Kurz erklärt

Eskalation nach dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts – Kommt jetzt der ,,Polexit“?

, von  Benedikt Gremminger

Eskalation nach dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts – Kommt jetzt der ,,Polexit“?
Das Verfahren vor dem polnischen Verfassungsgericht begann im März 2021 als Reaktion auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH). Foto: Creative Commons/Adrian Grycuk/Lizenz

Am 7. Oktober erklärte das polnische Verfassungsgericht bestimmte Artikel des EU-Rechts für unvereinbar mit der polnischen Verfassung und daher in Polen für nicht verbindlich. Das Urteil ist ein neuer Tiefpunkt im zerrütteten Verhältnis von Polen zur EU. Erste Kommentator*innen sprechen sogar von einem ,,rechtlichen Polexit“. Doch worum geht es im Urteil konkret? Was bedeutet das Urteil für das zukünftige Verhältnis von Polen zur EU? Und welche Maßnahmen kann die EU jetzt ergreifen?

Konkret geht es in dem Urteil um die Auslegung von EU-Vorschriften, die Polen Vorgaben bezüglich der Organisation des nationalen Justizsystems machen.

Das Verfahren vor dem polnischen Verfassungsgericht begann im März 2021, als Reaktion auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH), in dem dieser das reformierte Verfahren zur Richter*innenernennung am Obersten Gerichts Polens für unionsrechtswidrig erklärte. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki witterte darin eine kompetenzwidrige Einmischung der EU in die polnische Souveränität und ließ das EuGH-Urteil daraufhin auf seine Vereinbarkeit mit polnischem Verfassungsrecht überprüfen. Das Verfassungsgericht entschied, dass die EU und der EuGH nicht die Kompetenz haben, Polen Vorgaben bezüglich seiner Gerichtsorganisation zu machen. Das Urteil hat gerade deswegen eine solche Brisanz, weil das polnische Verfassungsgericht damit aktiv den Vorrang des Unionsrecht vor nationalem Recht und die Auslegungshoheit des EuGHs – fundamentale Grundsätze des EU-Rechts – untergräbt.

Neue Eskalationsstufe der polnischen Rechtsstaatskrise

Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen? Diesen neuen Tiefpunkt in der Beziehung von Polen zur EU lässt sich nur vor dem Hintergrund der Entwicklungen der letzten 6 Jahren in Polen erklären. Nachdem 2015 die Partei für Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość–PiS) unter Führung von Jarosław Kaczyński die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, machte sie sich bereits kurz nach der Wahl daran das polnische Justizsystem umfassend umzukrempeln. Unter dem Vorwand der Reformierung der Justiz von kommunistischen Altlasten wurde das Verfahren zur Richter*innenernennung politisiert und das Verfassungsgericht und oberste Gerichte mit regierungsfreundlichen Richter*innen besetzt. Kritische Richter*innen wurden dabei mit neuen Ruhestandsregelungen und einer neuen Disziplinarkammer eingeschüchtert. Diese Entwicklungen stießen sowohl im Inland als auch im Ausland auf heftige Kritik. Der EuGH verurteilte Polen daher in den letzten Jahren mehrmals wegen Verstößen gegen europäische Rechtsstaatlichkeitsanforderungen. Die EU-Kommission leitete zudem im Dezember 2017 ein politisches Rechtsstaatsverfahren gegen Polen ein (Artikel 7 – Verfahren), in dem sie Polen die Verletzung der grundlegenden Werte der EU vorwarf.

Polen wies diese Vorwürfe wiederholt als unzulässige Einmischung in die internen Angelegenheiten Polens zurück. Polens Justizminister Zbigniew Ziobro sprach sogar von Erpressung und einer Kolonialherren-Mentalität der EU gegenüber Polen.

Heftige Reaktionen auf dieses Urteil

Diese neue Verfassungsgerichtsentscheidung ist nun die polnische Reaktion auf die immer lauter werdende Kritik der europäischen Institutionen am Kurs der polnischen PiS-Regierung. Gleichzeitig ist sie auch eine offene Kriegserklärung an die EU. Die EU baut auf ihrem, in allen Mitgliedsstaaten verbindlichem, Recht auf. Wird das Unionsrecht von den Mitgliedsstaaten nicht mehr geachtet und durchgeführt, funktioniert die EU als Rechtsgemeinschaft nicht mehr.

Entsprechend deutlich war daher auch die Kritik von führenden Stimmen in Brüssel: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einer Bedrohung der ,,Grundlagen der Europäischen Union“. EU-Parlamentsvizepräsidentin Katarina Barley sprach von einem ,,Dammbruch“ Polens und einem ,,Schlag gegen die Rechtsstaatlichkeit in Europa“. Der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament, Manfred Weber, sah in dem Urteil sogar einen indirekten EU-Austritt Polens.

Auch in Polen kam es zu heftigen Reaktionen. Zwei ehemalige Verfassungsrichter warfen ihren Nachfolger*innen im Gericht mit deutlichen Worten ein vollkommen falsches Verständnis von polnischem Verfassungsrecht und EU-Recht vor. Bis zu 100.000 Pol*innen protestierten nach Aufruf vom pro-europäischen Ex-Premierminister Donald Tusk in Warschau gegen das Urteil und einen drohenden Austritt Polens aus der Union.

Kommt nun der Polexit?

Einzelne Kommentator*innen sprechen nun von einem ,,rechtlichen Polexit“, weil sich Polen scheinbar nicht mehr an grundlegenden Regeln der EU gebunden sieht. Dennoch ist ein tatsächlicher Austritt Polens aus der EU unwahrscheinlich. Nicht nur die polnische Bevölkerung ist mit überwältigender Mehrheit pro-europäisch eingestellt. Auch Ministerpräsident Morawiecki bekräftigte in seiner Rede vor dem Europaparlament am 19. Oktober, in dem er das Urteil des Verfassungsgerichts verteidigte, Polens enge Bindung an Europa und an die Europäische Union. Wahrscheinlicher ist eher eine graduelle Desintegration Polens aus der EU, die ein Fortsetzen der Zusammenarbeit mehr und mehr unmöglich machen wird. Das Verhältnis von Polen zur EU ist jedenfalls auf längere Zeit aufs Schwerste belastet.

Was kommt nun? So sieht die Reaktion der EU aus

Aus dem pro-europäischen Lager kommen daher nun laute Forderungen nach Konsequenzen. Will die EU ihre vielbeschworene Rechtseinheit bewahren, muss sie auf dieses Urteil des Verfassungsgerichts scharf reagieren. Die EU-Kommission kündigte bereits am Tag nach der Urteilsverkündigung an, mit allen vertraglich gegebenen Instrumenten dagegen vorgehen zu wollen. Allerdings sind die Mittel der EU beschränkt: Die EU-Verträge geben den Institutionen nur eingeschränkte Instrumente für ihre Durchsetzung.

Zum einen wird gefordert, weitere Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH anzustrengen, mit denen diese Verletzung des EU-Rechts auch offiziell festgestellt wird. Sollte Polen – wie zuletzt wiederholt – diese Urteile ignorieren, könnte der EuGH auch ein Zwangsgeld gegen Polen verhängen. Ende Oktober verurteilte der Gerichtshof beispielsweise Polen wegen der Nichtbeachtung eines EuGH-Urteils zu einem empfindlichen Zwangsgeld von 1 Millionen Euro pro Tag der Nichtbeachtung.

Daneben besteht die Möglichkeit, im Wege des sogenannten ,,Artikel 7 – Rechtsstaatsverfahrens“ weitere Sanktionen gegen Polen zu erlassen. Dazu gehört insbesondere auch die Möglichkeit des Stimmrechtsentzugs im Rat der Europäischen Union (Artikel 7 Absatz 3 EU-Vertrag). Dieses Verfahren war bis jetzt allerdings erfolgslos, da eine Sanktionierung einen einstimmigen Beschluss im Europäischen Rat erfordert, was angesichts der momentanen politischen Verhältnisse dort unwahrscheinlich ist: Insbesondere Ungarn, aber auch weitere Mitgliedsstaaten, stehen einem solchen Beschluss entgegen, da sie befürchten, mit Polen einen Präzedenzfall für weitere Artikel 7 – Verfahren zu schaffen, die dann auch sie treffen könnten.



Grafik: privat


Als drittes Instrument steht der neue Rechtsstaatlichkeitsmechanismus der EU zur Verfügung. Dieser, erst im Dezember 2020 geschaffene, Mechanismus ermöglicht die Zurückhaltung von Mitteln aus dem nächsten EU-Haushalt bei schwerwiegenden Rechtsstaatsuntergrabungen. Der große Vorteil dieses Mechanismus sind die sofort spürbaren Konsequenzen der Zurückhaltung von EU-Mitteln. Polen soll nämlich etwa 36 Milliarden Euro aus dem NextGenerationEU-Haushalt erhalten – was fast 7 % der polnischen Wirtschaftsleistung darstellen würde. Allerdings würden diese Sanktionen damit auch die Bürger*innen Polens treffen, die die EU augenscheinlich nicht bestrafen möchte.

Darüber hinaus ist der EU-Rechtsstaatsmechanismus auch europarechtlich nicht unumstritten – Polen und Ungarn klagen momentan gegen ihn vor dem EuGH.

Welche genaue Wirkung diese Maßnahmen hätten und ob sie in der Lage wären, die Rechtsstaatskrise in Polen aufzulösen, ist noch unklar. Vieles hängt auch vom weiteren Kurs der polnischen Regierung ab, die unter erheblichen europäischen und innenpolitischen Druck steht. Das letzte Wort in der europäischen Rechtsstaatskrise ist jedenfalls gewiss noch nicht gesprochen.

Ihr Kommentar
Vorgeschaltete Moderation

Achtung, Ihre Nachricht wird erst nach vorheriger Prüfung freigegeben.

Wer sind Sie?

Um Ihren Avatar hier anzeigen zu lassen, registrieren Sie sich erst hier gravatar.com (kostenlos und einfach). Vergessen Sie nicht, hier Ihre E-Mail-Adresse einzutragen.

Hinterlassen Sie Ihren Kommentar hier.

Dieses Feld akzeptiert SPIP-Abkürzungen {{gras}} {italique} -*liste [texte->url] <quote> <code> et le code HTML <q> <del> <ins>. Absätze anlegen mit Leerzeilen.

Kommentare verfolgen: RSS 2.0 | Atom