Estland - Der baltische Tigerstaat

, von  Jonas Botta

Estland - Der baltische Tigerstaat
Die Hafenstadt Tallinn ist die Hauptstadt Estlands, das sich 1991 unabhängig erklärte. Jeder dritte Einwohner der Stadt spricht Russisch. Foto: © Dennis G. Jarvis / Flickr (Link) / CC BY-SA 2.0-Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/legalcode)

Vor zehn Jahren nahm die Europäische Union zehn Länder als neue Mitglieder auf. Die EU wurde größer, bevölkerungsreicher und östlicher. Treffpunkt Europa stellt in einer Serie die jungen Mitgliedsstaaten zehn Jahre nach der Erweiterung vor. Den Anfang macht unser Autor Jonas Botta mit einem Blick auf Estland.

Estland hat sich im letzten Vierteljahrhundert massiv gewandelt. Von der sozialistischen Sowjetrepublik zur wirtschaftlich aufstrebenden Demokratie und zum EU-Mitglied. Der baltische Staat hat nicht nur der Finanzkrise getrotzt, sondern ist auch Vorreiter in der Digitalisierung der Demokratie und Ideengeber für Projekte wie den kostenlosen öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV).

Aufbruch nach der Singenden Revolution

Nach jahrhundertelanger Fremdherrschaft, die nur von einer kurzen Epoche staatlicher Souveränität nach dem Ersten Weltkrieg durchbrochen war, konnte Estland nach dem Zusammenbruch der UdSSR im März 1990 seine Unabhängigkeit erklären. Vorausgegangen war die so genannte Singende Revolution. Sie trägt diesen Namen wegen den demonstrierenden Bürgern, die die zuvor verbotene estnische Nationalhymne bei ihren Kundgebungen für die nationale Unabhängigkeit sangen.

In den darauffolgenden Jahren profitierte Estland von einem massiven wirtschaftlichen Aufschwung, der auf den engen wirtschaftlichen Beziehungen zu den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sowie den niedrigen Steuer- und Abgabequoten basierte. Die Annäherung Estlands, aber auch Lettlands und Litauens, an die EU war zugleich das Bestreben gegen eine neue Abhängigkeit von Russland. Der wirtschaftliche Erfolg brachte den drei Staaten die Bezeichnung als baltische Tiger bei.

Aus der Krise gespart

Seine Vollendung erfuhr die Annäherung Estlands an die EU mit dem Beitritt im Jahr 2004. Eine Einführung des Euros war für das Jahr 2007 geplant. Davon erhoffte man sich einen noch stärkeren wirtschaftlichen Aufschwung. Tatsächlich übertrafen das Wirtschaftswachstums Estlands sowie Lettlands 2006 das der Volksrepublik China. Nur die hohe Inflationsrate verzögerte die Euro-Einführung um vier Jahre. Noch einschneidender als die Währungsreform war jedoch die Finanzkrise im Jahr 2007. Innerhalb kurzer Zeit brach die Wirtschaftsleistung des Landes massiv ein, allein im Jahr 2009 um 14 Prozent. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 17,5 Prozent, eine der höchsten Quoten in Europa. Doch im Gegensatz zu seinem lettischen Nachbarn, der sich von EU und IWF finanziell aushelfen lassen musste, steuerte die estnische Regierung der Finanzkrise mit einer strengen Sparpolitik entgegen. Das Rentenalter wurde angehoben, im öffentlichen Dienst wurden die Gehälter um ein Viertel gekürzt, das Gesundheitssystem weiter verschlankt und selbst an der Straßenbeleuchtung der estnischen Hauptstadt Tallin wurde gespart. Die rigiden Sparmaßnahmen ermöglichten im Jahr 2011 letztendlich doch noch die Euro-Einführung. Außerdem wurde die regierende konservativ-liberale Koalition unter Andrus Ansip anders als in den meisten von der Finanzkrise massiv betroffenen Ländern in ihren Ämtern bei den letzten Parlamentswahlen bestätigt. Mittlerweile soll Ansip Mitglied der neuen Europäischen Kommission werden. Dies steht ganz im Kontext des parteiübergreifenden Konsenses, trotz der harten Sparpolitik weiter den Weg nach Europa zu suchen. Nichtsdestotrotz ist mit der Sparpolitik eine große soziale Ungerechtigkeit zwischen den gesellschaftlichen Schichten geschaffen worden, die das Land noch weiter beschäftigen wird.

Digitale Demokratie und kostenloser ÖPNV

Unbeachtet dieser Zwiespältigkeit von Finanz- und Sozialpolitik ist es insbesondere die Demokratiemodernisierung, von der die übrigen EU-Mitgliedstaaten noch viel lernen können. So ist es in Estland möglich, bei den Parlamentswahlen sowohl per Internet als auch per SMS zu wählen. Bei den letzten Wahlen im Jahr 2011 wurden beinahe 25 Prozent aller Stimmen über das Internet abgegeben. Insgesamt nimmt die digitale Beteiligung (auch E-Voting genannt) konstant zu. Dabei steht es den Wählern bei beiden Varianten frei, ihre Entscheidung durch erneue Stimmabgabe zu revidieren. Eine tatsächliche Erhöhung der Wahlbeteiligung geht damit jedoch nicht einher. Dennoch wird die Stimmabgabe dadurch immer niedrigschwelliger gestaltet. Ein weiteres fortschrittliches Projekt, das in Deutschland bisher vergeblich gefordert wurde, ist der kostenlose öffentliche Nahverkehr in Tallin. Ausgeglichen wird der daraus entstehende Verlust durch Steuereinnahmen – insbesondere von den aufgrund der Kostenfreiheit neu nach Tallin ziehenden Menschen. Ein Referendum bestätigte diese Entscheidung.

Europäischer Ideenmotor

Damit ist Estland in den letzten Jahren zu einem wichtigen Impulsgeber für progressive Projekte in der EU geworden. Die Begeisterung für die EU schwindet in der Bevölkerung dennoch. Dies ist wohl auch eine Folge der harten Sparpolitik. So nimmt die Zustimmung zum Euro immer weiter ab und auch die Beteiligung zur Europawahl sank von 2009 auf 2014 um rund sieben Prozent. Die EU und Estland müssen sich damit auseinandersetzen, wie sie gekonnt weiter von einander profitieren können. So könnten beispielsweise die estnischen Erfahrungen mit der digitalen Demokratie ein wichtiger Ansatz für eine Demokratiereform der EU sein.

Für Estland selbst ist eine enge Zusammenarbeit insbesondere mit Blick auf die Geschehnisse in der Ukraine und die Ausbreitung der russischen Machtsphäre dringlicher denn je. Immerhin gehören ein Viertel der estnischen Bevölkerung zur russischen Minderheit.

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