Für den Bericht zur “Situation von Mädchen auf der Welt” (State of the World’s Girls Report) 2020, der Kinderrechtsorganisation Plan International, wurden 14.000 Mädchen und junge Frauen in 22 Ländern befragt. Aus Europa gaben 63% der Befragten an digitale Gewalt und Belästigungen in den sozialen Medien erlebt zu haben – für Deutschland waren es sogar 70%. Die Folgen für die Betroffenen: mentaler und emotionaler Stress, geringeres Selbstwertgefühl, sinkendes Selbstbewusstsein und Angst. Die Folgen für die Täter*innen: unbekannt. Dazu gibt es keine validen Daten. Was zum Teil daran liegt, dass es selten Folgen gibt.
“In einer Welt, die zunehmend durch die digitalen Medien bestimmt wird, kommt es immer öfter zu Fällen von digitaler Gewalt. Sie ist mittlerweile ein weitverbreitetes Phänomen und ist eng verknüpft mit der „analogen“ Gewalt.”
Quelle: hilfetelefon.de
Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff.) hat in einem Fragenkatalog des Bundestagsausschusses “Digitale Agenda” angemerkt, dass eines der größten Schwierigkeit, die fehlende Anerkennung von “digitalen geschlechtsbezogenen Gewalterfahrungen in ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedeutung durch Politik, Justiz, Polizei, Plattformanbieter*innen sowie Entwickler*innen und Produzent*innen im Technologiebereich” sei. Dies führe, laut bff. dazu, dass es immer noch schwierig ist Straftaten im Netz, wie zum Beispiel das versenden von Dick Picks (versendete Bilder des männlichen Geschlechtsteils) oder Cyber Mobbing anzuzeigen.
Welche Formen der digitalen Gewalt gibt es?
Digitale Gewalt ist Gewalt, die digital stattfindet, sich aber nicht von analoger Gewalt und vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen (außerhalb des Internets) lösen lässt. Man muss sie als eine Ergänzung ansehen, was verdeutlicht, wie ernst Gewalt im digitalen Bereich genommen werden muss. Denn sie kann eben genauso verletzend sein. Das sind einige Formen von digitaler Gewalt:
- Cyberstalking: Wiederkehrendes verfolgt werden von einer Person, durch die digitalen Medien, wie zum Beispiel über Mails, Beiträge in sozialen Netzwerken oder über Messenger.
- Cyberharrasment: Das ungewollte Empfangen von Nacktfotos oder pornografischen Material oder explizit sexuellen Inhalten.
- Doxing: Das Veröffentlichen von privaten personenbezogenen Daten, wie zum Beispiel Wohnadresse.
- Deepfaking: Gesichter von Personen werden in pornographische Inhalte eingebaut und verbreitet.
- Bildbasierte sexuelle Gewalt: dazu zählen Verbreitung von einvernehmlichen Nacktfotos oder pornografischen Material (auch Revenge-Porn genannt), aber auch das heimliche Herstellen von pornografischen Material oder Nacktfotos und das anschließende veröffentlichen.
Eine Petition gegen den Hass
Bereits im Dezember 2020 legte die EU-Kommission neue Vorschriften für digitale Dienste vor. Über den Digital Services Act (DSA) steht auf der Website der Europäischen Union: “Im Sinne der europäischen Werte werden die Verantwortlichkeiten der Nutzer/innen, Plattformen und Behörden neu austariert – mit den Bürgerinnen und Bürgern im Mittelpunkt.” Mit der Verordnung sollen User*innen und ihre Grundrechte, wie Unversehrtheit oder das Recht auf freie Meinungsäußerungen, im Internet besser geschützt werden – insbesondere vor Hass. Am 20. Januar 2022 wurde der DSA vom europäischen Parlament verabschiedet.
Im Vorfeld hatten sich Organisationen aus europäischen Ländern zusammengeschlossen und eine Petition ins Leben gerufen. Gestartet wurde sie von der gemeinnützigen Organisation HateAid GmbH. Diese bietet Unterstützung für Betroffene von digitaler Gewalt an. Als erste Beratungsstelle für Hass im Netz stehen sie Betroffenen aber nicht nur beratend zur Seite, sondern führen auch europaweite Umfragen zu diesem Thema durch. Im Gespräch mit treffpunkteuropa.de stellte die Mitarbeiterin Jenny Brunner aus dem Team von HateAid fest: “Wir haben festgestellt, dass die Datenlage zu diesem Thema total schlecht ist. Wir brauchen frische Zahlen.” Heraus kam dabei die repräsentative Umfrage “Grenzenloser Hass im Internet – Dramatische Lage in ganz Europa”, die gemeinsam mit The Landecker Digital Justice Movement erstellt wurde. Die Umfrage ergab unter anderem, dass 50% der jungen Erwachsenen in der EU von Hass im Internet betroffen sind und mehr als 80% der Befragten wünschen sich mehr Schutz der Betroffenen.
Genau dies war auch eine der Forderungen der Petition, die sich laut Brunner erst einmal ganz offen an die EU gerichtet hat. Und jetzt wo der Digital Services Act verabschiedet wurde, verfallen die knapp 30.000 Unterschriften und die Stimmen von prominenten Unterstützer*innen (wie Luisa Neubauer und Renate Künast) natürlich nicht. Brunner: “Zum Start des Trilogs, wenn die verschiedenen EU Institutionen zusammenkommen, planen wir die Petition zu übergeben”, erklärte Brunner. Wenn also die 27 EU-Länder, Kommission und Rat über den endgültigen Text verhandeln, ist die Organisation mit dabei. Denn nicht alle Punkte aus der Petition haben es in den DSA geschafft, daher schauen sie eher mit gemischten Gefühlen auf die “Ohrfeige für Facebook & Co”, wie das ZDF den DSA betitelte.
Wir haben für euch in Brüssel mitgemischt! Jetzt hat das Europäische Parlament seine Position zum #DigitalServicesAct beschlossen. Wir ziehen eine gemischte Bilanz! (1/5) pic.twitter.com/Meu0MZ5GR4
— HateAid (@HateAid) January 21, 2022
Digital Services Act lässt Probleme offen
User*innen, die in sozialen Netzwerken Hass ausgesetzt sind, haben zwar die Möglichkeit diesen der Plattform zu melden. Die Plattform ist allerdings nicht dazu verpflichtete, gemeldete Inhalte auch zu löschen – daran wird der Digital Services Act vorerst nichts ändern. Viele Betroffene machen die Erfahrung, dass die Plattformen meist unzuverlässig handeln. Hass und Hetze wird nicht als solches erkannt und bleibt schließlich in den Kommentarspalten stehen. So kam es in der Vergangenheit häufig zu Fällen, in denen digitaler Hass so hohe Wellen schlug, gegen die am Ende niemand mehr ankam.
Im letzten Jahr traf es die Comedy- und Buch-Autorin Jasmina Kuhnke, die mit ihrer Familie umziehen musste, weil ihre Privatadresse im Internet veröffentlicht wurde – verbunden mit detaillierten Gewaltaufrufen. Die Plattform Twitter, auf dem sich der Hass vor allem abspielte, kam nicht hinterher sensible Daten und Beleidigungen zu löschen. Eine Löschpflicht für gemeldete Inhalte, wird es aber weiterhin nicht geben. Genau das beklagte die Rechtsanwältin Josephine Ballon bei zdf heute: "Insgesamt hätten wir uns einen stärkeren Fokus auf den Schutz vor digitaler Gewalt gewünscht.” Sie ist auch für HateAid tätig. In der Pressemitteilung der Organisation heißt es:
Bedauerlicherweise werden Betroffene digitaler Gewalt weiterhin unter den unrechtmäßigen Entscheidungen der Plattformen leiden. Wenn eine Plattform sich weigert, einen hasserfüllten Kommentar, eine Todesdrohung oder eine Verleumdung zu löschen, haben Betroffene nicht das Recht, sich direkt bei der Plattform zu beschweren. Es lässt Millionen von Nutzer*innen, die von Hatespeech und Desinformation betroffen sind, schutzlos zurück.
Diesen Punkt wird HateAid weiterhin versuchen in Brüssel anzustoßen, sie fordern ganz klar eine Verpflichtung illegale Inhalte zu entfernen, wenn sie gemeldet werden.
Hier gibt’s Hilfe!
Wenn du selbst von digitaler Gewalt betroffen bist oder du jemanden kennst, gibt es Stellen, an die du dich jederzeit wenden kannst:
- Hate Aid: https://hateaid.org
- Hass im Netz: https://www.hass-im-netz.info
- Neue deutsche Medienmacher*innen: https://neuemedienmacher.de/helpdesk/
Außerdem findest du hier Stellen, bei denen du dich intensiv über das Thema informieren kannst:
- LOVE-storm: https://love-storm.de
- klicksafe: https://www.klicksafe.de
- No Hate Speech: https://no-hate-speech.de
Es bleibt abzuwarten, wie der Digital Services Act sich weiterentwickeln wird und in der Lage sein wird, die Rechte von europas Bürger*innen zu schützen. Man rechnet mit einem Inkrafttreten in 2023. Wenn man das in TikTok-Trends umrechnet – ist es eine ganz schön lange Zeit. Aber zumindest bekommt das Thema mehr Aufmerksamkeit, als in den vergangenen Jahren.
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