Hätten wir vergangenen Sonntag einen neuen Bundestag gewählt, so wären CDU und CSU zweifellos als strahlende Sieger aus dieser Wahl hervorgegangen. Laut den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Forsa hat die Union seit Mitte März, als die Weltgesundheitsorganisation WHO den Ausbruch von Covid-19 erstmals als Pandemie beschrieb, in den Umfragen zweistellig hinzugewonnen. Waren noch vor gut einem Monat 35 % der Bevölkerung zufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung, und 65 % unzufrieden, so haben sich diese Zahlen heute nahezu umgekehrt. Bundesfinanzminister Olaf Scholz, Gesundheitsminister Jens Spahn, Wirtschaftsminister Peter Altmaier und natürlich die Kanzlerin: sie alle sind bei der Wählerschaft so beliebt wie lange nicht mehr.
Krisenzeiten sind Zeiten der Exekutive – und es wirkt, als habe die große Stunde von „schwarz-rot“ geschlagen. In Berlin wagt derzeit kaum ein*e Politiker*in von dem vermeintlich der Vergangenheit angehörigen schleichenden Bedeutungsverlust der beiden Volksparteien zu sprechen. An den fehlenden Reformwillen der letzten Jahre oder das Thüringen-Debakel bei der CDU scheinen sich ebenso wenige Wähler*innen zu erinnern wie an die langwierigen Personaldebatten der Sozialdemokrat*innen. Der freie Fall scheint gestoppt und Union und SPD auf dem Weg zu alter, fast vergessener Stärke.
Politische Altlasten
Wer nun allerdings aufgrund des Coronavirus das Comeback der Volksparteien ausrufen möchte, der macht es sich zu leicht: Die blendenden Umfragewerte verdecken die langanhaltenden, strukturellen Probleme von Union und SPD lediglich kurzfristig. Während die omnipräsente Pandemie (natürlich berechtigterweise) als Agenda-Setter aktuell das politische Tagesgeschäft beherrscht, köcheln diese unter der Oberfläche weiter. Die Politiker*innen der beiden Parteien sollten nicht den Fehler begehen, sich jetzt mit dem Rückhalt steigender Beliebtheitswerte von allen politischen Altlasten befreit zu fühlen.
Die SPD steckt, im Grunde seit der Verabschiedung der Agenda 2010 unter dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, in einer tiefen Vertrauenskrise. Viele enttäuschte Wähler*innen sehen in der arbeitgeberfreundlichen Reform von Arbeitsmarkt und Sozialsystem eine Zäsur in der sozialdemokratischen Politik, deren Folgen bis heute nicht verziehen sind. Und in der CDU ringen wirtschaftsliberale, konservative und liberal-progressive Strömungen in einem langatmigen und kräftezehrenden Richtungsstreit um die Zukunft der Partei. Christ- wie auch Sozialdemokrat*innen sind auf der Suche nach dem Kern ihres politischen Handelns, nach programmatischer Orientierung in einer sich in Bewegung befindenden, diversen Gesellschaft. Solche Prozesse sind grundlegend und langfristig, sie lösen sich nicht einfach in Luft auf.
Aufgeschoben, nicht aufgehoben
Hinzu kommt die allgemeine Vergänglichkeit der aktuellen Umfrageerfolge. Das Hoch, das übrigens aktuell vom frisch gewählten Britischen Premierminister Boris Johnson, über den Österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz bis hin zum US-Präsidenten Donald Trump fast alle Staats- und Regierungschef*innen erfahren, basiert auf einem altbekannten Muster: Die Zustimmung der Bevölkerung zu ihrer politischen Führung ist in Krisenzeiten historisch stark ausgeprägt.
Was der Politikwissenschaftler John Mueller erstmals für die US-Präsidenten der Jahre 1945 bis 1969 beobachtete und den „Rally around the Flag“-Effekt nannte, fußt dabei zum einen auf der psychologischen Bedeutung einer Regierung als Symbol der nationalen Einheit in schwierigen Tagen. Zum anderen spielt auch die Deutungshoheit über die öffentliche Debatte eine entscheidende Rolle. So wird der politische Diskurs in Zeiten eines beschränkten Parlaments und einer stummen Opposition zu wesentlichen Teilen von den Regierungsparteien getragen – ein Umstand, der sich auch in den aktuellen Umfragewerten widerspiegelt. Allerdings sind diese Dynamiken auf die jeweilige Krisensituation bedingt und somit zeitlich begrenzt, die künstlich gestärkten Umfragewerte damit in der Regel beschränkt. Oft verpufft der Effekt bereits innerhalb weniger Monate. Mit anderen Worten: In Krisenzeiten ist Wählergunst kurzlebig.
Also eher Strohfeuer als Trendwende. Sobald das Land und damit auch die Politik zu einer, wie auch immer gearteten, neuen Normalität zurückkehren, werden zwangsläufig auch die derzeit verdeckten Probleme der Volksparteien wieder an die Oberfläche treten. Die Krisensituation hat deren freien Fall nicht gebremst, sie hat ihn vielmehr auf Pause gesetzt. Und einige für die Zukunft von Union und SPD richtungsweisende Weggabelungen zeichnen sich bereits heute ab: Die Wahl des CDU-Parteivorsitzenden im Dezember, die geplante Verabschiedung der Grundrente als SPD-Herzensprojekt im Bundestag, der Umgang mit steigender Arbeitslosigkeit im Nachklang der Pandemie, die Lösung der verfahrenen und humanitär unerträglichen Situation Geflüchteter an der griechisch-türkischen Grenze. Spätestens hier dürfte die neugewonnene Euphorie erste Dämpfer erfahren.
Die Krise als Chance
Und doch bringt die durch das Virus herbeigeführte Ausnahmesituation für die deutschen Volksparteien zweifellos Chancen mit sich. Für die SPD kann es derzeit in aller erster Linie nur darum gehen, sich auf die Wurzeln sozialdemokratischer Politik zurückzubesinnen und Vertrauen bei den verprellten Wähler*innen zurückzugewinnen. Anstatt von ökonomischen Bedenken, könnte sich beispielsweise Herr Scholz bei der Verkündung der Ausweitung von Kurzarbeiterregelungen von der Grundidee einer solidarischen Gesellschaft leiten lassen und versuchen, dies glaubwürdig zu vermitteln.
Gleichermaßen bietet sich auch Christdemokrat*innen in der Krise die Möglichkeit, Profil zu gewinnen. Insbesondere mit einer starken und geschlossenen Führung bei den aktuellen Debatten zur Lockerung der Ausgangsbeschränkungen ließen sich konservativ-christliche Werte festigen. Diese Chancen sollten allerdings dringend genutzt werden, um den Fall der Volksparteien langfristig zu stoppen. Die Vergangenheit zeigt, dass deren Verluste bei der Wählerschaft vor allem jenen zugutekommen, die unsere demokratischen Institutionen lautstark verhöhnen: den Populist*innen.
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