Boris Johnson backt „sausage pie“. In einem Wahlkampfspot von 2019 bestreicht der Noch-Premierminister Großbritanniens mit hochgekrempelten Ärmeln den Teig der traditionellen englischen Pastete liebevoll mit Eigelb. Johnson grinst breit in die Kamera und sagt: „Dieser Pie ist ein Symbol für unseren ofenfertigen Brexit-Deal“. Um seinen Hals baumelt eine Schürze mit dem Slogan „Get Brexit done“. Dann schiebt er den vorbereiteten Pie in einen großen Ofen hinter sich.
Drei Jahre später geht es mal wieder um die Wurst. Am 13. Juni beschloss die britische Regierung eigenständig den „ofenfertigen Brexit-Deal“, das EU-Austrittsabkommen zwischen Großbritannien und der EU, wieder in seine Komponenten zu zerlegen. Eine Zutat schmeckt der Regierung Johnson nicht mehr: das sogenannte Nordirland-Protokoll – eine Vertragsklausel im Brexit-Abkommen, welches die Zollgrenze und den Warenverkehr zwischen der Republik Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland regelt.
Die Entscheidung Johnsons, das Nordirland-Protokoll eigenständig zu überarbeiten, ruft eine Welle der Empörung hervor. „Es gibt keine legale oder politische Rechtfertigung für eine unilaterale Änderung einer internationalen Vereinbarung“, sagt EU-Kommissionsvizepräsident Maros Šefčovič und wirft der britischen Regierung Vertragsbruch vor. London habe der EU „keine Wahl gelassen“, so Šefčovič. Am 15. Juni leitete die EU drei Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien ein. Seitdem droht ein Handelskrieg.
Kritik kommt dabei nicht nur von einer Seite des Ärmelkanals. Im britischen Unterhaus erinnern selbst Mitglieder der Konservativen Partei ihre Regierung an die geltende Rechtsstaatsprinzipien. Auf der Irischen Insel hingegen fürchtet man um das Bestehen des sogenannte „Karfreitagsabkommen“, welches seit 1998 den politischen und gesellschaftlichen Frieden in Nordirland sichert.
Das Nordirlandprotokoll
Mit dem Brexit haben Großbritannien sowie Nordirland am 1. Januar 2021 den Europäischen Binnenmarkt verlassen. Der Rest der Irischen Insel, die Republik Irland, verblieb in der EU. Damit bleibt die Frage offen, wo die Grenze zwischen der EU und Großbritannien verlaufen soll.
Eine Möglichkeit wäre eine sogenannte “harte Landesgrenze” mit Zollkontrollen zwischen Nordirland und Irland. Aus Sicht der katholischen Nationalisten würde eine harte Grenze jedoch das Karfreitagsabkommen unterminieren. Neue gewalttätige Konflikte um die Wiedervereinigung Irlands stünden damit erneut im Raum. Um dieses Risiko zu verhindern, sprachen sich London und Brüssel seit Beginn der Brexit Verhandlungen gegen eine harte Grenze aus.
Die zweite Möglichkeit besteht aus 2800 km³ Wasser, ist 46.000 km² groß und durchschnittlich 52 Meter tief – die Irische See. Im Nordirland Protokoll einigten sich beide Parteien schließlich auf eine Grenze zwischen der Irischen Insel und Großbritannien. Nordirland folgt damit weiter den Regeln des Europäischen Binnenmarkts und unterliegt im Konfliktfall der Rechtsprechung der EU-Gerichte. Für Waren, die aus Großbritanniens nach Nordirland kommen, gelten damit grundsätzlich EU-Zölle – denn diese Waren können über die offene Grenze nach Irland und damit in die EU gelangen. Ein selbstgebackener „Sausage Pie“, wie der von Boris Johnson, müsste also an der Seegrenze der Irischen See kontrolliert werden.
Nach dem Austritt Großbritanniens waren Übergangsfristen für die Einführung solcher Kontrollen vorgesehen. Die Regierung Johnsons hat diese Fristen für bestimmte Produkte immer wieder im Alleingang verlängert. Der Start der Kontrollen ist für unbestimmte Zeit verschoben.
Die Wahlen in Nordirland und ihre politischen Auswirkungen
Am 5. Mai 2022 schrieb die republikanisch-katholische Partei Sinn Féin Geschichte. Zum ersten Mal wurde die Partei, die einst als politischer Arm der Terrororganisation IRA galt, stärkste Kraft. Sinn Féin wirbt für die Wiedervereinigung mit der Republik Irland und für das Nordirland-Protokoll. Dieses ermöglicht nordirischen Unternehmen den Zugang zum europäischen als auch zum britischen Markt.
Seit dem Wahlsieg herrscht in Belfast jedoch ein Patt. Der Sonderstatus Nordirlands, kodifiziert durch das Karfreitagsabkommen, sieht vor, dass eine Regierung aus protestantischen Unionisten sowie aus katholischen Nationalisten bestehen muss. Konkret bedeutet dies, dass die protestantischen Unionisten, repräsentiert durch die Democratic Unionist Party (DUP), sich nach dem Wahlsieg Sinn Féins an der Regierungsbildung beteiligen müssen. Die DUP weigert sich, dies zu tun und blockiert damit die Exekutive. Die Ausschussarbeit im nordirischen Parlament kann ohne Beteiligung der DUP ebenfalls nicht stattfinden.
Was die DUP fordert, ist eine Modifikation des Nordirland-Protokolls. Die Partei beschreibt das Protokoll als eine „existentielle Bedrohung Nordirlands zukünftigen Platzes innerhalb des Vereinigten Königreichs“ und kritisieren die Anwendung von EU-Recht in Nordirland ohne Stimmrecht oder eine nordirische Vertretung in Brüssel. Die DUP setzt der Regierung in London damit ein Ultimatum: Entweder wird das Nordirland Protokoll modifiziert oder die Blockade geht weiter. Nach sechs Monaten erfolgloser Regierungsbildung sieht die nordirische Verfassung Neuwahlen vor.
Die britische Außenministerin, und möglicherweise baldige Premierministerin, Liz Truss nahm sich der Argumentation der DUP an. Am 13. Juni verkündete sie in einem öffentlichen Statement, dass das vereinbarte Nordirlandprotokoll eine Situation schaffe, in der „die Menschen in Nordirland anders behandelt werden als der Rest Englands.“ Die geplanten Änderungen seitens der britischen Regierung seien notwendig, um den Vorrang des britischen Rechts und die territoriale Integrität Großbritanniens zu gewährleisten, so Truss.
Britische Vorschläge
Konkret schlägt die britische Regierung als Alternative zum bestehenden Protokoll sogenannte „green lanes“ für den Warenverkehr zwischen Großbritannien und Nordirland vor. Laut London müssten damit nur solche Produkte kontrolliert werden und den EU-Warenrichtlinien entsprechen, die nicht für Nordirland bestimmt sind. Dies komme Schwierigkeiten beim Handel mit einzelnen Produkten zuvor. Beispielsweise ist es laut geltendem EU-Recht verboten, gekühltes, verarbeitetes Fleisch so wie Würste oder Hackfleisch in die EU zu transportieren. Ein Todesurteil für den Import von „Sausage Pies“ von England nach Nordirland. Schon im November 2020 machte Boris Johnson klar, dass nichts die großartige englische Wurst auf dem Weg nach Belfast stoppen könne. Eine Garantie, dass diese nur für Nordirland bestimmten Produkte auch in Nordirland bleiben, gibt es jedoch nicht.
Neben dem Problem von möglichen Schmuggelrouten widerspricht der Vorschlag Londons aus Sicht Brüssels jedoch vor allem dem Grundsatz der Rechtseinheit in der EU. Die Rechtseinheit gilt als fundamentaler Pfeiler der Gemeinschaft und die Voraussetzung eines einheitlichen Binnenmarkts und dem Vorrang des EU-Rechts. Trotzdem zeigt sich die EU-Kommission offen, weiter über die Umsetzung des Nordirland-Protokolls zu verhandeln. Kompletten Neuverhandlungen erteilte sie jedoch eine Absage.
Der ofenfertige Pie, den Boris Johnson in seinem Wahlkampfvideo wenige Sekunden später aus dem dampfenden Ofen holt, ist in der Mitte goldgelb und der Teig außen knusprig. Man kann sehen, wie der Käse langsam Blasen wirft. Zu schmecken scheint er den meisten Beteiligten jedoch nicht.
Nach Johnsons Rücktrittsankündigung ringen nun der ehemalige Finanzminister Rishi Sunak und Außenministerin Liz Truss um das Sagen in Downing Street, Number 10. Truss, die selbst in ihrer Amtszeit das Abkommen aufgekündigt hat, verkündete bereits ihren Kurs weiterzuführen: “trotz der Kompromisslosigkeit Europas”. Ihr Parteirivale Sunak steht dagegen für einen Dialog mit Brüssel. Er votierte gegen den Gesetzesentwurf von Truss zur Änderung des Nordirland Abkommens. Die Bedenken der irischen DUP erkennt er dennoch an. Es bleibt also abzuwarten, ob sich die verbackenen Zutaten des Nordirland-Protokolls wieder in Wurst, Teig und Eigelb trennen lassen.
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