Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen

Eine Chance für Kompromisse und Rationalität

, von  Gesine Weber

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Eine Chance für Kompromisse und Rationalität
Nach der Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin: Ursula von der Leyen sichtlich erleichtert. Foto: Flickr / European Parliament / CC BY 2.0

Am Dienstag wurde Ursula von der Leyen zur Präsidentin der EU-Kommission gewählt - ohne zuvor als Spitzenkandidatin nominiert gewesen zu sein. Trotzdem hat das Parlament mit ihrer Wahl zur Kommissionspräsidentin eine gute Entscheidung getroffen: Anstatt die Institutionen durch einen monatelangen Streit zu lähmen, hat es eine gut qualifizierte Kandidatin gewählt, der es gelingen könnte, die Gräben zwischen Ost und West zu verringern. Außerdem haben die Parlamentarier*innen Ursula von der Leyen einen Vertrauensvorschuss gewährt, den sie zu schätzen wissen dürfte - das kann der Zusammenarbeit der Institutionen und der Demokratie gut tun.

Die Staats-und Regierungschef*innen der EU-Mitgliedstaaten haben in den letzten Wochen bewiesen, dass das alte Brüssel der Hinterzimmerpolitik und der undurchsichtigen Deals nicht der Vergangenheit angehört. Im Gegenteil, dieses Brüssel, dem immer wieder ein Demokratiedefizit attestiert wird, hat sich zuletzt noch einmal aufgebäumt, allen Stimmen aus der Zivilgesellschaft und der Stimmen der Zivilgesellschaft zum Trotz. Während das Parlament noch die Möglichkeiten für Koalitionen auslotete, um eine Mehrheit für die Wahl des neuen Kommissionspräsidenten oder der neuen Kommissionspräsidentin zu finden, hat der Europäische Rat dies als Schwäche gedeutet und kurzen Prozess gemacht: Statt einer Person aus der Reihe der Spitzenkandidat*innen schlug der Rat die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU/ EVP) vor, die am Dienstag vom Europäischen Parlament in das Amt gewählt wurde. Das ungeschriebene Spitzenkandidat*innen-Prinzip, wonach nur ein*e Spitzenkandidat*in Kommissionpräsident*in werden sollte und das als zentraler Baustein für ein demokratischeres Europa gilt, wurde dabei übergangen. Für die Wähler*innen, die am 26. Mai ihre Stimme für diese Spitzenkandidat*innen abgegeben haben, und für alle Politiker*innen und Ehrenamtliche, die sich auf allen Ebenen für dieses Prinzip stark gemacht haben, ist das ein Schlag ins Gesicht.

Ein Sieg für Rationalität und Kompromissbereitschaft

Die hauchdünne Mehrheit von nur neun Stimmen zeigt, dass sich von der Leyen beweisen müssen wird. Ihre Wahl ist kein haushoher Sieg des intergouvernementalen Europas, noch ein Etappensieg; sie ist eher ein Sieg eines rationalen Europäischen Parlaments und einer auf Konsens bedachten Kommissionspräsidentin. Mit ihrer Wahl hat das Europäische Parlament gezeigt, dass es keine institutionelle Lähmung der EU über eine Prinzipienfrage herbeiführen und den Streit darüber auf den Rücken von Ursula von der Leyen austragen will.

Aus mehreren Gründen war diese Entscheidung klug: Erstens vermeidet das Europäische Parlament mit der Wahl einen möglicherweise monatelangen Streit, der den Großmächten dieser Welt auf dem Silbertablett präsentiert, wie uneinig sich nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Institutionen untereinander sind. Durch die Wahl von Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin hat das Parlament der EU die Handlungsfähigkeit zurückgegeben, die sie auf dem internationalen Parkett dringend braucht - und mit Ursula von der Leyen, die eben dieses Umfeld kennt und sich auch unter den Alphamännchen Trump und Putin zu beweisen wissen wird, ist die EU dort bestens ausgestattet.

Zweitens haben die Parlamentarier*innen im Europäischen Parlament Größe bewiesen, indem sie nicht eine objektiv gute Kandidatin für das Verhalten des Rats bestraft haben. Von der Leyen mit ihrer Kompromissfähigkeit das, was die EU in der nächsten Legislaturperiode brauchen wird: eine überzeugte Europäerin, die als Vermittlerin zwischen den östlichen und westlichen Mitgliedstaaten der EU auftreten kann. Gerade angesichts der Riege der neu ernannten beziehungsweise designierten Politiker*innen auf den Spitzenposten der EU, die alle aus den westlichen Mitgliedstaaten kommen, ist das ein wichtiges Signal.

Zuletzt zeigt das Parlament aber auch, dass ihm strategisch handeln kann. Genauso gut wie die Parlamentarier*innen weiß von der Leyen, dass sie sich das langfristige Vertrauen im Parlament noch erarbeiten muss. Mit ihrer Wahl hat sie vom Parlament einen Vertrauensvorschuss bekommen, nun ist sie in der Bringschuld. Ihre leidenschaftliche Rede und ihre Versprechen ans Parlament, allen voran die Stärkung seiner Stellung im Gesetzgebungsprozess, werden die Parlamentarier*innen nicht so schnell vergessen. Wenn die Kommission keine entsprechenden Initiativen auf den Weg bringt, wäre nicht überraschend, wenn das Parlament sie mit entsprechenden Resolutionen dazu auffordert. Mit ihre Stimmen für von der Leyen haben sich die Parlamentarier*innen in eine starke Stellung gegenüber der Kommissionspräsidentin gebracht und deutlich gezeigt, dass in der nächsten Legislaturperiode programmatisch mit ihnen zu rechnen sein wird, obwohl kein*e Spitzenkandidat*in Kommissionspräsident*in wurde.

Zurück in die Zukunft - demokratisches Europa 3.0

Während das Europäische Parlament als die Vertretung der Bürger*innen gilt, trägt die Kommission den Titel der „Hüterin der Verträge“, gilt aber auch als die Institution, die das allgemeine Interesse der EU vorantreiben soll. Konkret bedeutet das, dass sie als einzige Institution mit Initiativrecht für europäische Rechtsakte Themen auf die Agenda setzen kann, die einer positiven Entwicklung der EU dienen, ohne wie der Rat von den Interessen der Mitgliedstaaten oder wie das Parlament von den Interessen unterschiedlicher politischer Gruppen motiviert zu sein. Diese Rolle als politisch unabhängige Exekutive kann und sollte die Kommission nutzen, um den entstandenen Vertrauensschaden zwischen Parlament und Rat nach ihren Möglichkeiten zu reparieren.

Als Kommissionspräsidentin wird von der Leyen nicht nur in bestimmten Fragen die EU nach außen repräsentieren und die jährliche Rede zur Lage der Union halten, sondern auch Chefin der größten Behörde der EU werden: Rund 32.000 Menschen arbeiten bei der EU-Kommission, und als Präsidentin wird Ursula von der Leyen die Leitlinien konkreter europäischer Politik vergeben können. Zu den Initiativen, die sie schnell in Angriff nehmen wird, dürfte die Reform des Wahlrechts zum EU-Parlament gehören, nachdem sie in ihrer Bewerbungsrede auf das Amt der EU-Kommissionspräsidentin die Einführung transnationaler Listen für die Europawahlen und das Spitzenkandidat*innenprinzip gefordert hat. Einen Vorschlag zu transnationalen Listen gab es bereits im Frühjahr 2018, damals war er mit den Stimmen der Europäischen Volkspartei (EVP) abgelehnt worden. Für Emmanuel Macron, auf dessen Drängen sich Frankreich stark für die transnationalen Listen eingesetzt hatte, bedeutete ihre Ablehnung auch die Aufgabe des Spitzenkandidat*innenprinzips - ein europäisches Wahlrecht wollte Macron nur ganz oder gar nicht. Mit Ursula von der Leyen ist nun eine Wunschkandidatin von Präsident Macron Kommissionspräsidentin, und sie könnte den Vorschlag zu transnationalen Listen wieder aus der Schublade holen. Noch einmal am Europäischen Parlament scheitern dürfte ein solcher Vorschlag wohl nicht, denn nach der bitteren Niederlage ihres Spitzenkandidaten Manfred Weber (CSU) dürfte die EVP ihre Lektion gelernt haben.

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