„Bitte lasst mir auch etwas Platz in der Gesellschaft!“
Ein Samstagnachmittag in einem Tallinner Stadtpark. Menschen versammeln sich um eine Bühne. Prominente und Geschäftsmänner sind darunter, aber auch Studentinnen und Schüler, Großmütter und Arbeiter. Es wird Estnisch und Russisch gesprochen. Etwa 400 Menschen sind heute dem Aufruf der Organisatoren „Ja zur Freiheit, Nein zu lügen“ gefolgt. Das Bündnis, das sich aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren zusammensetzt, trifft sich seit Monaten jeden Donnerstag vor dem Stenbock-Haus, dem estnischen Regierungssitz. An diesem Samstag haben sie zu einer Sonderkundgebung in den Hirve-Park geladen - einen Ort mit historischer Tragweite. Gegen Ende der 80er Jahre hatten hier die ersten großen Massendemonstrationen in der estnischen Sowjetrepublik stattgefunden, die in der Singenden Revolution mündeten. Doch heute prangen ganz andere Parolen auf ihren Transparenten: „Bitte lasst mir auch etwas Platz in der Gesellschaft!“ und „Ist es dir immer noch nicht peinlich, Jüri?“ Schon länger geht der Hashtag #AstuTagasi viral (dt. #TrittZurück). Was ist passiert beim ehemaligen Musterschüler Estland?
Der estnischen Wirtschaft geht es trotz des Abflauens des jahrelangen Aufwärtstrends gut. Nach der Wiederunabhängigkeit hat das Land einen Sprint hingelegt, von dem andere Staaten des ehemaligen Ostblocks nur träumen konnten. In digitalen Belangen ist es längst zum internationalen Vorzeigeprojekt geworden. Im letzten Jahr hat man dem Nachbarn Finnland an der Spitze des Pisa-Rankings den Rang abgelaufen. Doch auch vor dem baltischen Tiger macht ein gesamteuropäischer Trend nicht halt. Der Rechtspopulismus hat auch hier Fuß fassen können. Bei den letzten Parlamentswahlen konnte die Estnische Konservative Volkspartei, kurz EKRE, ihren Stimmenanteil mit ingesamt knapp 18 % der Stimmen verdoppeln. Seitdem driftet die Stimmung im Land zusehends ab – doch die Verantwortung hierfür trägt noch ein anderer: Premierminister Jüri Ratas.
Eine schrecklich nette Koalition
Der Wahlsieger der Parlamentswahlen fiel im Frühjahr eigentlich deutlich aus: 28,9 % aller Wähler sprachen ihr Vertrauen der liberalen Reformpartei aus. Den zweiten Platz erreichte die regierende Zentrumspartei, drittstärkste Partei wurde die EKRE. Nationale und internationale Medienhäuser meldeten voreilig, die Vorsitzende der Oppositionspartei, Kaja Kallas, werde erste weibliche Premierministerin des Landes. Doch als sich der Schleier der Vorfreude legte, folgte der Schock. Die sozialliberale Zentrumspartei des bis dahin amtierenden Ministerpräsidenten Ratas, auf die die Reformpartei bei der Koalitionsbildung angewiesen war, lehnte eine Regierung unter Führung von Kallas ab und lud, internationalen Warnungen zum Trotz, neben der konservativen Vaterlandsunion auch die rechtspopulistische EKRE zu Koalitionsgesprächen ein. So konnte konnte Ratas mit diesem Schritt erreichen eine Premierministerin Kaja Kallas zu verhindern und zusätzlich selbst im Amt zu bleiben. Doch die Geister, die er rief, scheint er nun nicht mehr im Griff zu haben.
Die Koalition Zentrum-Vaterland-Volkspartei gehört zu den Bündnissen der ungewöhnlichen Sorte, da sie die extreme Rechte mit der linken Mitte vereint. Vielen Wählern der Zentrumspartei - einer Partei, die bislang besonders hohe Unterstützung bei russischsprachigen Bürgerinnen und Bürgern verzeichnete – kam diese Entscheidung einem Schlag ins Gesicht gleich. Seit der Koalitionsbildung im April jagt ein Skandal den nächsten. Verharmlosungen des NS-Regimes, Verschwörungstheorien über einen Schattenstaat und die offene Anfeindung von Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise Juden, People of Colour und Mitgliedern der estnischen LGBT-Community gehören zur traurigen gesellschaftlichen Realität in Europa. Dass solche Rufe jedoch von der Regierungsbank kommen, ist gerade in Staaten, die wie Estland als Beispiel für eine gelungene europäische Integration galten, ungewöhnlich.
Tritte in alle Richtungen
Kein halbes Jahr ist seit der Amtseinführung nun vergangen und dennoch steht Ratas vor einem beachtlichen Scherbenhaufen, den seine Koalitionspartner hinterlassen haben. Noch vor Amtseinführung der neuen Regierung erschütterte eine Debatte über Pressefreiheit das Land, nachdem zwei renommierte Journalisten aus dem öffentlichen Rundfunk und Estlands größter Tageszeitung Postimees aufgrund von Unstimmigkeiten wegen ihrer EKRE-kritischen Haltung ihren Rücktritt verkündeten. Die Nachbeben dieses Skandals halten die freie Medienwelt des Landes (Platz 11 im Pressefreiheitsindex) seitdem weiter in Aufruhr.
Insbesondere die EKRE-Minister Mart und Martin Helme (Vater und Sohn, Innen- und Finanzminister) ziehen eine Schneise der Verwüstung hinter sich her. Ihre traditionellen Themen kreisen um Einwanderung und Minderheiten. Nicht selten bandelt EKRE jedoch bewusst mit ultrarechten Kräften an. Russischsprachige könnten nie Esten sein, selbst wenn sie fließend Estnisch sprächen oder sich als Bürgerinnen und Bürger Estlands identifizierten, heißt es beispielsweise von Ruuben Kaalep, dem jüngsten Parlamentsabgeordneten und Leiter der EKRE-Jugendorganisation Sinine Äratus (Blaues Erwachen). Mit Anlauf bricht die Partei auf allen Ebenen ein Tabu nach dem anderen, scheinbar begleitet von einem Gefühl der Sicherheit und Ungestörtheit. Davon zeugen in etwa die White-Supremacy-Gesten im Parlament, Vergleiche zwischen der EU und der Sowjetunion oder Rücktrittsgesuche gegen den EKRE-kritischen Polizeivorsitzenden Elmar Vaher.
Das Wort ist frei
Obwohl Jüri Ratas sein Ziel, Premierminister zu bleiben, erreichen konnte, dürfte trotz aller Rückschläge die EKRE als deutlicher Gewinner dieser Koalition hervorgegangen sein. So ist es ihnen nicht nur gelungen, Teil der Regierung zu werden, sondern auch eine Reihe ihrer Forderungen zu realisieren, wenngleich sich viele ihrer populistischen Versprechen, wie etwa die Abschaffung eingetragener gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften, als rechtlich nicht umsetzbar erwiesen haben.
In welche Richtung wird sich diese Regierung entwickeln? Ein nahender Siegeszug der Rechtspopulisten ist trotz stabiler Umfrageergebnisse für die EKRE nicht zu erwarten – dafür sorgen nicht nur die Opposition, sondern auch zivilgesellschaftliche Initiativen. Glücklicherweise gelingt es den bestehenden Institutionen derzeit, Szenarien wie in Polen und Ungarn zu verhindern. Auf der europäischen Ebene sollte Estland nicht aus den Augen verloren werden. Ein wachsames Europa sollte den gesellschaftlichen Akteuren in Estland Rückendeckung bei der Wahrung europäischer Werte bieten. Doch eine Überinterpretation der Krise lohnt wenig: 88 % der Bürger Estlands schätzen die EU-Mitgliedschaft ihres Landes. Dass euroskeptische Tendenzen von den Wählern nicht angenommen werden, zeigt auch das Ergebnis der Europawahl, aus der die Reformpartei mit starkem Zuwachs als Wahlsiegerin herausging. Die EKRE (12,7 % der Stimmen) stellt lediglich einen der sechs estnischen Sitze im Europaparlament als Mitglied der neugebildeten Fraktion Identität und Demokratie.
Der Druck auf die Regierung wird vorerst nicht abflauen. Nicht nur viele Medienhäuser und die Opposition, sondern auch hohe gesellschaftliche Würdenträger haben öffentlich Stellung bezogen – insbesondere Präsidentin Kersti Kaljulaid. In diversen Interviews kritisierte sie das Vorgehen und die Rhetorik der Minister wiederholt scharf und befürchtet bleibende Schäden für das internationale Renommee Estlands. Für die Volkspartei kam ihr Auftritt bei der Regierungseinführung einem Affront gleich – sie erschien nicht wie üblich im Kleid, sondern in einem einfachen weißen Pullover mit schwarzer Aufschrift: Sõna on vaba. Das Wort ist frei.
Ein Misstrauensvotum der Reformpartei gegen Jüri Ratas scheiterte zuletzt. Oppositionsführerin Kallas sieht darin aber keine Niederlage. Ihre Partei werde nicht aufgeben, der Regierung auf die Finger zu schauen: „Wir haben gezeigt, dass all diese Dinge, die mit der Regierung geschehen sind – all diese Skandale und Skandälchen – nur deswegen passieren konnten, weil Jüri Ratas sie möglich macht. Das internationale Ansehen Estlands ist beschädigt; Minister versuchen, Rechtschutzorgane der politischen Kontrolle zu unterwerfen [...] - all das wird möglich, weil Jüri Ratas es erlaubt.“
Und so ist es nicht zu erwarten, dass es bald ruhig wird um die estnische Regierungskrise. Die Demonstrierenden werden vorerst weiter jeden Donnerstag vor den Regierungssitz ziehen und Kundgebungen im Hirvepark veranstalten. Und vielleicht erfüllt sich eines Tages ein Slogan der Singenden Revolution, mit der die Schriftstellerin Maarja Kangro auf der letzten Demonstration im Hirve-Park ihre Rede schloss: „Eines Tages gewinnen wir; so oder so.“
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