Arbeit, nachdem das dem Text gewidmete Verfahren bereits im September 2020 begann.

Die langwierige Arbeit ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Damit aus dem Text, einem bislang rein fordernden Initiativbericht, eine echte Reform wird, müssen sich die Kommission und die anderen europäischen Institutionen, allen voran der Europäische Rat, darauf einigen, die Büchse der Pandora erneut zu öffnen: Um nämlich zu gewährleisten, dass das Europäische Parlament eines Tages über ein echtes direktes Gesetzesinitiativrecht verfügt und somit zu einem “echten Parlament” wird, müssen die Institutionen eine Änderung der Verträge ermöglichen. Diese Reform ist eine seit langem vorgeschlagene Idee, die in den letzten Monaten im Rahmen der Konferenz über die Zukunft Europas (CoFoE) ein konkretes Echo gefunden hat. Die Bürger*innenkonferenz hat im vergangenen Monat eine Reihe von Maßnahmen zur Demokratisierung und Modernisierung der Institutionen und der Politik der Europäischen Union vorgelegt. Zu diesen Maßnahmen zählt unter anderem auch ein direktes Gesetzesinitiativrecht für das Europäische Parlament.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es jetzt, nachdem sich das Europäische Parlament dafür ausgesprochen hat sich selbst mehr Macht zuschreiben zu wollen, wie so oft an den Mitgliedsstaaten liegt eine Entscheidung zu fällen: ein Fall, der weiterverfolgt werden sollte.

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