Eine Vision für die föderalistische Bewegung nach der Erfüllung ihres Traums

Der europäische Bundesstaat - und was dann?

, von  Sara Stachelhaus

Der europäische Bundesstaat - und was dann?
JEFer*innen bei einer „Don’t touch my Schengen“-Demo an der saarländisch-französischen Grenze in 2017. ©JEF Deutschland

Stellt euch vor: Wir schreiben das Jahr 2024. Das meistgegoogelte Wort des Jahres ist „Europäischer Bundesstaat“. Dieser wurde von einem Verfassungskonvent entworfen und – nach überzeugenden Antworten bei der erwähnten Google-Suche – von den nationalen Parlamenten bzw. Volksabstimmungen bestätigt. Dass der Moment reif war, hatte sich zur Überraschung aller bei der Konferenz zur Zukunft Europas gezeigt. Angefangen als strategisches Versprechen im Wahlkampf, hatte die Konferenz, einmal ins Rollen gebracht, Zivilgesellschaft in allen Winkeln Europas eine Stimme gegeben. In Schulen wurde diskutiert, in Rathäusern und in den sozialen Medien. Die verheerenden Folgen von COVID, Brexit und der steigenden Anzahl klimawandelbedingter Naturkatastrophen hatten in kürzester Zeit die politische Vision vieler Europäer*innen gewandelt und die Notwendigkeit eines europäischen Bundesstaats aufgezeigt.

Mit dem Erreichen ihres politischen Ziels haben die Jungen Europäischen Föderalist*innen (JEF) augenscheinlich ihren Zweck erfüllt. Die Jugendorganisation hatte sich seit 1949 durch politische Aktionen und Kampagnen, Bildungsarbeit an Schulen und Jugendaustauschen für ein vereinigtes demokratisches Europa eingesetzt. Sie waren seit über 70 Jahren „a generation ahead“ und stehen nun am Scheideweg. Welche Rolle würde ihnen in diesem neuen europäischen Bundesstaat zukommen?

Zunächst würde der JEF eine wichtige Rolle im Transformationsprozess zu kommen, wie bei der Etablierung einer europäischen Öffentlichkeit. Diese ist ein wichtiger Bestandteil einer europäischen Demokratie, um zu verstehen, welche Themen im Europäischen Parlament besprochen werden, und welche Perspektiven, Sorgen und Wünsche die einzelnen Länder sowie verschiedene Interessensgruppen mit den Themen verbinden. Bisher sind unsere Nachrichten primär national geprägt. So bekommen wir auf Rügen beim Einschalten der 20 Uhr Nachrichten mit, welche Gedanken der*dem bayerischen Minister*in zu der heutigen Debatte im Europäischen Parlament gekommen sind. Was der*die portugiesische Staatschef*in oder die zivilgesellschaftlichen Organisationen in Osteuropa mit derselben Debatte verbinden, das werden wir dort nicht erfahren.

Wenn Europapolitik es in die Nachrichten schafft, dann meistens aus der Perspektive des Heimatlandes. Wir erfahren, wie unsere*r Staatschef*in sich dazu positioniert hat und uns wird das Gefühl des Ärgernisses vermittelt, wenn eine bestimmte Nation nicht den Enthusiasmus unserer nationalen Politiker*innen teilt. Die Hintergründe der anderen Meinung bleiben uns dabei oft verborgen. Dafür gibt es seit einigen Jahren bereits transnationale Medienprojekte wie Euronews oder auch treffpunkteuropa.de, die Geschehnisse aus einer europäischen Perspektive berichten und Beiträge aus verschiedenen Mitgliedsstaaten für andere europäische Interessierte in ihren jeweiligen Sprachen zugänglich machen. Für einen europäischen Bundesstaat wäre es essenziell, dass solche europäischen Medien nicht nur existieren, sondern auch bekannt und zugänglich sind. Hier könnte die JEF mit Aufklärungsarbeit, Interessenvertretung und Medienpartnerschaften ansetzen.

Verteidiger*innen der europäischen Demokratie

Naheliegend wäre es weiterhin, sich als Junge Europäische Föderalist*innen für den Erhalt des Erreichten einzusetzen. Berechtigt ist der Verdacht, dass es in dem europäischen Bundesstaat weiterhin nationalistische Kräfte geben wird, die anstreben, die Föderalisierung der EU rückgängig zu machen oder den Austritt ihres Heimatstaates zu bewirken. Dementsprechend muss sich die JEF noch stärker für Aufklärung, gesellschaftlichen Dialog und europapolitische Bildungsarbeit einsetzen. Mit dem Beginn des neuen politischen Systems ist zu erwarten, dass die Funktionsweise der gemeinsamen europäischen Politik endlich Eingang in die Bildungspläne der Mitgliedsstaaten findet. Durch ihre jahrelange Erfahrung mit europapolitischer Bildungsarbeit kann sich die JEF proaktiv in die Ausgestaltung der Curricula einbringen und während der Überbrückungszeit mit ihren interaktiven Bildungsformaten die Lücke füllen, die sonst schnell von Verschwörungstheorien und „Fake News“ eingenommen werden könnte.

Wird die JEF also zur konservativen Jugendbewegung, bedacht auf den Erhalt der bestehenden Ordnung? Ja und nein. Selbstverständlich werden sich die Jungen Europäischen Föderalist*innen für den Erhalt des europäischen Bundesstaats einsetzen. Dieser Bundesstaat ist zunächst jedoch noch ein leeres Gerüst, welches mit Werten und politischen Projekten gefüllt werden muss. Wie sieht das föderale Europa aus, welches wir wollen? Hier wird es nun spannend. Und gefährlich.

Debatten zur Ausgestaltung europäischer Politik

Spannend, weil die überparteiliche JEF Grundsätze für die Ausgestaltung eines europäischen Bundesstaates in ihren Beschlüssen formuliert hat und diese nun endlich einfordern kann. Man hatte festgelegt, welche europäischen Institutionen es geben sollte, für was diese jeweils zuständig seien und wie sie miteinander arbeiten. Beschlüsse forderten die Ausgestaltung verschiedener Politikbereiche auf europäischer Ebene und skizzierten, wie dies geschehen sollte.

Gefährlich jedoch, weil die überparteiliche föderalistische Bewegung bei der tatsächlichen Umsetzung eines europäischen Bundesstaates in ihre politischen Bestandteile zerfallen könnte. Einig war man sich 2015 über Parteiengrenzen hinweg, dass die Migrationspolitik „europäisch“ und „solidarisch“ sein müsste. Jetzt, wo ein europäischer Bundesstaat eine europäische Migrationspolitik verfolgen wird, geht es um die Frage, wie diese gemeinsame Politik aussehen soll. Ein europäisches Einwanderungssystem nach kanadischem Vorbild, mit einer festgelegten Anzahl an Migrant*innen? Ab wie vielen Jahren und unter welchen Bedingungen kann man die europäische Staatsbürgerschaft erhalten?

Es wäre fatal, wenn europäische Föderalist*innen ihr politisches Engagement gänzlich einstellen würden, in dem Glauben, ihr Ziel sei erreicht. Sowohl in der Transformation als auch in der Erhaltung eines europäischen Bundesstaats wäre die Arbeit und die jahrzehntelange Erfahrung dieser Europäer*innen, wie z.B. im Jugendaustausch, essenziell. Da Föderalismus auf dem Subsidiaritätsprinzip beruht bzw. beruhen sollte, wäre auch hier das scharfe Auge der europäischen Zivilgesellschaft gefragt. Subsidiaritätsprinzip bedeutet, dass die Kompetenz für ein Politikfeld auf der untersten Ebene, die eine effiziente und sinnvolle Bewältigung gewährleisten kann, stattfinden soll. In den Augen vieler nationalstaatlich sozialisierter Politiker*innen wird dies noch lange Zeit ihre jeweilige Länderebene bleiben. Eine europäische Zivilgesellschaft muss dies hinterfragen und die Argumente liefern, warum bestimmte Aufgaben besser europäisch gelöst werden können. Gleichzeitig wäre die JEF nach der Etablierung eines europäischen Bundesstaates auch stärker gefragt, den Gedanken des europäischen Föderalismus zu schützen, und bestimmte Kompetenzen auf Länderebene zu halten.

Alles in einem bietet die JEF eine für diese neue europäische Demokratie wichtige Plattform, auf der Menschen über die Parteigrenzen hinweg eine respektvolle, wenn gleich kontroverse, Diskussion führen können. Sobald unsere Politik stärker europäisch wird, wird auch mehr politischer Austausch über Ländergrenzen hinweg stattfinden. Hier ist die JEF mit ihrem europäischen Netzwerk und ihren Sektionen in mehr als 30 europäischen Ländern gut aufgestellt.

Europäischer Föderalismus? Globaler Föderalismus!

Außerdem stimmt es nicht, dass das Ziel der europäischen Föderalist*innen abschließend erreicht sei. Europäischer Föderalismus, nach dem Verständnis seiner Vordenker*innen wie Altiero Spinelli und seinen derzeitigen Vertreter*innen wie der JEF, steht für das Versprechen, sich dafür einzusetzen, dass Europa in unserem Verständnis von Staat und Nation nicht das wird, was einst die einzelnen europäischen Nationalstaaten waren. Denn: Viele Probleme, die europäisch besser gelöst wären als national, wären noch besser global gelöst. Mit der politischen Integration einzelner Kontinente wäre es der nächste Schritt, die Vereinten Nationen zu reformieren und dort die internationale Kooperation in Bereichen wie Abrüstung und Bekämpfung des Klimawandels stärker anzuziehen und durch neue Anreize und Sanktionen verbindlicher zu machen. Der sogenannte Weltföderalismus strebt wie der europäische Föderalismus eine handlungsfähige föderale Regierung mit dem Ziel der Friedenssicherung an. Wie beim europäischen Föderalismus sollten nur Politikfelder auf den höheren Ebenen geregelt werden, wenn sie auf den unteren Ebenen nicht genauso oder besser geregelt werden können. Dies wären, aufgrund der gesteigerten Distanz zu den einzelnen Bürger*innen, sicherlich weniger Kompetenzen als wir sie als europäische Föderalist*innen für die europäische Ebene anvisieren. Dennoch wäre sie die geeignete Ebene, um globale Ungerechtigkeiten zu adressieren und an einem Planeten zu arbeiten, der flächendeckend lebenswert für seine Bewohner*innen ist.

Dies sollte die neue Generation von Jungen Europäischen Föderalist*innen des europäischen Bundesstaats bedenken und in ihre Arbeit integrieren. Ihre Arbeit der letzten 70 Jahre, in der sie, anfangs als Utopist*innen bezeichnet, auf die Transformation hingearbeitet haben, könnte ihnen den Weg weisen. Wie dieses Gedankenexperiment zeigt, wäre die Erreichung ihres Ziels, eines europäischen Bundesstaats, nicht nur Anlass zu feiern, sondern auch Anlass, sich schnell an die neuen Möglichkeiten und Aufgaben dieser Zeit anzupassen. Hier wird Vision, Kreativität und Proaktivität gefragt sein – Fähigkeiten, die die europäische Jugend wiederholt bewiesen hat.

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