Europäische Geschichte

EU-Entwurf im 15. Jahrhundert? Georg von Podiebrad und sein europäisches Bündnisprojekt

, von  übersetzt von Katja Friedewald

Alle Fassungen dieses Artikels: [Deutsch] [ελληνικά] [français]

EU-Entwurf im 15. Jahrhundert? Georg von Podiebrad und sein europäisches Bündnisprojekt
Kloster Strahov in Prag, der Hauptstadt des ehemaligen Königreichs Böhmen, heute Tschechische Republik. Foto: Pixabay / Izoca / Pixabay Lizenz

Europa durchläuft seit Jahrhunderten einen unermüdlichen Konstruktionsprozess. Bereits lange bevor das politische Projekt der Europäischen Union in seiner jetzigen Form Wirklichkeit wurde, gab es Versuche, die Völker des Kontinents unter einem gemeinsamen politischen Dach zu einen. Um 1460 ging ein solches Bestreben von Zentraleuropa aus, namentlich vom böhmischen König Georg von Podiebrad. [1]

Podiebrad erarbeitete einen Vorschlag für eine Konföderation der europäischen Königreiche seiner Zeit. Um die verschiedenen Könige und Fürsten von seiner Idee zu überzeugen, sandte er eine Delegation aus, die für das Kooperations- und Friedensprojekt werben sollte.

Für das Unionsprojekt von König Podiebrad gab es zwei Hauptauslöser: Der erste bestand im Fall Konstantinopels im Jahr 1453, aus damaliger Sicht interpretiert als Anzeichen für den beginnenden Zerfall der christlichen Vorherrschaft und die drohende Eroberung Europas durch osmanische Truppen. Der zweite Beweggrund war die Wahl von Papst Pius II. im Jahr 1458, welcher sich deutlich gegen eine religiöse Doppelaufstellung Böhmens aussprach. [2] Podiebrads Projekt sollte somit sein Image bei den benachbarten Königreichen aufpolieren und zugleich den Papst daran hindern, das vorwiegend hussitische Böhmen vom restlichen Europa zu isolieren.

Historisch-politische Ausgangslage

Der Unionsvorschlag Podiebrads musste einer komplizierten geopolitischen Lage Rechnung tragen. Er sollte zugleich den Ambitionen des Königreichs Frankreich genügen, die Interessen der italienischen Städte berücksichtigen, dem Königreich Ungarn Hoffnung auf Unterstützung gegen die Osmanen machen, den deutschen Fürsten gefallen und den Bedürfnissen des Königreichs Polen, dem engsten Verbündeten Böhmens, entsprechen.

Hinzu kamen die eigenen Probleme, Befürchtungen und Interessen des Königs und des Hofes. Auf innenpolitischer Ebene lag das Hauptaugenmerk der Bemühungen letztlich darauf, die territoriale Integrität und die Unabhängigkeit Böhmens zu garantieren. Podibrad sah sich also vor der Aufgabe, diese essenziellen nationalen Interessen mit denen seiner europäischen Nachbarn unter einen Hut zu bringen.

Doppelte Zielsetzung

Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf ließ der böhmische König ein internationales, multilaterales Abkommen erarbeiten, offen für die christlichen Herrschaftsgebiete. Es beinhaltete im Wesentlichen zwei Teile: Erstens erfolgt in der Präambel ein Aufruf zum gemeinsamen Kampf gegen die vorrückenden Osmanen. Zweitens wird der Entwurf einer Union der christlichen europäischen Länder in Form einer Konföderation vorgestellt: [3]

„Wir haben beschlossen, wie nachfolgend beschrieben eine Allianz zur Herstellung von Union, Frieden, Brüderlichkeit und unerschütterlicher Eintracht zu gründen, zur Ehrung Gottes, Verteidigung des Glaubens, auf ewig für uns selbst, unsere Erben und unsere Nachfahren." [Übers. K.F.]

Hiermit ausgestattet entsandte der König seine Botschafter zu den benachbarten Herrschern, sein Friedensprojekt vorzustellen. Ein Projekt, das ein institutionelles und politisches Gleichgewicht zwischen den Akteuren sicherstellen sollte und hierfür die Einführung eines gemeinsamen Parlaments und eines gemeinsamen Gerichtshofes vorsah.

Umgang mit Krieg

Der Projektentwurf sah darüber hinaus vor, dass das Einverständnis der Konföderation eingeholt werden muss, bevor in internationalen Konflikten zur Waffe gegriffen wird. Podiebrad legte demnach ein echtes Bestreben an den Tag, bewaffnete Auseinandersetzungen und Kriegshandlungen einzugrenzen. Dieser Vorschlag ist bemerkenswert für seine Zeit, unterwirft er doch die militärische Entscheidungsgewalt – eines der wichtigsten Hoheitsrechte eines Staates – gerichtlichen Zwängen.

Die ersten drei Artikel des Traktats sehen folglich vor, dass die Unterzeichneten sowohl von bewaffneten Kämpfen als auch von Verschwörungen gegeneinander absehen. Zusätzlich ist gegenseitige Unterstützung angelegt, sollte einer der Mitgliedsstaaten angegriffen werden.

Das Projekt hatte nicht nur die Aufgabe, den Frieden zu sichern und Krieg zwischen den Mitgliedern zu verhindern. Es mussten ebenso Auseinandersetzungen mit Nicht-Mitgliedsstaaten ins Auge genommen werden. Podiebrad sah durchaus, dass Krieg an der Grenze des zukünftigen Zusammenschlusses die Konföderationsgemeinschaft dazu zwingen könnte, sich militärisch zu engagieren und so den angestrebten Frieden zu brechen. Deshalb sieht der Entwurf im Konfliktfall zunächst eine Mediation zwischen den involvierten Staaten vor. Falls trotz dieser Bemühungen Krieg ausbrechen sollte, garantiert die Konföderation derjenigen Partei Unterstützung, die die friedliche Mediation im Vorfeld akzeptiert hatte.

Gescheiterte Umsetzung

Georg von Podiebrad schickte also Delegierte auf die Reise, in die Republik Venedig und in die Königreiche Polen, Ungarn und Frankreich. Dort sollten sie Möglichkeiten zur Umsetzung des Konföderationsprojektes ausloten. In Frankreich angekommen, wurden die Botschafter jedoch mit wenig Begeisterung empfangen und die Hoffnungen des böhmischen Königs somit zerstört. Die Verhandlungen mit Ludwig XI. führten zwar zu einer Erneuerung des böhmisch-französischen Bündnisses, allerdings nicht zu einer Zusage zum vorgeschlagenen europäischen Bündnis.

Obwohl das Projekt letztlich nicht in die Praxis umgesetzt wurde, verdeutlicht es doch eine neue geopolitische Situation im 15. Jahrhundert. Die Tatsache, dass weder dem Papst noch dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, beide seit dem 11. Jahrhundert Hauptakteure im Kampf um die christliche Vorherrschaft, besondere Vorrechte zugesprochen werden sollten, fügt das Projekt in den Beginn einer neuen Ära ein: Jene der aufstrebenden Nationalstaaten.

Anmerkungen

[1Das Königreich Böhmen befand sich in Mitteleuropa, im westlichen Teil der heutigen Tschechischen Republik.

[2Ab dem Jahr 1436 bestand für die Bevölkerung Böhmens individuelle Wahlmöglichkeit zwischen dem katholischen und dem hussitischen Glauben. Unter dem Begriff Hussiten werden Anhänger von Reformbewegungen im 15. Jahrhundert, also rund ein Jahrhundert vor der protestantischen Reform, zusammengefasst.

[3Die vollständige Textquelle findet sich in folgendem Werk: Denise Péricard-Méa, De la Bohême jus-qu’à Compostelle. Aux sources de l’idée d’union européenne, Biarritz, atlantica, 2008, p. 115−129.

Ihr Kommentar
Wer sind Sie?

Um Ihren Avatar hier anzeigen zu lassen, registrieren Sie sich erst hier gravatar.com (kostenlos und einfach). Vergessen Sie nicht, hier Ihre E-Mail-Adresse einzutragen.

Hinterlassen Sie Ihren Kommentar hier.

Dieses Feld akzeptiert SPIP-Abkürzungen {{gras}} {italique} -*liste [texte->url] <quote> <code> et le code HTML <q> <del> <ins>. Absätze anlegen mit Leerzeilen.

Kommentare verfolgen: RSS 2.0 | Atom