Europäischer Mindestlohn: Demystifizierung einer Patentidee

, von  Théo Boucart, übersetzt von Patrick Geneit

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Europäischer Mindestlohn: Demystifizierung einer Patentidee
Fotoquelle: Flickr / Adrian Korte / CC BY 2.0

Es ist eine Idee, die seit den 1990er-Jahren diskutiert wird, eine Leitidee für ein sozialeres und gerechteres Europa: Ein europäischer Mindestlohn oder exakter gesagt, eine „Europäische Norm für einen Mindestlohn“. Das Für und Wider eines europäischen Mindestlohns. Das Thema macht besonders die Runde im Herzen der Redaktion. Für Théo Boucart gilt, dass sofern der Vorschlag vielversprechend ist, der Spielraum der EU nahezu null ist. Dadurch müssen andere realistische Alternativen ins Visier genommen werden.

Jean-Claude Juncker ließ während seiner Wahlkampagne im Jahr 2014 verlauten: Er wollte, dass jeder Mitgliedsstaat der EU ein Mindestlohnsystem besäße, welches an seine wirtschaftlichen Strukturen angepasst ist. Eine solche europäische Norm würde es erlauben, gegen sozialen Dumping aus Mitgliedsstaaten im Kohäsionsfonds vorzugehen. Diese Situation der „sozialen Optimierung“ ist ein wahrhaftes Desaster für das Image der europäischen Institutionen und jede Art von Vorschlag, die in Richtung eines geeinten Europa geht, welche ja schützen soll, ist eine notwendige Sache. Trotzdem wäre die sehr hypothetische Idee eines europäischen Mindestlohns weit entfernt davon, ausreichend zu sein.

Welcher Mindestlohn für welche Länder?

Die uneinheitliche Situation der EU Man muss schon das Problem an der Wurzel packen und eine Übersicht für einen Mindestlohn in der EU herstellen. Im Jahr 2018 besaßen 22 Länder eine solche Entlohnungsregelung (nur Österreich, Zypern, Dänemark, Finnland, Italien und Schweden nicht). Und schwierig genug, kann unter diesen 22 die Situation noch uneinheitlicher werden: Wenn man in Euro mit Berücksichtigung von Kaufkraftparitäten rechnet, schwanken die Mindestlöhne von 546€ in Bulgarien bis zu 1597€ in Luxemburg (der Abstand wird noch offensichtlicher beim Rechnen mit nominalen Euro, nämlich von 261€ bis zu 1999€). Das Verhältnis des Mindestlohns zum Durchschnittslohn ist genauso verschieden: Es beträgt weniger als 40% in Tschechien, hingegen fast 65% in Portugal. Also sind auch die Anteile derer, die den Mindestlohn verdienen, sehr verschieden: Dieser geht von 0,5% in Spanien bis nahezu 20% in Slowenien.

All diese Indikatoren zeigen eine sehr vielfältige Lage, ein Zeichen, dass die Lohnpolitik eines Landes die Früchte eines Wirtschafts- und Sozialsystems ist, die diese auch ist. Das ist auf jeden Fall ein Teil dessen Souveränität, die hier betroffen ist. Noch schwieriger ist, dass die Verhandlungen über einen Mindestlohn je nach Land sehr unterschiedlich sein können. Aber bevor an einen europäischen Mindestlohn gedacht wird, muss noch geklärt werden… was eigentlich ein solcher europäischer Mindestlohn wäre.

Wie könnte eine europäische Mindestlohnnorm aussehen?

Das könnte klar scheinen, aber es ist hier nicht das Thema, einen vorgegebenen, einheitlichen Mindestlohn für die Gesamtheit der EU festzulegen, die Verschiedenheit des Europäischen Binnenmarkts würde eine solche Einführung unmöglich machen. Daher sollte besser an einen einheitlichen und unionsweiten Prozentsatz vom Durchschnittslohn (je nach Mitgliedsstaat) als Mindestlohn gedacht werden. Wie vorher geschrieben, der Spannweite dieses Prozentsatzes erstreckt sich von 40% bis 65%, was enorm ist. Der Europarat schlug Ende der 1990er-Jahre einen Schwellenwert von 60% vor, um einen „gerechten Lohn“ zu bewerkstelligen, der ein gewissen soziokulturellen Lebensstandard ermögliche. [4] Aktuell haben drei Länder einen Mindestlohn gleich oder höher als 60% des Durchschnittslohns (Slowenien, Frankreich und Portugal). Eine solche Harmonisierung oder Angleichung nach oben wäre extrem schwierig zu erzielen.

Man muss trotz alledem erkennen, dass die Einführung einer ehrgeizigen europäischen Mindestlohnnorm Vorteile erbringen würde: Sie würde es ermöglichen, gegen Armut und gegen eine wachsende Ungleichheit vorzugehen. In einer wirtschaftlichen Krisenphase würde ein europäischer Mindestlohn auch spürbar den Konsum und die Nachfrage antreiben, da im Niedriglohnsektor die Konsumbereitschaft viel wichtiger als im Hochlohnsektor ist, welche dazu neigt, zu sparen. Aber genug der grauen Theorie, jetzt muss über eine konkrete Anwendung dieser Idee nachgedacht werden. Und da liegt der Hund begraben.

Die Europäische Union besitzt eine sehr eingeschränkte Handlungsreichweite in der Lohnpolitik

Die Kompetenzen der EU in der Sozialpolitik sind sehr eingeschränkt, sie ist es noch mehr in der Lohnpolitik. Um ehrlich zu sein, die Institutionen hatten sogar ihr Wort in dem Bereich zu sagen… Aber von einer vermittelnden Perspektive war es desaströs. Während der Eurokrise forderte die Troika strukturelle Reformen in Griechenland und in Portugal, nämlich beispielsweise eine Senkung des Mindestlohns (dieser sackte in Griechenland seit 2008 ab). Nach dieser wenig glanzvollen Phase ist es nun noch schwieriger für die EU geworden, in diesem Bereich eine Harmonisierungspolitik für einen Mindestlohn zu verfolgen. Auf jeden Fall wird die Kommission langsam und schrittweise voranschreiten müssen, um die Mitgliedsstaaten davon zu überzeugen, ihre unterschiedlichen Lohnpolitiken anzugleichen. Die existentielle Krise, die die EU durchzieht, erlaubt es leider nicht, sich viel Zeit nehmen zu lassen, es müssen andere Ideen gefunden werden, um gegen Sozialdumping zu kämpfen.

Der Kostenwettbewerb, ein Leitsatz, der zu bekämpfen ist

Es ist eine weit verbreitete Idee, dass die Unterschiede in den Löhnen das Sozialdumping begünstigt. [5] Die Länder Mittel- und Osteuropas schicken tausende unterbezahlte Arbeiter, die Arbeitsplätze in Westeuropa wegnehmen würden. Dieser Gedanke ist sehr übertrieben, sie ist bedauerlicherweise zynisch… aber sie besitzt trotzdem einen wahren Kern. Länder wie Polen oder Rumänien folgen absolut diesem sogenannten Kostenwettbewerb, um ihren Rückstand zu überbrücken und diese verweigern sich jeglicher Überarbeitung der Rechtsetzung, was entsandte Arbeitnehmer betrifft. Das Problem sind nicht die solchen Arbeitnehmer per se, sondern der Missbrauch der Unternehmen, die nicht dabei zögern, Regelungen zu verletzen, sodass ein immer zu geringer Lohn ohne das Recht auf soziale Teilhabe und Würde gezahlt wird. Mit der Einführung einer gemeinsamen Mindestlohnnorm zum Wohle der Arbeitnehmer müssen auch Kontrollen verpflichtend werden, um sicherzugehen, dass Arbeitnehmer nicht ausgebeutet und dass ihre Arbeit nicht den Arbeitern in Osteuropa schadet.

Dennoch selbst mit einem harmonisierten Mindestlohn wird es immer Unterschiede geben, mit denen man rumspielen kann – aus einem einfachen und guten Grund: Es gibt auch Unterschiede im Lebensstandard im Binnenmarkt (auch wenn diese zwischen Ost und West erheblich seit 2008 geschrumpft sind). Die Besessenheit von dieser „Wunderidee“ ist der Beweis dafür, dass viele wirtschaftliche und politische Akteure nicht über Kostenwettbewerb schimpfen, das Heilmittel, um der deregulierten Globalisierung entgegenzuwirken. Das hat vor allem zu einem voranschreitenden Sinken von Löhnen geführt. Eine alternative und effektive Lösung wäre es gerade, einen Wettbewerb für eine europäische Wirtschaft zu entwickeln, ohne den Kostenteil. Die Energiewende bietet sowieso eine gute Gelegenheit, eine regionale Spezialisierung wäre vorstellbar (ein Energiemix bestehend aus der Windkraft aus den nördlichen Ländern, der Solarenergie aus dem Süden, der CO²-Rückgewinnung in den Kohleländern wie Polen oder Rumänien), dazu eine Entwickler- und Innovativpolitik mit großem Wert. Dieses föderative Projekt wäre ein wahrhaftiger Segen, um eine reale Angleichung der wirtschaftlichen Systeme und der Lebensstandards der Europäer zu sichern und damit dem Sozialdumping innerhalb Europas ein Ende zu bereiten.

Einen solchen Wettbewerb ohne Kostenfaktor zu entwickeln, kann gut mehrere Jahre, sogar Jahrzehnte in Anspruch nehmen, aber das scheint eine einfachere Idee zur Verwirklichung zu sein, einfacher als eine europäische Mindestlohnnorm, welche letztlich nicht ausreicht, ein Europa zu verwirklichen, welches schon besser so schützt.

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