„Flüchtlinge“ wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2015 gekürt. Na dann, Prost! Was nun wirklich nicht sehr überraschend kam, sollte dennoch nachdenklich stimmen. Denn, dass Menschen in Deutschland und Europa Schutz und ein besseres Leben suchen, ist nichts Neues. Migration und Flucht hat menschliches Leben länger bestimmt als Sesshaftigkeit und staatliche Ordnung. Auch die große Zahl der innerhalb kurzer Zeit ankommenden Menschen ist keine Erfindung des Jahres 2015. Man muss nicht erst zu den großen Kriegen des 20. und früherer Jahrhunderte zurückdenken. Man muss auch nicht den Blick bis an die Nachbarländer der Europäischen Union oder auf den afrikanischen Kontinent streifen lassen. Bereits das seit Jahren sich abspielende mediterrane Todesdrama, aber auch die Balkankriege Anfang der 90er Jahre relativieren, was Politiker aller Couleur als Herausforderung, ja gar als „größte Herausforderung der EU-Geschichte“ (Steinmeier) bezeichnen. Die Medien sprechen seit Monaten über kaum etwas anderes. Streit in der deutschen Regierungskoalition und im Europäischen Rat. Viel Hilfsbereitschaft aller Orten, aber auch Demonstrationen von „besorgten Bürgern“, deren Unterscheidung von Neonazis immer schwerer fällt, sowie eine erschreckend große Zahl an ekelhaften Gewaltakten gegen für Flüchtlinge bestimmte Wohnstätten.
Historisch betrachtet ist die Flüchtlingskrise keine. Und dennoch steht das Jahr 2015 in Europa, insbesondere in Deutschland, im Lichte dieser Krise. Warum? Die gewaltige logistische Herausforderung ist das eine. Noch mehr aber stellt sich die Frage nach dem intellektuellen Umgang mit den Ankommenden. Dabei ist noch gar nicht das „Wie“ von Integration gemeint, sondern viel grundsätzlicher das „Ob“. Sollen wir das Fremde bei uns zulassen? Können wir riskieren, dass unsere Geschichte, Erfahrungen, Werte, Bräuche, und Religion – kurz unsere Identität – durch diese massenhafte und abrupte Zuwanderung gefährdet werden? Müssen wir nicht bei allem Verständnis für humanitäre Not und menschliches Leid das Europäische an Europa und das Deutsche an Deutschland verteidigen? Doch, das müssen wir. Jedoch nicht, wie PEGIDA, AfD, NPD und ähnliche politische Ungetüme sich dies vorstellen. Verteidigung heißt hier in erster Linie eine Rückbesinnung auf den Kern dessen, was viele gerne als „europäische Identität“ bezeichnen. Und dies ist vor allem eine intellektuelle Herausforderung.
Die Flüchtlingskrise ist vor allem eine intellektuelle Herausforderung
Es soll nun nicht darum gehen, die „logistische“ Aufgabe kleinzureden, die die Erstversorgung, Registrierung und Unterbringung von Ankommenden zweifelsohne darstellt. Gerade auf Gemeindeebene sind Verwaltungen und Zivilgesellschaft unter enormem Handlungsdruck. Doch die intellektuelle Dimension ist die langfristig entscheidendere. Für den Soziologen Zygmunt Bauman ist Auschwitz eine Möglichkeit der Moderne, die durch das Zusammentreffen einer menschenverachtenden Ideologie (Antisemitismus) und den Bedingungen einer modernen Bürokratie begünstigt wurde. Dieser Gedanke sollte uns eine Warnung sein. Europa darf heute nicht den Fehler machen, Flüchtlinge auf eine zu organisierende Masse zu reduzieren. Wer dies tut, negiert das Individuum und überlässt der reflexhaften Fremdenfeindlichkeit das Feld. Stattdessen geht es neben allen logistisch-praktischen Fragen darum, sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen, die intellektuelle Debatte um unsere und deren Werte und um die richtigen politischen Antworten auf die Flüchtlingskrise zu führen. Die Ereignisse in der Silvesternacht, vor allem aber die hierauf folgende öffentliche Debatte, zeigen, wie sehr eine solche, tiefgreifende Auseinandersetzung Not tut.
An dieser Stelle die Auschwitzkeule zu schwingen, mag manchen erschrecken. Gut so! Es ist eine sehr bewusste Provokation moralischer Erzürnung. Nur wer jetzt wirklich wütend ist, hat das Krisenhafte der Flüchtlingskrise begriffen. Auschwitz und seine historische Denkbarkeit gehören zu Europas Geschichte. Da kann man sich nicht wegducken. Damals haben unsere Werte und unsere Kultur versagt. Der Umgang mit den Flüchtlingen ist der Lackmustest dafür, ob Europa aus seiner Geschichte gelernt hat.
Identitätskonstruktionen: Zwischen Ordnung und Chaos
Eine jedwede Debatte von großer Tragweite bedarf gedanklicher Vorarbeit. Ein hilfreicher Startpunkt ist die Frage danach, was an der konzeptuellen Basis der Begriffe „Identität“ und des „Fremden“ steht. Hier hilft ein fundamentales Begriffspaar: Ordnung und Chaos. Bei der Wahrnehmung und Formulierung von Identitäten steht die Herstellung von Ordnung im Zentrum. Eine gemeinsame Geschichte, Erfahrungen, Werte, Bräuche, und Religion werden betont, um aus den in Vielzahl existierenden Geschichten, Erfahrungen, Werten, Bräuchen und Religionen ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu destillieren. Es ist die Betonung eines Spezifischen inmitten des Unspezifischen. Der Versuch, Ordnung dort herzustellen, wo Komplexität und Chaos herrschen. Identitätskonstruktionen versuchen, das Chaos menschlichen Zusammenlebens einzufangen, es zu beherrschen. Sie sind deshalb ein wesentliches Element von menschlichen Gemeinschaften und politischen Strukturen.
Doch während Identitätskonstruktionen sich um Ordnung bemühen, ist das Chaos nicht verschwunden. Es ist nur mehr oder weniger erfolgreich auf Distanz gehalten. Störend wird es dann, wenn es als Fremdes Einfluss auf die Ordnung nimmt. So jedenfalls nehmen diejenigen das Fremde war, die mit grellen Parolen das europäische Abendland verteidigen. Doch liegen sie einem fatalen Trugschluss auf.
Der Begriff von Ordnung macht ohne den Begriff von Chaos keinen Sinn. Ordnung ist nur da, wo Chaos in den Hintergrund rückt. Und Chaos ist nur da, wo Ordnung sich nicht allzu laut artikuliert. Anders ausgedrückt: Auch wenn Ordnung herrscht, ist da noch das Chaos, das die Ordnung zu ordnen sucht. Und auch, wenn Chaos dominiert, ist dies vor allem Ausdruck einer schwachen Ordnung, denn ganz ungeordnet ist selbst das chaotischste Chaos nicht. Die beiden Begriffe sind jeweils das, was der andere nicht ist und gehören damit unweigerlich zusammen. Dies gilt gleichermaßen für Identitätskonstruktionen und das Fremde. Ohne den Referenzpunkt des Fremden ist Gemeinschaft ein hohles Konstrukt. Gemeinschaft entsteht gegen und mit dem Fremden, aber niemals ohne es. Wenn Flüchtlinge und Migranten also scheinbar die bestehende Ordnung, die Gemeinschaft, in Frage stellen, dann ist dies nichts Gefährliches, sondern schlicht natürlich. Noch mehr, es ist eine Chance.
Das Fundament Europas: In Vielfalt geeint
Das Begriffspaar von Ordnung und Chaos leistet einem verwandten Begriffspaar Vorschub: Einheit und Vielfalt. Auch hier gilt, dass ohne den Begriff von Vielfalt keine Einheit denkbar ist, und umgekehrt. Europa und der europäische Einigungsprozess sind das beste Beispiel. Von Anfang an ist Europa der Versuch, einen chaotischen Haufen aus unterschiedlichen Nationalstaaten mit unterschiedlichen Sprachen, politischen Systemen, Werten, Konfessionen, Wirtschaftssystemen und Fußballigen zu integrieren. Die ordnungspolitische Vormachtstellung des Nationalstaats und nationaler nichtstaatlicher Strukturen wurde bewusst in Frage gestellt. Und wenn man etwas weiter zurückdenkt, dann ist auch der deutsche Nationalstaat ein ganz ähnlich gestrickter Fall, bei dem Vielfalt und Einheit sich zu ergänzen suchten.
Und so hilft der Rekurs auf Ordnung und Chaos letztlich dabei, das eigentliche Grundfundament Europas zu fassen: die Versöhnung von Einheit und Vielfalt. „In Vielfalt geeint“. Kürzer und prägnanter geht nicht, um den großen und edlen Anspruch auszudrücken, den Europa im Herzen trägt. Letztlich ist es Europa in die Wiege gelegt, sich ständig neu zu definieren.
Die Flüchtlingskrise als Chance
Was bedeutet das für den Umgang mit Flüchtlingen? Der Anspruch muss sein, sie, ihre Geschichte, Erfahrungen, Werte, Bräuche, und Religion, als Teil dieser Vielfalt zu begreifen, als Teil derjenigen Vielfalt, die an der Basis unserer Einheit ist. Dies gelingt nur durch eine offene, ehrliche, aber eben auch wohlwollende Auseinandersetzung. Durch eine Kultur der Offenheit und Toleranz. Und es geht um mehr als das. Auschwitz und der radikale Antisemitismus, der Juden, insbesondere wegen ihrer nationale Grenzen überwindenden Identität und wegen ihrer gesellschaftlichen Assimilation, als die soziale Ordnung gefährdende Elemente zu bekämpfen suchte, waren krampfhafte Versuche, dort Ordnung und Abgrenzung herzustellen, wo Grenzen am Verschwinden waren. Heute muss es darum gehen, reflexhafte Fremdenangst und Abschottung zu bekämpfen, um Grenzen nicht erneut das Feld zu überlassen. Ein aktiver Umgang mit den Ankommenden ist nötig, der das Fremde als Bereicherung versteht. Nur so kann Integration besser gelingen als während den Migrationswellen im 20. Jahrhundert.
Letztlich hilft die Flüchtlingskrise sogar dabei, überkommene Ordnungen in Frage zu stellen, uns zu einer Debatte über unser politisches Handeln zu zwingen und damit Europa einmal mehr neu zu definieren. Diese Debatte muss transparent und ehrlich geführt werden, darf aber dabei nicht die Werte vergessen, die an der Basis sind: Vielfalt als Fundament von Einheit. Das bedeutet auch Offenheit und Toleranz. Eine auf dieser Basis geführte Debatte muss den Rechtspopulisten, die gerade vor dem Hintergrund von Terroranschlägen in Europa Aufwind haben, Einhalt gebieten. Dazu gehört es auch, gefährliche Zeichen zu erkennen, wie etwa die völlig unreflektierte, massenhafte Nutzung eines nationalstaatlichen Symbols auf Facebook-Profilbildern, während der Präsident dieses Landes gerade seinen Rechtsstaat zusammenstampft und einen mindestens fragwürdigen Militäreinsatz im Nahen Osten forciert.
Europäische Solidarität muss erstritten werden, damit die logistischen Herausforderungen im Umgang mit den Flüchtlingen gemeistert werden können – wobei diejenigen, die jetzt Solidarität einfordern, nicht vergessen sollten, wie sie vor wenigen Jahren auf Hilferufe aus Südeuropa reagierten. Die Bestimmungen rund um Erwerbsmöglichkeiten für Asylsuchende müssen überprüft werden. Und schließlich muss die zu führende Debatte auch die europäische Außenpolitik umfassen, die eine Mitverantwortung an Flucht trägt. Die Handelspolitiken rund um Agrargüter und Waffen sind nur zwei Beispiele, wo viel Spielraum herrscht, damit die Welt außerhalb der europäischen Grenzen etwas gerechter und weniger gefährlich werde.
Am Umgang mit den Ankommenden und der Debatte im Zuge der Flüchtlingskrise wird sich zeigen, ob Europa in seinem Wesen – in Vielfalt geeint – bestehen wird und ob Europa etwas bleibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt.
Veranstaltungshinweis: Das Parlamentarische Europaforum am Mittwoch, den 16. März 2016, im Jakob-Kaiser-Haus in Berlin
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