Der Abenteurer, Menschenrechts- und Umweltaktivist FLAVIANO BIANCHINI im Interview

Bianchini gab sich zuletzt als guatemalischer Flüchtling aus und hat seine Erlebnisse in einem Buch festgehalten

, von  Cristina Bettati

Der Abenteurer, Menschenrechts- und Umweltaktivist FLAVIANO BIANCHINI im Interview
Flaviano Bianchini gab sich als Flüchtling aus und erlebte Schlepper-Gefängnis, qualvolle Reisen und Hilfsbereitschaft © Flaviano Bianchini, zur Verfügung gestellt für treffpunkteuropa.de

Der italienische Naturwissenschaftler und Umweltschützer Flaviano Bianchini ist 35 Jahre alt und Gründer der Nichtregierungsoganisation Source International. Schwerpunkt der Organisation liegt auf der wissenschaftlichen Unterstützung der Gemeinschaften, deren Menschenrechte verletzt werden.

Der italienische Naturwissenschaftler und Umweltschützer Flaviano Bianchini ist 35 Jahre alt und Gründer der Nichtregierungsoganisation Source International. Schwerpunkt der Organisation liegt auf der wissenschaftlichen Unterstützung der Gemeinschaften, deren Menschenrechte verletzt werden.

Flaviano ist in Fabriano, Marken, geboren und aufgewachsen. Er erhielt seinen Bachelor in Umweltwissenschaften an der Universität Camerino, und seinen Master in Bewirtschaftung und Aufwertung der natürlichen Ressourcen an der Universität Pisa. 2010 bekam er ein Stipendium für den Master in Menschenrechte und Konfliktbewältigung an der Elite-Hochschule Sant’Anna in Pisa, eine der besten Universitäten der Welt nach dem jährlich durchgeführten Hochschulranking des englischen Magazins Times Higher Education.

Nach der Veröffentlichung seiner ersten zwei autobiografischen Reisebücher – „In Tibet. Un viaggio clandestino“ („In Tibet. Eine heimliche Reise“, 2011) und „Taraipù. Viaggio in Amazzonia” (“Taraipù. Reise durch Amazonas”, 2014) – erzählt Flaviano 2015 eine neue erstaunliche Abenteuer: „Migrantes. Clandestino verso il sogno americano“ („Migranten. Flüchtling auf dem Weg zum amerikanischen Traum“). In diesem Tagebuch – zurzeit nur auf Italienisch und Spanisch verfügbar (El camino de la bestia, Pepita de Calabaza, 2016) – lässt Flaviano seine europäische Identität zurück und verwandelt sich in den peruanischen Auswanderer Aymar Blanco. Er will so den Weg zum amerikanischen Traum genau wie die mehr als 1500 Flüchtlinge erleben, die jeden Tag die harte Reise durch Mexiko unternehmen.

Während der 21 Tage auf der Flucht erfährt Flaviano/Aymar nicht nur eine erstickende Fahrt eingepfercht zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen im Doppelboden eines LKW und den langen Ritt bei Hitze und Kälte auf dem „Biest“ – so nennt man den Güterzug, auf oder zwischen dessen Waggons die Migranten vom Süden Mexikos bis an die Grenze der USA gefährlich reisen -, sondern auch ein zweitägiges Kidnappen in einem von Verbrechern organisierten Gefängnis und die Durchquerung der Sonora-Wüste. Er leidet an Hunger und Durst, erlebt aber auch die unglaublich solidarischen Gesten vieler armer und trotzdem großherziger Mexikaner.

Warum hast du dich für so eine Erfahrung entschieden?

Wenn man in Lateinamerika wohnt, steht man jeden Tag dieser Erfahrung gegenüber. Ich erinnere mich an meinen ersten Tag in Guatemala, als mir ein Taxifahrer ganz spontan von seinem Versuch erzählte, die USA zu erreichen, und wie er daran scheiterte. Denken wir nur an El Salvador: Ein Land, dessen Bevölkerung zu einem Viertel in den USA wohnt. Man sieht täglich Migranten oder Verwandten von denen. Von Anfang an wollte ich mich mit diesem Thema befassen.

Wie hast du dich auf die Reise vorbereitet?

Ich habe versucht, so weit wie möglich mich fit zu machen. Ich bin viel gelaufen und Rad gefahren. Was noch alles auf einen zukommt, darauf kann man sich übrigens kaum vorbereiten. Es geht alles um Glück und Beharrlichkeit.

Zwischen der Reise und der Veröffentlichung des Buches ist eine lange Reifezeit vergangen: Warum?

Ich bin von Tecún Umán, Guatemala, am 18. Januar 2012 losgegangen und bin in Tucson, Arizona, am 5. Februar 2012 angekommen. Das Buch wurde Ende 2015 veröffentlicht. Ich habe so eine lange Zeit gebraucht, weil ich mir während der Reise keine Notizen machen konnte - ein Flüchtling mit Papier und Bleistift wäre viel zu seltsam gewesen! – und daher musste ich im Nachhinein die ganze Erfahrung überarbeiten. Dazu wollte ich noch, dass das Buch alles erzählte, was ich damals gelebt und gefühlt hatte.

Gibt es einen Vorfall, an dem du oft zurückdenken musst?

Die Tage im Gefängnis sind die härtesten gewesen. Fast ein Jahr habe ich für diese einzigen zwei Kapitel gebraucht. Als ich dachte, endlich geschafft zu haben, meine ganzen Eindrücke schriftlich zu fixieren, las ich die Kapitel durch, und musste sie wieder neu anfangen. Sie übertrugen nicht, was ich alles gefühlt hatte. Und eigentlich tun sie es auch in der veröffentlichten Fassung immer noch nicht. Viele Leute haben mir nämlich gesagt, dass man im Buch nicht versteht, dass das für mich das schlimmste Ereignis der Reise gewesen ist.

Als du in Tucson angekommen bist, hast du dir deine Identität als Flaviano Bianchini wieder angeeignet. Welche wären die weiteren Schritte von Aymar Blanco gewesen? Hätte er Erfolg gehabt?

Über Aymar in den USA könnte man ein anderes ganzes Buch schreiben! Die Ankunft in den USA bedeutet tatsächlich für die Flüchtlinge, eine andere Reise anzufangen, die sogar schwieriger als die Route selbst ist. Aymar hätte sich eine neue Identität bei null erschaffen müssen. Er ist zerlumpt und ohne Geld in einer neuen Stadt angekommen, zuerst hätte er sich ein Netzwerk schaffen müssen, um eine Arbeit finden zu können. Von den 600.000 Menschen, die jährlich in die USA auswandern, schaffen es nur 10 Prozent, den amerikanischen Traum zu leben. Die meisten Migranten arbeiten stattdessen auf den Feldern der US-Südstaaten oder, in den schlimmsten Fällen, in Straßenbanden, welche die Hauptursache für den Hass der Amerikaner gegenüber den Latinos sind.

Wie ähneln und wie unterscheiden sich die Migrationen von Süd- nach Nordamerika und von Nordafrika nach Europa?

Ähnlich sind sie die Erbarmungslosigkeit der Reise, die damit verbundenen Schwierigkeiten und die Fluchtursachen, welche die Migranten dazu veranlassen, ihre Heimat zu verlassen. Ein anderer Aspekt betrifft die Kosten: Man zahlt unglaublich hohe Preise für die beiden Routen. Und all dieses Geld fließt dann direkt in die Taschen der organisierten Kriminalität. Das ist wirklich der absurdeste Widersinn: Einerseits zahlen die Migranten für eine Reise der Hoffnung von Guatemala-Stadt nach Los Angeles bis zu 8.000 Dollar und machen damit die Schlepper reich, andererseits kostet ein normales Flugticket 100 Dollar, die von seriösen Unternehmen einkassiert wird. Das Gleiche gilt für die Migranten, die in Europa ankommen: Die Balkanroute kostete den Migranten rund 1000 Dollar, dagegen zahlt ein Tourist für die Fährfahrt 25 Dollar hin und zurück. Die zwei Migrationen unterscheiden sich allerdings darin, was die Migranten nach Ankunft erwartet. In Europa haben es die Flüchtlinge nicht gut, und trotzdem verfügen sie im Vergleich zu den Lateinamerikanern über viel mehr Möglichkeiten, sich zu legalisieren. Beispiele dafür sind die Asylbewerbung und verschiedene Arten staatlicher Leistungen. In den USA bleibt die Mehrheit der Migranten lebenslang illegal. Die einzige Hoffnung besteht daran, die Green-Card-Lotterie zu gewinnen. Dies ist eine Lotterie, welches vom Außenministerium der Vereinigten Staaten organisiert wird und die jährlich rund 50.000 Permanent Resident Cards verlost.

Gibt es wirklich keinen anderen Weg, sich zu legalisieren? Zum Beispiel den Beweis einer Arbeit bei einem amerikanischen Unternehmen?

Um einen Ausländer einstellen zu können - und das weiß ich aus eigener Erfahrung -, muss ein amerikanisches Unternehmen beweisen, dass kein Bürger der Vereinigten Staaten zu der Stelle befähigt ist. Das ganze Verfahren kostet dem Unternehmen bis zu 10.000 Dollar. Man kann dann gut verstehen, dass ein Oxford-Absolvent es schaffen kann, ein guatemaltekischer Bauer es eher nicht. Die Erlangung der US-Staatsbürgerschaft durch die Heirat ist auch sehr schwierig, da eine der strengen Anforderungen sei, eine Green-Card für wenigstens drei Jahre besessen zu haben. Neben der Green-Card-Lotterie gibt es eigentlich nur einen anderen Weg zur Legalisierung, und zwar in den USA ein Kind auf die Welt zu bringen. Wird ein Kind in den Vereinigten Staaten zur Welt gebracht, erhält er automatisch nach dem 14. Zusatzartikel der US-Verfassung die amerikanische Staatsbürgerschaft. Das ist der Grund dafür, dass viele Frauen diese sehr gefährliche Reise am Ende deren Schwangerschaft unternehmen. Deren Hoffnung sind die sogenannten Ankerkinder, die aber erst nur im Alter von 21 Jahren für deren Eltern einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen dürfen.

Gibt es eine Lösung für das Migrationsproblem?

Was die USA betrifft, ist der entsprechende Wille im Moment nicht vorhanden, diesen Personen eine Chance zu geben. Trump hat seinen Wahlkampf durch den Hass gegen die „Mexikaner“ angefeuert. Und mit diesem Begriff meint er alle Migranten aus Mittel- und Südamerika. Der Anteil mexikanischer Migranten ist eigentlich sehr gering im Vergleich zu den übrigen 80% aus Guatemala, Honduras und El Salvador. Trotz des Drogenkriegs, schafft man in Mexiko immer noch, sich irgendwie durchzuschlagen. In Guatemala, Honduras und El Salvador sind hingegen Armut und Kriminalität wahnsinnig hoch. Denken wir nur daran, dass alle drei Länder die ersten Plätze in der Statistik der höchsten Mordraten der Welt belegen - sogar vor Ländern im Kriegszustand in Afrika oder im Mittleren Osten. In den letzten fünf Jahren wurden jährlich 5400 Menschen in Aleppo getötet. In Guatemala-Stadt - rund 2 Millionen Einwohner, genau wie Aleppo – rechnet man seit zehn Jahren mit 5200 Morden pro Jahr. Der einzige Weg dieses Blutbad zu stoppen ist es, die Lebensbedingungen in diesen Ländern zu verbessern. Das Gleiche gilt für die Länder der Migranten, die nach Europa kommen. Jedem Einzelnen muss klar werden, dass man sehr starke Gründe haben muss, um das eigene Leben so zu gefährden.

Du kennst die Lage von Lateinamerika sehr gut. Glaubst du, dass Trump dessen größter Feind zurzeit ist?

Es ist mir noch zu früh, um zu verstehen, ob seine Versprechen nur leeres Gerede sind, oder ob er sie wirklich in die Tat umsetzen wird. Das Gute daran ist, dass die Vereinigten Staaten nicht eine gewählte Diktatur sind: Alle neuen Gesetze müssen vom Kongress erst abgenickt werden, damit sie in Kraft treten können. Das heißt, der Kongress kann sie stoppen. Außerdem kann man manchmal aus einem Feind Nutzen ziehen. Ein Beispiel dafür ist Mexiko, wo der Angst vor der Mauer den Nationalstolz wieder geweckt hat.

In deinem Buch schreibst du, dass die Mauer nicht über die ganze Grenze von Arizona, New Mexiko und Texas verläuft. So wie damals George W. Bush verspricht heutzutage auch Trump diese Übergänge zu schließen, und damit die 3.145 Kilometer lange Grenzmauer zu vervollständigen, welche die USA und Mexiko trennt. Wenn das geschehen sollte, welche andere möglichen Routen bleiben für die Migranten?

Ich glaube einfach nicht, dass diese Übergänge geschlossen werden. Erstens weil die Kosten prohibitiv hoch sind, zweitens ist das eine Entscheidung, die erst vom Kongress abgestimmt werden muss. Doch ist die Mehrheit im Kongress wird von den Republikanern gestellt. Alle Mitglieder sind sich aber durchaus bewusst, dass die industriellen und landwirtschaftlichen Eliten der USA sich auf die Arbeit illegaler Einwanderer aus Mittel- und Südamerika stützen.

Trump will aber Mexiko die unerschwinglichen Kosten für den Mauerbau aufbürden… Ja, und mit diesem Unsinn hat Trump sogar geschafft, den Präsidenten von Mexiko Peña Nieto sympathisch zu machen! Ein äußerst unpopulärer Präsident unter den Mexikanern, der sich ab dadurch Respekt verdiente, dass er Trump beim Thema Mauer die Stirn geboten hat. Mexiko glaube nicht an die Mauer und man würde auf keinen Fall dafür zahlen.

Glaubst du, dass die Entscheidungen Trumps bezüglich der Einwanderungspolitik auch die Steuerung der Migration in der Europäischen Union beeinflussen können? Ich fürchte ja. Beispiel dafür ist den Aufstieg von Parteien wie denen von Le Pen und Salvini, aber auch der Fünf-Sterne-Bewegung von Grillo, die in meiner Sicht bezüglich der Migration nach ganz weit rechts tendiert und viel zu justizialistisch ist. Der Erfolgslauf Trumps hat diese Parteien eitel gemacht, und jetzt übernehmen sie seine Ideen. Als Trump den Einreisestopp für Bürger von sieben hauptsächlich muslimischen Ländern ankündigte, wurde die Idee 15 Minuten danach von Salvini nachgesprochen. Keine dieser europäischen Politiker hat aber bemerkt – oder besser gesagt bemerken wollen -, dass Saudi-Arabien zu diesen sieben ausgeschlossenen Ländern nicht gehört, obwohl genau dieses Land eine zentrale Rolle in den Terroranschlägen am 11. September 2001 gespielt hat.

Trump will das Budget von EPA – der US-Umweltschutzbehörde – kürzen, um die Militärausgaben erhöhen zu können. Auch diese Entscheidung wird auf die EU Einfluss haben?

Während des Wahlkampfs behauptete Trump sogar, die EPA schließen zu wollen. Diese Kürzungen sind also alles andere als überraschend. Leider auch darüber fürchte ich, dass sich einige europäische Politiker von ihm inspirieren lassen werden. Ziel Trumps ist Jobs zurück ins Land zu holen, und hierfür denkt er an Steuererleichterungen und Deregulierung. Das erste sichtbare Ergebnis wird die Senkung der Arbeitskosten sein, welche aber eigentlich nur 2% der Kosten eines Unternehmens darstellt. Das übrige 98% sind hingegen Kosten für Verbesserung und Instandhaltung der Infrastrukturen: Strom, Öl, Gas, Filter, Kläranlage und so weiter. Durch die Deregulierung der Umweltschutzbestimmungen – das heißt den Abbau bindender Unternehmensverpflichtungen zum Schutz der Umwelt – werden solche Kosten halbiert oder sogar total entfernt. Hier kann man wirklich einsparen, sowohl aus wirtschaftlicher als auch aus bürokratischer Sicht. In der EU versuchen einige Regierungen schon, diese Idee einzuführen, um neue Investitionen im eigenen Land anzuziehen. Die Vereinigten Staaten tun so, um mit China und Mexiko konkurrieren zu können; wir tun es andersrum, um mit den Vereinigten Staaten konkurrieren zu können.

Mit welchen umweltrelevanten Herausforderungen wird sich die EU in den nächsten 10 Jahren konfrontiert sehen?

Sicherlich den Klimawandel und die Bodennutzung. Zwei Aspekte, die eng miteinander verbunden sind. Erdrutsche und Überschwemmungen hat es immer gegeben. Die Tatsache, dass ihre Kraft heutzutage viel zerstörerischer ist, ist ja auf den Klimawandel zurückzuführen, welcher die Zunahme von extreme Wetterereignissen verursacht, aber auch auf die schlechte Bodennutzung. Nehmen wir als Beispiel die Hauptstadt Genua in Ligurien: Die Stadt ist enorm gewachsen, obwohl sie sich über eine Gebirgskette erstreckt und durch Flüsse durchzogen ist. Flüsse, die schrittweise kanalisiert und begraben wurden. 2014 erlitt die Stadt eine verheerende Überschwemmung. Ein anderes Beispiel ist die Überschwemmung vom Jahr 1996 in Versilia: Eine Küstenlandschaft in der nordwestlichen Toskana, die nichts anders als ein trockengelegter Sumpf ist, auf den man alle möglichen Häuser gebaut hat. Diese leichtsinnige Errichtung von Wohnsiedlungen hat tatsächlich jene Pufferzonen beseitigt, die einem Klimaereignis erlaubte, sich auszutoben, ohne zu zerstören. Letztlich behandelt man ein Wetterereignis wie ein Fußballschiedsrichter: Wenn wir das Spiel gewinnen, haben wir uns es recht verdient; wenn wir es aber verlieren, ist alles der Schiri schuld. Der Klimawandel findet bereits statt – daraus kann es keinen Zweifel geben - und trotzdem glaube ich, dass wir noch ein wenig Zeit haben, was dagegen zu tun.

Eine weitere Herausforderung für die EU betrifft die Modernisierung der Industrieanlagen, die veraltet und umweltschädlich sind. In Italien wurden die meisten Industrieanlagen während des wirtschaftlichen Aufschwungs der 50en und 60en Jahren aufgebaut, in Osteuropa stammt das Industriemodell aus den Sowjetzeiten.

Wird die EU es schaffen, diese Herausforderungen zu meistern?

Müssen wir, es gibt keine Alternative. Das Ganze wird andernfalls für die Staaten nicht mehr tragbar sein, sowohl aus umwelttechnischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen. Denken wir an den Fall des Ilva-Stahlwerk in Tarent, Apulien, welches das größte Werk Europas zur Stahlverarbeitung ist. Der Staat sollte sich ja um die Toten Sorgen machen, aber viel mehr sollte er sich um die noch lebenden Einwohner kümmern, die irgendwann krank und für den nationalen Gesundheitsdienst eine Last sein werden. Das Gleiche gilt auch für das Fracking – ein technisches Verfahren zur Förderung von Erdgas und Erdöl, welches in der künstlichen Injektion großer Druckwassermengen im Unterbodengestein besteht. Dank der Ausnutzung dieses Verfahrens hat Obama einen seiner größten Erfolge im Dezember 2015 erreicht, und zwar die Selbstversorgung an Energie und die Aufhebung des Verbots für den Erdölexport. Der wirtschaftliche Nutzen von heute wird aber die enormen künftigen Umweltschäden und öffentlichen Ausgaben nicht decken. Wer wird nämlich zahlen, wenn in 20 Jahren all das Grundwasser von Süddakota verseucht sein wird?

Wie wird Europa jenseits des Atlantiks betrachtet?

Einerseits wie eine alte Karre, andererseits macht es doch ein wenig Angst. Ein vereintes Europa stellt doch noch die größte Wirtschaftsmacht der Welt dar. Deshalb haben einige Länder ein großes Interesse an der Auflösung der EU. Der Verdacht ist, dass die neuerlichen Spannungen zwischen den USA und Russland nichts anders als ein vorabgestimmter Plan zwischen den beiden sind, dieses gemeinsame Ziel zu erreichen.

Du bist der Gründer und Leiter der Nichtregierungsoganisation Source International, welche seit Juni 2012 aktiv ist. Seit wann arbeitetest du daran? Welches Ziel hat sie?

Die Idee, eine Organisation wie Source International zu gründen, kam mir, als ich mich aufgrund meines ersten Projekts in Guatamala befand. Es war kurz nach dem Bachelorabschluss, im Jahr 2005. Vor einigen Wochen hatte ich eine Messe in Mailand besucht, die “Fa’ la cosa giusta” („Mach das Richtige“) heißt und nachhaltige Verbrauchsmuster und Lebensstile fördert. Da hörte ich einen Vortrag einer guatemaltekischen Frau, die sich leidenschaftlich gegen die dramatischen Einwirkungen der Tagebaubetriebe in ihrem Land und gegen das Fehlen wissenschaftlicher Daten zur Stützung ihrer Behauptungen wendete. Als sie den Vortrag endete, bin ich zu ihr gegangen. Ich wollte den Grund wissen, warum ihr wissenschaftliche Daten fehlten. Sie erklärte mir, dass die Wissenschaftler den Gemeinschaften nicht helfen, weil sie somit ihren Arbeitsplatz im privaten Sektor verlieren könnten. Ich habe also ihr vorgeschlagen, dass ich diese Daten für ihre Gemeinschaft erstellen könnte. Nach einem Monat bin ich mit einem One-Way-Ticket nach Guatemala geflogen. Danach war ich auch in Honduras und El Salvador. Das Ziel von Source International basiert genau darauf: Wissenschaftliche Unterstützung für jene Gemeinschaften anbieten, deren Menschenrechte durch hauptsächlich Bergwerkbetriebe verletzt werden. Und das nicht nur in Mittel- und Südamerika.

Wie wird deine Aktivität von den Regierungen dieser Staaten angenommen?

Es ist von Land zu Land unterschiedlich. Ein Umweltaktivist in Mittel- und Südamerika zu sein, ist grundsätzlich riskant. Ich selbst wurde im Jahr 2007 aus Guatemala außer Landes verwiesen, nachdem ich eine Gemeinschaft unterstützt hatte, einen Gerichtprozess gegen einen Bergbaukonzern zu gewinnen. Gerade heute (am 03.03.2017, Tag des Interviews) vor einem Jahr wurde die honduranische Menschenrechts- und Umweltaktivistin Berta Cáceres ermordet. Am gleichen Tag und im gleichen Haus wurde auch der mexikanische Umweltaktivist Gustavo Castro Soto verletzt, der sich noch heute gezwungen sieht, in Spanien zu leben, da er einen der Attentäter ins Gesicht gesehen und daher Angst vor Racheakten hat.

Wie kann man Source International unterstützen?

Auf unserer Webseite ist es möglich, alle unsere laufenden Projekte zu sehen und dafür durch PayPal zu spenden. Dazu findet man auf der Webseite auch unsere Steuernummer, wodurch alle die eine italienische Steuererklärung abgeben müssen einen Anteil deren Einkommensteuer der Organisation zuweisen können. Unser Bereich ist so spezifisch, dass wir ständig auf der Suche nach Volontäre sind, welche über eine sehr hohe Ausbildung und Qualifikation verfügen, u.a. Wissenschaftlern, Anwälten und Finanzexperten, die dafür bereit sind, mit einem Pro-bono-Mandat mit uns zusammenzuarbeiten.

Welche sind deine nächsten Projekte? Bereitest du dich auf ein neues Abenteuer vor?

Wenn ich das tue, würde ich es dir nicht sagen. Ich sage es niemandem. Was Source International betrifft, sind wir gerade dabei, unsere Tätigkeit auch um Fälle von Verseuchungen und Gesundheitsschäden durch die Textil-, Agroindustrie und grundsätzlich alle Industrien zu erweitern, die negative Umwelteinwirkungen verursachen. Neben Amerika werden wir bald auch in der Mongolei, im Südostasien und in Afrika aktiv sein.

Ich sehe sehr viele Ähnlichkeiten zwischen deinen Erfahrungen und denen vom Journalisten und Schriftsteller Tiziano Terzani. Ihr habt beide an der Sant‘Anna in Pisa studiert, habt beide Fernweh und brennt darauf, die Herausforderungen unserer Zeit der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, auch wenn dadurch eure Leben gefährdet werden. Außerdem wurdet ihr beide 2010 mit dem Bruce-Chatwin-Preis – dem englischen Schriftsteller und Reisende gewidmet - ausgezeichnet. Hast du auch diese Ähnlichkeiten bemerkt? Was denkst du über Terzani?

Ich habe nie an diese Ähnlichkeiten gedacht, sie freuen mich aber sehr. Was denke ich über Terzani? Er ist einfach klasse, einer meiner Lieblingsschriftsteller! Er war ein wunderbarer Mensch mit einem neugierigen Blick auf die Welt. Seine Geschichte spricht für sich selbst, mehr braucht man nicht dazu zu sagen.

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