Der Europäische Tag der Sprachen (ETS) wurde 2001 ins Leben gerufen. Die Initiative, der sich auch die Europäische Kommission angeschlossen hat, geht auf den Europarat in Straßburg zurück und wird vom Europäischen Fremdsprachenzentrum (EFSZ) koordiniert. Sie macht darauf aufmerksam, wie wichtig Sprachenlernen für die Gesellschaft, für gegenseitiges Verständnis und Toleranz ist. Es bildet die Basis für zum Beispiel europäische Städtepartnerschaften, die wiederum einen wichtigen Beitrag zur Völkerverständigung leisten. Auch auf individueller Ebene profitiert, wer mehrere Sprachen beherrscht, von unzähligen Beschäftigungs-, Ausbildungs- und Reisemöglichkeiten. Durch lokal organisierte Schnuppersprachkurse und spielerische Aktivitäten sollen insbesondere am 26. September Menschen aller Altersgruppen zum Sprachenlernen motiviert werden.
Ziel des Aktionstages ist außerdem, die Öffentlichkeit für die sprachliche und kulturelle Vielfalt in Europa zu sensibilisieren. Allein in der EU gibt es 24 Amtssprachen und über 60 Regional- und Minderheitensprachen, wie zum Beispiel Baskisch, Friesisch oder Romani. Hinzu kommen Dialekte von Amtssprachen und Sprachen, die von Migrant*innen gesprochen werden. Gerade auf diese weniger weit verbreiteten Sprachen will der Europarat besonderes Augenmerk legen. Das ist ausdrücklich zu begrüßen.
Alle Sprachen sind wertvoll, aber manche scheinen wertvoller
Ein Blick nach Deutschland zeigt, dass die sogenannten Herkunftssprachen, also diejenigen Sprachen, die Migrant*innen als Muttersprache sprechen, wenig Anerkennung und Förderung erfahren. Das wird insbesondere am Bildungssystem deutlich: Ein Schulabschluss setzt Fremdsprachenkenntnisse in Englisch, das Abitur darüber hinaus Kenntnisse in Französisch, Spanisch oder Latein voraus. Sprachen wie Türkisch, Arabisch, Bosnisch oder Polnisch, die von migrantischen Kindern und Jugendlichen gesprochen werden, sind kaum in den Schulunterricht integriert. Sie werden oft auf freiwilliger Basis außerhalb des regulären Schulunterrichts von Kulturvereinen angeboten oder können als Sprachkurs an einer Volkshochschule oder einem Sprachinstitut belegt werden. Auf diese Weise wird das Sprachenlernen schnell zu einer Zeit- und Kostenfrage.
Auch im Alltag sind Minderheiten- und migrantische Sprachen unterrepräsentiert, es mangelt an Übersetzungen von amtlichen Dokumenten oder Behördenwegweisern, Nachweise werden nur in den allgemein anerkannten Sprachen wie Deutsch und Englisch akzeptiert. Dies hat sich im Rahmen der Corona-Pandemie immerhin ein stückweit geändert - die von der Integrationsbeauftragen bereitgestellten Informationen zum Coronavirus sind beispielsweise in Farsi, Albanisch oder Türkisch verfügbar.
Darüber hinaus ist die Abwertung migrantischer Sprachen im gesellschaftlichen und politischen Diskurs ein großes Problem. Das zeigt die Anfang September in den Sozialen Medien, vor allem auf Twitter (#mehrsprachigkeit), geführte Mehrsprachigkeitsdebatte. Sie wurde durch eine Kleine Anfrage der FDP im Bundestag ausgelöst, die ergab, dass jedes fünfte Kita-Kind zu Hause eine andere als die deutsche Sprache spricht. Vor allem migrantische Perspektiven kritisieren die Stigmatisierung und Darstellung der Mehrsprachigkeit als „Integrationshindernis“, zu der unter anderem auch das Sharepic der Tagesschau beigetragen hat.
Eine Ein- und Zuwanderungsgesellschaft bringt Sprachen mit
Damit diskriminieren wir als Mehrheitsgesellschaft nicht nur auf Grundlage ethischer und sozialer Herkunft, sondern ignorieren auch Lebensrealitäten: Unsere europäischen Gesellschaften sind seit jeher von Ein- und Zuwanderung geprägt. Diese hängt eng mit Programmen für Gastarbeiter*innen, Prozessen der Dekolonialisierung, geopolitischen Unruhen und wachsender Nachfrage nach Arbeitskräften im Industrie- und Dienstleistungssektor zusammen. Die Internationale Migrationsdatenbank der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt, dass Deutschland 2017 die meisten Zuzüge aller OECD-Länder zu verzeichnen hatte.
Hinzu kommen, unter anderem durch das Recht, das allen Unionsbürger*innen zusteht, Aufenthalts-, Erwerbs- und Wohnort frei zu wählen und die damit verbundene Mobilität innerhalb Europas, steigende Zahlen binationaler Partnerschaften. Somit wachsen potenziell auch immer mehr Kinder zwei- oder mehrsprachig auf. Dass das kein Defizit, sondern eine Bereicherung für kommunikatives Miteinander ist und kognitive Vorteile mit sich bringt, ist längst sprach- und neurowissenschaftlicher Konsens.
Sprachen also einen eigenen (Feier-)Tag zu widmen, ist ein wichtiger Schritt. Er reicht aber bei Weitem nicht aus, um die in Artikel 22 der Grundrechte-Charta verankerte Sprachenvielfalt zu fördern und das Recht jede Sprache zu erwerben, zu gewährleisten.
Was kann die EU über den Aktionstag hinaus unternehmen?
Dass die EU im Bereich der Kultur- und Bildungspolitik keine Gesetzgebungskompetenzen besitzt, sondern lediglich eine „unterstützende Zuständigkeit“, mit der sie Maßnahmen der Mitgliedstaaten fördern und koordinieren kann, darf keine Ausrede sein. Es gibt Möglichkeiten, mehr zu tun:
Erstens muss die EU ihre Informationspolitik verbessern. Online-Plattformen und Tools wie eTwinning oder School Education Gateway, die von der Generaldirektion Bildung und Kultur der Europäischen Kommission angestoßen wurden, müssen bekannter gemacht werden. Sie ermöglichen den Austausch zwischen Fachkräften im schulischen, außerschulischen und beruflichen Bereich, Wissenschaftler*innen und politischen Entscheidungsträger*innen über inklusionsorientierte, wie mehrsprachige Ansätze. Außerdem müssen Informationen zu „Best-Practice“-Beispielen transparenter und zugänglicher gemacht werden. Zwar existiert mit Eurydice bereits ein Informationsnetzwerk, das zum Beispiel einen Überblick über aktuelle nationale politische Strategien in Bezug auf Regional- und Minderheitensprachen gibt, allerdings ist auch seine Arbeit weitgehend unbekannt.
Zweitens sollte die EU mehr finanzielle Mittel für Bildungs- und Kulturprogramme, wie Erasmus+ und Kreatives Europa bereitstellen, sowie die Konditionen für DiscoverEU verbessern. Diese Rahmenprogramme sind der Schlüssel für das Bewusstsein, über das Erlernen und die Verbreitung von Regional-, Minderheiten- und Herkunftssprachen.
Darüber hinaus ist speziell die Europäische Kommission in der Pflicht, ihre Rolle als Hüterin der Verträge stärker wahrzunehmen und dafür zu sorgen, dass in den EU-Mitgliedstaaten das Recht auf Nichtdiskriminierung eingehalten wird. Schließlich liegt es aber auch an uns: wir als Migrationsgesellschaft müssen nicht nur anfangen, unsere eigenen Vorbehalte zu hinterfragen und die Gleichwertigkeit aller Sprachen anzuerkennen, sondern uns für ihre Bewahrung aktiv einsetzen und darüber hinaus Migrant*innen sowie Sprecher*innen von Minderheitensprachen in ihrem Kampf um Chancengleichheit und Partizipation unterstützen – zum Beispiel in Form von Hausaufgabenbetreuung, Nachhilfeunterricht oder eines Sprachtandems.
Kommentare verfolgen: |