Nach zwölf einprägsamen Tagen in Irakisch-Kurdistan fährt mich Amar* zurück zum Flughafen. Wir reden in gebrochenem Englisch über die Dinge, über die man sich mit Mitte zwanzig unterhält. In Gedanken bin ich schon bei den Weihnachtsfeiertagen mit meiner Familie und Freund*innen in Deutschland. Da erzählt Amar fast beiläufig, dass er auch mal versucht hat, nach Europa zu kommen. Die Reise endete jedoch auf einem Schlauchboot mit Motorschaden im Mittelmeer, einer halben Stunde warten auf den Tod und der türkischen Küstenwache.
In der Erkenntnisphilosophie besagt die negative Definition, dass ein Begriff nicht durch das definiert wird, was er ist, sondern durch das, was er alles nicht ist. Ein Auto ist nicht ein Auto, weil es vier Reifen hat und fährt. Es ist ein Auto, weil es nicht fliegen kann. Auf den Punkt: es geht um Abgrenzung. Überträgt man dieses Konzept auf die EU, ist sie nicht die EU, weil sie zwölf Sterne auf ihrer Fahne hat und ihre Länder nicht mit Trennungen umgehen können. Die EU ist die EU, weil sie anders ist als die anderen. Weil sie moralische Standards einhält, die hinter den Grenzen vergeblich zu suchen sind. Zumindest glaubt sie das. An keinem Ort wird das so sichtbar wie an der Grenze.
Auf dem Weg zum Flughafen wird sichtbar wer was ist. Ich bin Europäer, Amar nicht. Ich darf weiter, er nicht. Ich überwinde die Grenze – versucht er es, riskiert er zu sterben.
Die negative Definition kann man aber auch umdrehen. Die Frage des „anderen“ ist untrennbar die Frage der eigenen Identität. Außenpolitik ist nicht nur Außenpolitik. Sie ist vermutlich der ehrlichste Spiegel, den die Politik bieten kann.
Fluchtursachenbekämpfung als Paradigma „partnerschaftlicher Zusammenarbeit“, Entwicklungszusammenarbeit als neoliberale Erschließung neuer Märkte für deutsche Unternehmen, Verteidigung der Reisefreiheit in Europa durch die Aufrüstung der Libyschen Küstenwache. All das ist nicht nur Außenpolitik. All das ist Teil unserer Identität, ob wir wollen oder nicht.
Die große Lüge der EU-Politik ist nicht, dass die Prinzipien wie Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenwürde erstrebenswert sind. Es ist die Erzählung, dass in einer zutiefst globalisierten Welt das eine nicht mit dem anderen zusammenhängt. Die Frage unseres Wohlstandes ist auch die der wirtschaftspolitischen Beziehungen. Die Frage unserer Ernährung ist auch die der Klimagerechtigkeit.
Es ist keine abstrakte Kritik an Grenzen während des nächtlichen Träumens von einer perfekten Welt. Es ist der Blick in den Spiegel nach dem Aufstehen. Die Grenze beantworten für uns die Frage der Identität. Meine ist ein roter Pass, mit dem ich beinahe überall hinreisen kann. Mit dem ich zu Hause bleiben kann, ohne mich diesen Fragen zu stellen.
Mir fällt es schwer, angemessene Worte zu finden. Direkt mit dieser Ungleichheit konfrontiert fühle ich mich schuldig. Ich erwarte unterschwelligen Neid, berechtigtes Anklagen der Ungerechtigkeit. Ich bekomme dagegen aufrichtigen Dank für das bisschen fragwürdige Hilfe und einen Schaal als Andenken. Dieses Danke, dieser Schaal – beide zeigen, dass an der europäischen Idee doch was dran ist. Nur sollte sie für uns beide gelten.
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