Das italienische Schulsystem befindet sich seit Jahrzehnten in einem negativen, statischen Zustand, der weder den Schülern*innen noch den Lehrern*innen gut tut. Die Rückständigkeit der italienischen Schulen ist leicht erkennbar, vor allem an den Rahmenbedingungen, die sie umgeben. Wenn Eltern während der Gespräche mit Lehrern*innen und Dozent*innen in Erinnerungen schwelgen, weil die Strukturen nahezu gleich geblieben sind, dann gibt es definitiv Handlungsbedarf. Die Gesellschaft hat sich insbesondere in der letzten Zeit in einer noch schnelleren Art und Weise verändert und die Schule, so scheint es, schafft es nicht, damit Schritt zu halten. Nicht nur Schulgebäude werden nicht saniert, sondern das gesamte Schulsystem müsste von Grund auf neu gedacht werden! Sinnvoll wären beispielsweise offenere Raumangebote, die die sozialen Interaktionen zwischen Kindern fördern, weil gerade diese während der Coronakrise auf der Strecke geblieben sind. Denkbar wären auch interaktivere und aktivere Lernorte, die die Aufmerksamkeit erhalten und ein Lernen ohne Langeweile und Stress ermöglichen.
“In Italien werden 28 % der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren als „funktionale Analphabet*innen“ bezeichnet. Damit steht Italien, gefolgt von der Türkei, im Europavergleich auf dem vorletzten Platz.”
Insgesamt betrachtet braucht es eine Neu(er)findung des Schulsystems, das bei den Schulgebäuden beginnt und bei den Dozent*innen und Lehrer*innen endet. Auch müsste es an die Bedürfnisse und Anforderungen der Schüler*innen angepasst sein, damit die Schule ein offener Ort für jedermann ist. Man kann schließlich keinem Kind etwas vorwerfen, wenn es Schwierigkeiten damit hat, ein Fach und den dazugehörigen Stoff stur auswendig zu lernen.
Denn, wenn das Schulambiente freundlich und stimulierend ist, werden die Schüler*innen angeregt, sich aktiver am Unterricht zu beteiligen. Darüber hinaus haben sie einen klaren Kopf für neue Informationen und neues Wissen, das im besten Falle nicht so alt wie die Räume ist, in denen es vermittelt wird.
Sofern man später kompetente und junge Menschen hervorbringen möchte, die verstehen, was in einem Arbeitsvertrag, einem Roman oder in der Zeitung steht, dann muss man ihnen nicht nur das Lesen, sondern auch das selbstständige Denken beibringen.
Die Verbreitung von schulischer Bildung
In Italien ist die Quote der Schulabbrecher*innen im Vergleich zu Mitteleuropa hoch und auf der gesamten Halbinsel sehr unterschiedlich. In den letzten Jahren sind die psychischen Beschwerden von Jugendlichen außerdem angestiegen: dazu gehören Angst, Stress, Depressionen, Selbstverletzungen und Zukunftsängste. Mit diesen leben sie meist in einer sozialen Umgebung, die sie nicht versteht und aufgrund der Beschwerden als „Faulpelze“ abstempelt.
Die italienische Behörde für Kindheit und Jugend hat kürzlich eine Studie mit Empfehlungen veröffentlicht, sie heißt: „Schulabbrecher in Italien: eine multifaktorielle Analyse“. In der Studie werden die häufigsten Gründe für einen Schulabbruch geschildert. Diese reichen von Umständen sozialer Exklusion und Armut bis zu persönlichen oder familiären Gründen und Angststörungen, die Schüler*innen zum Verlassen des regulären Schulzyklus bewegt. Nur in manchen Fällen nehmen sie diesen wieder auf, indem sie später die CPIA (in Deutschland Volkshochschule) besuchen.
Schwerwiegend ist, dass ein Schulabbruch Schüler*innen in den meisten Fällen von einem sicheren Ort entfernt, was berufliche und persönliche Möglichkeiten deutlich einschränkt. Das führt dann im Umkehrschluss zu erhöhten Risiken von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Exklusion. Ferner beeinflusst dies die Folgegeneration, die sich dann in einer Spirale von ungenügender Bildung wiederfindet und ein Prekariat (risikoreiche Gesellschaftsgruppe) entstehen lässt.
Das Phänomen Schulabbruch ist häufig komplex und muss differenziert betrachtet werden. Es ist das Resultat einer Serie von unterschiedlichen Faktoren, die durch soziale, familiäre und private Rahmenbedingungen bedingt werden und die Entscheidung zum Schulabbruch beeinflussen. Um diese Mechanismen zu verstehen, muss man bereits die ersten Lebensjahre der Kinder beleuchten und das Umfeld, in dem sie leben, die Personen, mit denen sie interagieren, ihr Bildungsniveau und das Vertrauen in das Schulsystem untersuchen.
Laut Datenlage vom ISTAT (Italienisches Institut für Statistik) liegt die Quote der sich nicht mehr im Schulsystem befindlichen Kinder und Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren bei 13,1 % von 543 000 jungen Menschen. Im Vergleich zum Vorjahr gibt es einen leichten Rückgang. Diese Quote ist dennoch aktuell eine der Höchsten in ganz Europa. Es gibt hierbei einen höheren, männlichen Anteil von Schulabbrecher*innen, der mit 15,6 % höher als der Weibliche mit 10,4 % ist. Sie befinden sich vorwiegend im „Mezzogiorno“, wie das Gebiet Süditaliens bezeichnet wird.
Moderner Analphabetismus
Erste Kritik an Lehrmethoden kam bereits auf, als die ersten öffentlichen Schulen in Italien eingeführt wurden. Lange Zeit vor der Moderne entstanden dadurch Debatten über Analphabetismus als das „Fiorentino“(damaliger Dialekt des Italienischen, aus dem die heutige Hochsprache entstand) als Vorbild für die Vereinheitlichung der italienischen Sprache diente. Damals gab es eine übermäßige Anzahl an Menschen in Italien, die weder lesen noch schreiben konnten. Heute werden jedoch weitere Formen des Analphabetismus differenziert.
Eine weitere Form ist der sogenannte „funktionale Analphabetismus“, der in einem Bericht der PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies- das Gegenstück zur PISA-Studie) und der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) so definiert wird: „Es beschreibt den Zustand, wenn eine Person nicht in der Lage ist, Texte zu verstehen, bewerten, benutzten und verfassen, um sich aktiv in der Gesellschaft zu beteiligen. Dadurch können eigene Ziele nicht geäußert sowie Wissen und Potenziale nicht entwickelt werden.“ In einer Analyse dieser Institute wurden Erwachsene beobachtet, wie sie diese Kompetenzen während der Arbeit, zu Hause und im sozialen Leben benutzten. Es wurde deutlich, dass die Italiener*innen weit unter dem Durchschnitt der Studie lagen.
In den Alphabetisierungskompetenzen wurde eine durchschnittliche Punktzahl von 250 Punkten erreicht. Der Durchschnittswert der weiteren 38 teilnehmenden Länder lag hingegen bei 273 Punkten. Hinsichtlich mathematischer Kompetenzen lagen die Italiener*innen mit 22 Punkten unter dem Mittelwert. Betrachtet man die geografische Komponente, gab es große Unterschiede zwischen Nord- und Süditalien. Die Menschen im nördlichen Teil konnten in der Analyse mit dem Durchschnittswert mithalten. Die beobachteten Menschen im südlichen Teil jedoch erreichten eine niedrigere Punktzahl. In Italien werden 28 % der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren als „funktionale Analphabet*innen“ bezeichnet. Damit steht Italien, gefolgt von der Türkei, im Europavergleich auf dem vorletzten Platz.
In der Wissenschaft gibt es jedoch noch weitere Formen von Analphabetismus, wie der in Deutschland bezeichnete „sekundäre Analphabetismus“. Dieser beschreibt beispielsweise, dass man im Leben bereits erworbene Lese- und Schreibkompetenzen wieder vergessen hat bzw. nicht mehr in der Lage ist, schriftliche Mitteilungen zu verstehen und zu verfassen. Nicht nur diese Studie zeigte, dass bereits die Situation vor 2019 und die Coronakrise sowie der damit einhergehende Distanzunterricht die italienische Gesellschaft zu bedrohen scheinen. Funktionaler Analphabetismus ist nicht nur ein italienisches Problem. Das Schulsystem in Italien ist nicht der einzige Grund für die hohe Quote von „funktionalen Analphabet*innen“. Auch moderne Technologien, neue, schnellere und populäre Kommunikationsformen, Messengerdienste, Emojis und Fernsehen tragen dazu bei.
Die Rahmenbedingungen, in denen Lese- und Schreibkompetenzen eingebettet sind, verändern sich ortsübergreifend. Dadurch tritt dieses Phänomen, wenn auch in niedrigerer Ausprägung, auch in Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Spanien auf. Es ist daher fraglich, ob diese Zeit wirklich als modern und fortgeschritten bezeichnet werden kann. Kann von Fortschritt die Rede sein, wenn eine Vielzahl von Menschen mit circa 80 % nicht mehr ins Kino oder Theater geht bzw. die Zeitung liest oder ein Buch öffnet? Ist eine Gesellschaft fortschrittlich, wenn sie nicht mehr auf profundem und abgesichertem Wissen basiert oder beispielsweise Wahlbeteiligungen stark zurückgehen?
Es ist ein Widerspruch, dass die Menschen heutzutage in der zweiten industriellen Revolution weniger an Bildung interessiert und hungrig nach Wissen sind als ihre Vorfahren. Das alles, obwohl Italien ein freiheitliches und bürgerliches Land ist, in dem man jede Art von Wissen und Information innerhalb weniger Minuten lernen könnte, in dem beinahe jeder Mensch mit einem internetfähigen Smartphone ausgestattet ist und in dem Wissen und Bücher in Breite zur Verfügung gestellt werden. Es ist ein Fakt, dass sich Gesellschaften und die sich darin befindlichen Personen mit ihnen verändern. Es gibt jedoch einen Aspekt, der sich wahrscheinlich niemals ändern wird: der Wunsch nach Unabhängigkeit und dem Verständnis aktueller Vorgänge und Dynamiken.
Das italienische Schulsystem versagt mit Hinblick auf Bildung und die Vorbereitung auf das Leben in der Welt. Jedoch waren die Generationen vor ihnen genau so wenig vorbereitet, wie die Kinder und Jugendlichen von heute, wodurch sie sich in einer Welt wiederfanden, die sie nicht verstanden. Dadurch konnte eine Blase entstehen, die es innerhalb eines demokratischen und freien Landes ermöglicht, dass sich Menschen mit unzureichender Bildung nicht an der Gesellschaft beteiligen können und kaum beachtet werden.
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