Deutsche Ratspräsidentschaften in der Geschichte: Treibende Kraft für Europa und die deutsch-französische Zusammenarbeit

, von  Magdalena Pistorius

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Deutsche Ratspräsidentschaften in der Geschichte: Treibende Kraft für Europa und die deutsch-französische Zusammenarbeit
Emmanuel Macron und Angela Merkel - in Corona-Zeiten auch im Europäischen Rat mit Sicherheitsabstand. Foto: Flickr | German Presidency of the Council of the EU 2020 / CC BY-NC 2.0

Am 1. Juli 2020 hat Deutschland zum 13. Mal die Präsidentschaft im Rat der EU angetreten. Wie vor einigen Jahrzehnten schon einmal geht die Verantwortung mit einer fundamentalen Krise einher. Einmal mehr muss Deutschland nun seine Ambitionen für das europäische Projekt unter Beweis stellen. Eine Aufgabe, deren Erfolg damals wie heute maßgeblich von der deutsch-französischen Zusammenarbeit abhängt. Ein Überblick.

„Europa macht eine schwere Belastungsprobe durch. Es steht vor einer neuen Situation, die seine Schwächen und seine Abhängigkeit grell ins Licht rückt, gleichzeitig aber auch die Notwendigkeit seiner Einheit überdeutlich macht. Diese Belastungsprobe trifft Europa inmitten einer Krise: einer Krise des Vertrauens, einer Krise des Willens und einer Krise des klaren Verstandes.

Diese Situation schafft eine solche Gefahr, daß die Kommission sich feierlich an die Staats- bzw. Regierungschefs und über sie an alle Bürger unserer Länder wenden muß, damit unsere Staaten durch ihr Handeln ihre Entscheidung für Europa bekräftigen und in einer wirklich gemeinsamen Aktion die Antwort auf die neue Herausforderung suchen."

Diese Worte mögen bekannt vorkommen. Die Europäische Union steckt tief in einer ihrer größten Krisen – gesundheitspolitisch, wirtschaftlich, aber auch moralisch, denn Euroskeptizismus und Fehlinformation schwelen seit Jahren. Neu ist das nicht: Tatsächlich stammen die einleitenden Phrasen aus der „Erklärung der Kommission zur Lage der Gemeinschaft" von 1974.

Ein Jahr zuvor war Europa mit dem Rest der Welt in die Ölkrise geschlittert – mit Folgen, unter denen einige jener der Covid-19-Pandemie ähneln, darunter ein Trend zu Renationalisierung und generellem Misstrauen. Eine weitere Parallele zwischen damals und heute? Wie vor 47 Jahren auch ist es an Deutschland, unmittelbar nach dem Eintreffen der Krise die Präsidentschaft im Rat der EU zu übernehmen - und wie im ersten Halbjahr 1974 den gemeinsamen Ausweg aus der „Belastungsprobe" zu konzertieren.

So erstaunt es nicht weiter, dass die diplomatischen Bemühungen Angela Merkels maßgeblich waren, um der jüngsten Sitzung des Europäischen Rates – die mit 91 Stunden zweitlängste der Geschichte – zu einem erfolgreichen Abschluss zu verhelfen. Auch wenn sich seit 1974 vieles verändert hat: Neun Mitglieder zählte die Europäische Gemeinschaft Anfang der 70er – den Gründer*innenkern um Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg sowie die erst 1973 beigetretenen Staaten Dänemark, Großbritannien und Irland. Mit heute 27 Staaten hat sich die EU nach Süden, Norden und Osten ausgeweitet. Unter allen Partner*innen einen Konsens zu finden, ist mehr denn je eine Sisyphos-Aufgabe.

Deutsche Ratspräsidentschaften in der Geschichte: Zwischen Treibkraft und Krisenmanagement

Immerhin: Bisher hat sich Deutschland als Ratsvorsitzender oft als treibende Kraft für Europa erwiesen. Während seiner ersten Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte von 1958 beschlossen die Mitglieder der damals noch blutjungen Europäischen Gemeinschaften, einer Vorgängerin der heutigen EU, die Grundlagen der Gemeinsamen Agrarpolitik, bis heute eines der bedeutendsten Politikfelder der EU und kostenschwerster Punkt des gemeinsamen Budgets.

1964 trieb Deutschland im Zuge seiner damaligen Präsidentschaft eine Initiative zu vermehrter zwischenstaatlicher Zusammenarbeit in den Bereichen Außen- und Verteidigungspolitik an und plädierte für eine europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik. In den folgenden Perioden des Ratsvorsitzes setzte Deutschland sich immer wieder für mehr außenpolitische Zusammenarbeit und den Abbau von Wettbewerbsschranken unter Mitgliedsstaaten ein. Und der Ölkrise von 1973 folgte die Ambition, den mühsam erreichten Stand der europäischen Integration aufrecht zu erhalten. In den 70er und 80er Jahren forcierte Deutschland dann als vorsitzendes Land das Ziel eines europäischen Währungsraums, bevor es sich in den 90er Jahren seinen östlichen Nachbarn zuwandte und als treibende Kraft hinter der 2004 erfolgten Osterweiterung erwies.

Wettbewerbsfähigkeit, Energiepolitik, Klimaschutz – diese Punkte standen schließlich bei der letzten deutschen Ratspräsidentschaft unter Angela Merkel im Jahre 2007 auf der Agenda. Anlässlich der 13. deutschen Präsidentschaft des Europäischen Rates sollte es 2020 um die Digitalisierung gehen – und mehr denn je um den grünen Wandel.

Durchbruch in der Krise: Der Mehrjährige Finanzrahmen und Next Generation EU

Diesen Plan hat die Covid-19-Pandemie ordentlich durcheinander gebracht - als ob es nicht genug wäre, Brexit- und Haushaltsverhandlungen bis zum Ende des Jahres unter Dach und Fach zu bringen und nebenbei den europäischen Green Deal voranzutreiben. Nun soll Deutschland Impulse geben, um die europäische Wirtschaft aus ihrer schlimmsten Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu führen.

Mit dem erfolgreichen Abschluss der Sitzung des Europäischen Rates vom 18. bis 21. Juli 2020 ist die erste Weiche gestellt: Das Budget der EU für die kommenden sieben Jahre, der sogenannte Mehrjährige Finanzrahmen, ist von den europäischen Staats- und Regierungschef*innen abgesegnet. Der erste Haushaltsvorschlag der Europäischen Kommission war schon im Mai 2018 eingegangen. Im Februar 2020 kamen Staats- und Regierungschef*innen im Europäischen Rat zusammen, um sich auf das Budget zu einigen – der Versuch scheiterte allerdings an den Widerständen der „Sparsamen Vier" bestehend aus den Niederlanden, Österreich, Schweden und Dänemark. Bis Ende des Jahres muss nun auch das Europäische Parlament dem überarbeiteten Vorschlag zustimmen, damit das Geld 2021 und damit pünktlich zur neuen Haushaltsperiode fließen kann.

Und ein Finanzpaket in Höhe von 750 Milliarden Euro zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft ist unter dem Titel „Next Generation EU“ ebenfalls in der Tüte. Gemeinsam wollen die EU-Mitgliedsstaaten damit die wirtschaftliche Erholung Europas, Recherche und Gesundheitspolitik vorantreiben. Das Paket geht mit der Aufnahme von gemeinsamen Schulden im Namen der EU einher. Eine wichtige Nachricht, nachdem die EU während der Krise, wie in den letzten Jahren schon so oft, am Rande des Zerfalls zu stehen schien. Auch wenn die gemeinsame Lösung leider hinter vielen Erwartungen zurückbleibt und noch vom deutlich ambitionierteren EU-Parlament abgesegnet werden muss.

Deutschland und Frankreich: Motoren Europas

Die im Europäischen Rat benötigte Einstimmigkeit aller 27 Mitglieder ist allerdings nicht allein dem beherzten Einsatz Angela Merkels zu verdanke, sondern ebenso der Kompromissbereitschaft aller Beteiligten - und der deutsch-französischen Verständigung. Wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach dem Gipfel in einer Pressekonferenz verlauten ließ: „Wenn Deutschland und Frankreich sich zusammenschließen, ist nicht alles möglich, aber wenn sie sich nicht zusammenschließen, ist gar nichts möglich.“

Wahre Worte. Nicht umsonst gelten Deutschland und Frankreich oft als „Motor„der EU. Einst verbitterte Gegner – drei Kriege kämpften Deutsche und Franzosen bis 1945, innerhalb von nur 75 Jahren – setzten die beiden Länder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf wirtschaftliche Zusammenarbeit, um für anhaltenden Frieden zu sorgen. Der respektvollen, aber distanzierten Kooperation der Anfangsjahre der Europäischen Gemeinschaft entsprang mit dem Elysée-Vertrag von 1963 eine beispiellose Freundschaft. Und mit der Wahl des deutschen Kanzlers Helmut Schmidt und des französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing im Jahre 1974 – pünktlich zur „Belastungsprobe“ der Ölkrise und zum deutschen und anschließend französischen Vorsitz des Europäischen Rates im selben Jahr – wurde diese Freundschaft zur innigen Partnerschaft.

Die Zusammenarbeit der beiden Staatsoberhäupter ist als „Goldenes Zeitalter der deutsch-französischen Verständigung" in die Geschichte eingegangen. Ebenso wie die Kooperation zwischen ihren Nachfolgern François Mitterrand und Helmut Kohl – deren Auftreten Hand in Hand vor der Gedenkstätte in Douaumont 1984 legendär geblieben ist. Zwar verliefen die Beziehungen der folgenden Paare an den deutsch-französischen Regierungsspitzen wieder deutlich kühler. Aber bei großen politischen Themen ging an einer Einigung Deutschlands und Frankreichs historisch kaum ein Weg vorbei.

Ein „historischer" Durchbruch – mal wieder!

Grund dafür ist das Prinzip der qualifizierten Mehrheit bei Beschlussfassungen im Rat der Europäischen Union. Mit dem Europäischen Parlament ist der Rat eine der beiden EU-Legislativen, die die Vorschläge der Europäischen Kommission und die Leitlinien des Europäischen Rates in rechtsgültige Form gießen. Um zu einer Einigung zu kommen, müssen 55 Prozent der Mitgliedsstaaten (im Moment also 15 von 27) einem Vorschlag zustimmen. Das genügt aber nicht: Angesichts der großen demographischen Unterschiede innerhalb der EU müssen diese 15 Mitgliedsstaaten auch 65 Prozent der europäischen Gesamtbevölkerung repräsentieren. Als einwohnerreichste Staaten der EU vereinen Deutschland und Frankreich ein Drittel der europäischen Bevölkerung. Gemeinsam bilden sie in der EU ein politisches Schwergewicht – getrennt allerdings machen sie eine Mehrheitsbildung beinahe unmöglich.

Und da Europäischer Rat (die Staats- und Regierungschef*innen) und Rat der Europäischen Union (je nach Thema die jeweils 27 nationalen Minister*innen) sich als Repräsentant*innen nationaler Interessen zwingend nahestehen, ist eine deutsch-französische Einigung an höchster Stelle beinahe unumgänglich. So also auch beim jüngsten EU-Gipfel. Die von Emmanuel Macron als „historisch„gefeierte Übereinkunft der EU-Spitzen zu einem gemeinsamen Finanzpaket zur Überwindung der Krise in Höhe von 750 Milliarden Euro und dem nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen ging eine unerwartete Einigung zwischen Deutschland und Frankreich voraus: Am 18. Mai veröffentlichten die beiden Länder die „Deutsch-französische Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Coronakrise“, in der Deutschland überraschend dem Prinzip gemeinsamer europäischer Schulden zustimmte.

Auch wenn der ambitionierte Vorschlag von 500 Milliarden Euro an Direktzuschüssen beim EU-Gipfel auf 390 Milliarden Euro reduziert wurde, war die deutsch-französische Einigung für diese Ratssitzung von großer Schubkraft. Wie treffend für die schon 1974 formulierte Notwendigkeit, „in einer wirklich gemeinsamen Aktion die Antwort auf die neue Herausforderung [zu] suchen"! Langwierigen Diskussionen und hartnäckigen Widerständen zum Trotz haben die europäischen Staats- und Regierungschef*innen sich einmal mehr auf eine solche gemeinsame Aktion geeinigt (wenn auch leider zu Kosten genereller Modernisierung und zukunftsträchtiger Themen wie dem Klimaschutz).

Trotz seiner Mängel ist dieser Konsens ein Abkommen, das Hoffnung für unser krisengebeuteltes Europa macht. Es ist bezeichnend für die Geschichte der EU, die dem Willen nach Frieden und Verständigung entsprungen ist, aber oft gerade in kritischen Zeiten einen bedeutenden Schritt nach vorne gewagt hat. Und ein Symbol dafür, dass der deutsch-französische „Motor" in Krisenzeiten weiter anspringt – auch wenn es zwischendurch einigen Stotterns bedarf.

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