Europa: Kranker Mann der Welt

, von  Thomas Cassar Ruggier, übersetzt von Jagoda Pokryszka

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Europa: Kranker Mann der Welt
Satirische Karte von Europa aus dem Jahr 1914 Fotoquelle: Wikimedia Commons / Hamburg : Druck u. Verlag W. Nölting, Kaiser Wilhelmstrasse 93 / Public Domain

Es gab die Zeit, als sich die europäischen Staatssysteme erst entwickelten und Europa sich im Schatten des Osmanischen Reiches befand. Geführt von den ehrgeizigen Sultanen, unter anderem von dem berühmten Süleyman dem Prächtigen, hat das Reich mit den europäischen Mächten gerungen. Auf dem eigenen Territorium hat es aber ein Staatssystem etabliert, das dem Reich die Kontrolle über die verschiedenen unter seiner Herrschaft lebenden Volksgruppen gegeben hat.

Im 19. Jahrhundert hat die Situation des Osmanischen Reichs folgendermaßen ausgesehen: das zerfallende korrupte System, Zwistigkeiten im Königshaus, die Armee, die zu schwach war, um ihre Autorität über Istanbul auszuüben, sodass manche Gebiete abtrünnig wurden. Der russische Zar Nikolaus I hat sich sogar den Begriff „kranker Mann Europas“ ausgedacht, um die Schwäche des Osmanischen Reiches zu schildern, das zum geopolitischen Spielball europäischer Mächte wurde. Dieser vereinfachte Blick auf die Geschichte des Osmanischen Reiches lässt eine Parallele zur Situation Europas nach dem zweiten Weltkrieg ziehen.

Während die Osmanen langsam ihre Position verloren, wurde Europa eine Macht, mit der man rechnen musste. Die vor Nationalismus sprudelnden Staaten in West- und Mitteleuropa haben schnell den Prozess der Industrialisierung vollzogen und waren damit beschäftigt, das 19. Jahrhundert zum Jahrhundert der europäischen Dominanz zu machen. Stichwort: Kolonialismus, der Südamerika, Afrika und Südostasien unter europäische Kontrolle gestellt hat. Diese Zeit der Macht hatte jedoch ihren Preis: der von den Europäer*innen gepriesene Nationalismus, der zu ihrer globalen Dominanz beitrug, hat später den Niedergang des Kontinents verursacht. Die technologischen Neuigkeiten, die das Leben moderner und bequemer machten, haben auch die Vernichtung und das Elend des zweiten Weltkriegs gebracht.

Das Europa, das wir heute kennen, ist das Produkt der Nachkriegsära. Nach zwei Kriegen, die eine verheerende Wirkung auf den ganzen Kontinent hatten, haben die Europäer*innen durch Integration das System der Zusammenarbeit aufgebaut. Es ist gelungen, ein einzigartiges System zu entwickeln: eine Union, die weder eine internationale Organisation noch ein Staat, wohl aber die Kombination aus beiden ist.

Es ist gelungen, ein Europa zu gestalten, das den Krieg ablehnt.

Dennoch steht das moderne europäische System vor Herausforderungen. Diese Situation stellt die multikulturelle EU in dieselbe Position wie früher das multiethnische Osmanische Reich.

Das zerfallende korrupte System

Es wäre ein Fehler, zu behaupten, dass ganz Europa unterm Strich korrupt ist und zerfällt. Obwohl Europa ein Problem mit Korruption hat, hat es – im Gegensatz zum System, mit dem es verglichen wird – die Institutionen, die für den Machtausgleich sorgen.

Dies ändert aber nicht die Tatsache, dass das politische System von Grund auf herausgefordert wird. Wir beobachten eine massive Veränderung im Parteiensystem: die Leute wählen populistische Parteien, die die Emotionen ihrer Wähler ausnutzen und die demokratische Ordnung aufs Spiel setzen.

Die Serie der Krisen, die 2008 begann, hat den Populist*innen Tür und Tor geöffnet, weil diese eine Rechtfertigung des Misstrauens gegenüber Politiker*innen bot. Meiner Meinung nach gibt es noch einen weiteren Grund und zwar den der Ideologie.

Seitdem der Neoliberalismus zur Grundlage der Regierungspolitik geworden ist, haben die Mainstream-Parteien auf ihre Ideologien verzichtet und allgemeinere Stellungen bezogen. Als die linke und rechte Mitte in das breite Zentrum fusionierten, ist ein Raum entstanden, der von den anderen Parteien gefüllt wurde. Genau zu dem Zeitpunkt, als die Krise für den „kleinen Mann“ zur Norm wurde.

Die Situation auf dem europäischen Niveau ist komplizierter. Während sich die Oberschichten aufgrund der erwähnten Verschiebungen im Parteiensystem ändern, wählen andere wegen scheinbarer Bürokratie des europäischen Systems die populistischen Parteien.

Was der Grund für Europas Geburt war, mag nun der Grund für seinen möglichen Niedergang sein. Die EU kreist um Konsens und Zusammenarbeit, deshalb bedarf sie komplizierter Prozedere, um eine Änderung zu bewirken. Aus der PR-Perspektive kann die EU für eine durchschnittliche Person langweilig und unattraktiv wirken.

Die einzelnen Bereiche könnten tatsächlich reformiert werden, aber das Problem liegt darin, dass das europäische Projekt von den politischen Eliten geschmiedet wurde. Europa, wie wir es kennen, wurde durch internationale Beziehung gestaltet und man könnte deswegen behaupten seine demokratische Natur sei weiterhin zu wenig entwickelt.

ZWISTIGKEITEN IM KÖNIGSHAUS

Die Idee des Königshauses sollte nicht buchstäblich genommen werden. Ich glaube, dass dieser Begriff ziemlich gut die Eliten beschreibt. Es gibt zwei mögliche Szenarien: entweder es kommt zum Streit der Eliten, die an die europäische Integration glauben oder zum Streit zwischen den Integrationsanhänger*innen und Nationalist*innen.

Dies wird sich zweifellos auf das gesamteuropäische System auswirken. Obwohl die Regierungen in Ungarn, Polen und Italien gute Beispiele für nationalistische Regierungen sind, bemerken wir keine destruktiven Ausschreitungen, wie das Ende der EU. Was doch zu beobachten ist, ist eine Verschiebung von der liberalen zur illiberalen Demokratie ohne Ausgleich der einzelnen Gewalten, was am besten durch Viktor Orbans Ungarn veranschaulicht wird.

Dieser Regierungstyp ist selbstverständlich ein Rückschlag für die liberale Ordnung, aber noch schlimmer ist der Streit zwischen den Integrationsanhänger*innen selbst. Die Diskussionen darüber, welches Europa sie wollen, schwächen nur ihre Positionen, während Populist*innen, Nationalist*innen und Euroskeptiker*innen ein genaues Ziel haben – unser Land zuerst. Das könnte bedeuten, dass sie auch miteinander in irgendwelche Diskussionen eingebunden wären, aber die Logik „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ überwiegt doch.

DIE SCHWACHE ARMEE

Das kann man sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinne sehen.

Im übertragenen Sinn ist das Militär ein Symbol der Autorität. Wenn die Staaten gegen die europäischen Werte stoßen, scheinen die EU-Institutionen nicht wirklich bereit zu sein, um zu kämpfen. Obwohl symbolische Entscheidungen getroffen wurden, wurden keine Maßnahmen gegen ein Land ergriffen, das sich ihrer scheinbar schwachen Autorität entzieht.

Buchstäblich gesehen ist Europa keine Militärmacht mehr. Ich will nicht missverstanden werden – keinesfalls bin ich für die Rückkehr zum Kolonialismus – aber der zweite Weltkrieg hat die Europäer*innen allergisch auf das Militär gemacht. Dennoch sollte man sich nicht vollkommen auf die Kräfte aus dem Ausland – sprich der USA – verlassen. Die Allianzen auf der Globalskala sind zwar notwendig, aber die europäischen Eliten müssen auf ihr nationalistisches Ego verzichten und eine engere militärische Zusammenarbeit anstreben.

Europa ist an und für sich einzigartig. Es hat das Undenkbare erreicht, indem es Nationen vereint hat. Es ist das Bollwerk der Demokratie und Freiheit. Wir sollten uns aber nicht der Realität entziehen.

Global gesehen ist Europa schwach, sowohl von innen als auch von außen, verglichen mit den anderen Supermächten. Seine Schwäche ist durch den Charakterwechsel verursacht. Daraus kommen wir entweder als reformiertes und liberales Europa oder völlig geteilt heraus.

KRANKER MANN DER WELT

In gewissem Maße haben wir schon eine Idee, wie die Reformierung Europas aussehen sollte. Wir haben zwar Europa, das auf der ökonomischen Ebene integriert ist, aber das Parteiensystem wird weiterhin von den nationalen Parteien kontrolliert. Es gibt zwar die europäischen Parteien, die sich aus den nationalen Parteien zusammensetzen, aber die psycho-emotionalen Grenzen, die die politische Landkarte Europas definieren, sind weiterhin sehr stark in uns verankert. Dies bedeutet, dass die nationalen Parteien - trotz der Anwesenheit der europäischen Parteien – einander während der Wahlkampagnen nicht helfen. Das verhindert die Lösung des Problems – wir müssen unsere Komfortzonen verlassen. Nur dadurch kann man die weiteren Reformen auf verschieden Gebieten umsetzen.

Ich befürworte nicht den kompletten Ersatz des jetzigen Modells, sondern nur die Fehlerbehebung mit Rücksicht auf die Staatsloyalität. Europa kann man nicht an einem Tag bauen. Wenn wir aber das Parteiensystem nicht ändern, bleibt Europa der neue kranke Mann.

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