„Die Grenze erscheint nicht mehr glaubwürdig“

Interview mit Fabrice Leggeri, Direktor von Frontex

, von  Le Taurillon en Seine, übersetzt von Leonie Charlotte Wagner

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„Die Grenze erscheint nicht mehr glaubwürdig“
Fotos: Frontex, Bearbeitung: Anja Meunier

In der Eurosphäre ist seine Arbeit momentan wahrscheinlich am wenigsten beneidenswert. Seit dem 16. Januar 2015 ist Fabrice Leggeri Direktor von Frontex, der Agentur der Europäischen Kommission für den Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union. Die Arbeit von Frontex steht im Spannungsfeld zwischen den nördlichen Staaten, die immer mehr Sicherheit wünschen, den südlichen, die sich um ihre Souveränität sorgen, einem Teil der Öffentlichkeit, der sich überrannt fühlt und einem anderen Teil, für den Frontex den Freilichtfriedhof zu verantworten hat, zu dem das Mittelmeer geworden ist. Fabrice Leggeri nahm ein Skype-Interview an. Aus einem Wolkenkratzer in Warschau antwortete uns eine weiche und ruhige Stimme.

Le Taurillon: Herr Leggeri, was bedeutet es Direktor von Frontex zu sein? Beschreiben Sie uns Ihre Arbeit und den Auftrag der Agentur.

F.L. - Frontex wurde vor 10 Jahren, im Jahr 2005 gegründet. Wir unterstützen die Mitgliedstaaten bei der Verwaltung des Schengen-Raums. Daher sind unsere Missionen hauptsächlich Koordinierungsaufgaben, die der Umsetzung des Schengener Grenzkodex dienen. Als Teil der Operation Poseidon haben wir 470 Grenzschutzbeamte in Griechenland. Es gibt auch eine Niederlassung in Italien, die Operation Triton. Unsere zweite Mission ist eine Risikoanalyse. Unser neues Standortzentrum liefert ein Echtzeitbild der Situation an den Außengrenzen. Wir haben auch eine Trainingsmission: Wir verbreiten bewährte Praktiken, damit die verschiedenen Grenzschutzdienste in Europa interoperabel sind. Frontex verfügt über eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung, die darüber nachdenkt, wie man die Grenze von morgen verwalten könnte. Wir haben aber auch eine beratende Funktion für die Europäische Kommission in der Migrationspolitik. Des weiteren sind wir an der Rückkehr (der Ausweisung illegaler Einwanderer, Anm. d. R.) beteiligt. Dieser Aufgabenbereich soll weiter ausgebaut werden und befindet sich derzeit in der Entwicklung. Die Idee ist, von Frontex logistisch organisierte Flüge einzurichten, um Kosten zu begrenzen. Wir müssen also auch identifizieren können; und in der Lage sein, den Weg des Migranten zu verfolgen, um herauszufinden, ob er oder sie legal ist oder nicht.

„In Griechenland habe ich die Behörden zu den Push-Backs befragt. Anscheinend sind sie nicht das Ergebnis einer bewussten Politik, sondern individueller Fehler.“

Sie haben gerade die Forschungs- und Entwicklungsfunktion von Frontex erwähnt. Derzeit gibt es eine Initiative der Kommission, die sich „smart border“ nennt. Was ist eine Smart Border?

Es handelt sich um ein von der Kommission, in Form einer Verordnung vorgelegten Projekts (europäisches Recht, das direkt auf die Mitgliedstaaten Anwendung findet, Anm. d. R.). Das Prinzip ist, dass alle Personen, welche die Grenze überschreiten, registriert werden sollten. Ursprünglich war die Idee, die Aufenthaltsdaten zu überprüfen. Wir überprüfen das Einreisedatum, die Dauer des legalen Aufenthalts und wenn wir nach Ablauf der Aufenthaltsdauer keinen Ausgang registrieren, gibt es ein Problem. Von dieser ursprünglichen Idee sind wir zu der Idee einer Registrierung übergegangen, die auch Bürger*innen der Europäischen Union und nicht nur Migranten betrifft. Natürlich ist dieses Projekt als Reaktion auf die Bombenanschläge in Paris entstanden.

Frontex wird von NGOs regelmäßig der Push-Backs beschuldigt, d.h. der Ablehnung von Migrantinnen auf See, ohne ihren Asylantrag zu prüfen. Im vergangenen November hat die Zeitung Le Monde Sie beschuldigt, die fremdenfeindliche Politik Ungarns zu unterstützen. Wie reagieren Sie auf Kritik?

Was die Push-Backs betrifft, so war Frontex nicht beteiligt. Hier sind die griechischen Behörden betroffen und nicht Frontex. Was Ungarn betrifft, besteht die Rolle von Frontex nicht darin, die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten zu ersetzen. Dafür kann aber der Exekutivdirektor beschließen, die Zusammenarbeit mit einem der Mitgliedsstaaten einzustellen. In Griechenland habe ich die Behörden zu den Push-Backs befragt. Anscheinend sind sie nicht das Ergebnis einer bewussten Politik, sondern individueller Fehler. Sie erfordern individuelle Sanktionen, nicht Sanktionen gegen den gesamten griechischen Staat. Grundrechte gehören zu den Themen, die wir genau verfolgen.

„Frontex kann der geeignete Arm sein, um die Mitgliedstaaten zu koordinieren, aber auch um Maßnahmen anzugeben, die umgesetzt werden sollen.“

Es stand im Raum, die Zahl der Frontex-Agenten zu erhöhen. Bewegen wir uns auf eine Polizei an den europäischen Grenzen zu?

Das Schengen-System erfordert einen integrierten Schutz der Außengrenzen. In diesem Zusammenhang müssen wir in Begriffen denken, die denen des Föderalismus ähnlich sind. Frontex kann das geeignete Mittel sein, um die Mitgliedstaaten zu koordinieren, aber auch um Maßnahmen anzugeben, die umgesetzt werden sollen. In der Tat bewegen wir uns auf eine Stärkung der Befugnisse der Agentur zu.

„Mit diesen Anschlägen zahlen wir in gewisser Weise für die angeborenen Schwächen des Schengen-Systems.“

Das heißt?

Die Kommission schlägt zwei Dinge vor. Erstens, eine Erhöhung der operativen und monetären Ressourcen und zweitens die Befugnis von Frontex, den Mitgliedstaaten bestimmte Entscheidungen aufzuzwingen. All dies wird bereits diskutiert und sollte in diesem Jahr verhandelt werden (Anm. d. Red.: 2016).

Und niemand beschwert sich?

Doch, natürlich, das bringt Zähneknirschen mit sich. Einige Staaten werfen die Frage der Souveränität auf. Frankreich und Deutschland aber unterstützen das Projekt.

Frankreich wurde gerade von einem der schlimmsten Anschläge seiner Geschichte getroffen. Was ist die Antwort von Frontex?

Zurzeit hat Frontex keinen Zugang zu den Schengen-Datenbanken. Frontex hat auch keinen Zugang zur Datenbank der von Europol (polizeiliche Zusammenarbeit in Europa) verwalteten gestohlenen und verlorenen Gegenstände. Mit diesen Anschlägen zahlen wir in gewisser Weise für die angeborenen Schwächen des Schengen-Systems. Nach den Ereignissen forderte der Rat die Mitgliedstaaten auf, alle Ausländer, die die Außengrenze der Union überschreiten, zu registrieren. Was die europäischen Bürger betrifft, so war es vorerst die Regel, dass die Behörden nicht das Recht hatten, 100% der Reisenden an der Grenze zu kontrollieren. Es war notwendig, mit einer Umfrage fortzufahren. Die Kommission schlägt vor, dies weiterzuentwickeln. Sie möchte eine systematische Kontrolle der Schengener Akte einrichten, auch für europäische Staatsangehörige.

Abschließend ein Wort zu Ihnen: Sind Sie ein Superpolizist oder ein Arbeiter für Europa?

Ich bin ein Arbeiter Europas, der auf den Schutz seiner Grenzen spezialisiert ist. Die Misserfolge und Erfolge von Frontex haben Auswirkungen auf die europäische Integration. Schauen Sie sich den Zerfall von Schengen an, den wir zurzeit erleben. Das liegt daran, dass die Grenze nicht mehr glaubwürdig erscheint. Davon soll Ihnen eine Zahl eine Vorstellung vermitteln: Zwischen 2014 und 2015 hat sich die Zahl der illegalen Grenzübergänge auf den griechischen Inseln um den Faktor 18 erhöht! Die Außengrenze wird destabilisiert. Ursprünglich war dies auf eine Funktionsstörung des europäischen Asylsystems zurückzuführen, aber es betraf Schengen, dem die Menschen nicht mehr vertrauen. Die Verwaltung des gemeinsamen Raums muss glaubwürdiger sein. Das ist mein Job. In Europa gibt es zwei Politikbereiche, die für die Bürger sichtbar sind: den Euro und Schengen. Wenn sie nicht funktionieren, hat dies Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit des gesamten europäischen Projekts.

Interview geführt von Hadrien Bajolle

Dieses Interview wurde durch das Pariser Team von Taurillon, Taurillon en Seine realisiert.

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