Als der französische Präsident Emmanuel Macron im September 2017 seine europapolitische Grundsatzrede hielt, forderte er die Unterzeichnung eines neuen Elysée-Vertrags. Die Idee: Wie schon im Jahr 1963 sollten Deutschland und Frankreich einen weitreichenden Freundschafts- und Kooperationsvertrag unterzeichnen, um nicht nur gemeinsame Initiativen auf bilateraler Ebene durchzuführen, sondern auch gemeinsam als deutsch-französischer Motor die europäische Integration voranzubringen. In Ermangelung einer Regierung in Deutschland ist die Neuauflage des deutsch-französischen Vertrags 55 Jahre nach der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags ausgeblieben. Was ein starkes Symbol und ein klares und vertraglich festgehaltenes Bekenntnis zur Verpflichtung Deutschlands und Frankreichs zur Vertiefung der europäischen Integration hätte sein können, muss daher nun außerhalb eines Vertragswerks seinen Weg finden. Dabei ist für Deutschland und Frankreich gleichermaßen klar, dass eigene europapolitische Ziele nur in enger Kooperation mit dem jeweilig anderen umsetzbar sind.
Von der Erbfeindschaft zur privilegierten Partnerschaft
Die deutsch-französischen Beziehungen sind einmalig und das Ergebnis einer langen gemeinsamen Geschichte. Nach mehreren verlustreichen Kriegen und einer Erbfeindschaft entwickelte sich nach dem zweiten Weltkrieg eine enge Freundschaft zwischen den beiden Staaten. Es besteht kein Zweifel daran, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit zu Anfang keinesfalls eine Herzensangelegenheit, sondern viel mehr pragmatisch motiviert war. Die in der berühmten Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 formulierte Idee war die Vermeidung von Krieg durch die Vergemeinschaftung der Kohle-und Stahlproduktion der teilnehmenden Länder und damit vorrangig eine indirekte Kontrollmöglichkeit über die deutsche Rüstungsindustrie, da die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich von großen Misstrauen geprägt waren. Dennoch gelang es den beiden Staaten, sich zu einigen; gemeinsam mit den Benelux-Ländern und Italien gründeten sie die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Damit war der Funktionalismus als Muster der europäischen Integration geboren - nach dem Motto „form follows function“ ergibt sich die institutionelle Struktur aus einem konkreten Sachproblem.
Diese Methode erwies sich nicht nur für die europäische Integration und die kommenden Verträge als erfolgreich, sondern auch für die deutsch-französische Kooperation. Der am 22. Januar 1963 unterschriebene Elysée-Vertrag („Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit“) sah etwa die Zusammenarbeit in den Bereichen der Auswärtigen Angelegenheiten einschließlich europäischer Angelegenheiten, Verteidigung und insbesondere Jugend-und Erziehungsfragen vor. Konkret entstanden aus dem Vertrag die Einrichtung regelmäßiger Treffen auf Regierungsebene sowie die Gründung des deutsch-französischen Jugendwerkes, sodass sich Deutschland und Frankreich sowohl auf höchster politischer als auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene schrittweise annäherten. Heute, 55 Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrags durch Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, hat Deutschland zu keinem Land engere Beziehungen als zu Frankreich: Die Koordination in nahezu allen Politikfeldern ist sehr eng, und insbesondere in schwierigen europapolitischen Fragen oder Krisen ist die Antwort in aller Regel eine gemeinsame. Dadurch trägt Europa eine deutliche deutsch-französische Handschrift, etwa durch den Europäischen Rat, der auf eine Initiative der beiden Länder zurückgeht, und auch bei der Einführung des Euro oder der Osterweiterung spielten Deutschland und Frankreich gemeinsam eine tragende Rolle.
„Wenn Deutschland und Frankreich dagegen sind, wird es nichts“
Vor allem das Jahr 2016 hat eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig deutsch-französische Zusammenarbeit in stürmischen Zeiten für die EU ist: So antworteten die damaligen Außenminister Jean-Marc Ayrault und Frank-Walter Steinmeier auf den Brexit mit einem gemeinsamen Papier, und auch im Verteidigungsbereich stellten Ursula von der Leyen und Jean-Yves Le Drian gemeinsame Lösungen dar. Um gemeinsam besser mit Fragen der Integration von Migranten und Geflüchteten umgehen zu können, haben Deutschland und Frankreich zudem 2017 den deutsch-französischen Integrationsrat ins Leben gerufen. Nicht zuletzt die Verhandlungen im Normandie-Format zwischen Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine zeigen, dass es dem deutsch-französischen Tandem auch in höchst komplizierten politischen Situation gelingt, gemeinsam zu agieren - wo die EU gefordert wäre, aber ihrer Rolle nicht gerecht werden kann.
Tatsächlich hatten und haben diese deutsch-französischen Papiere oder Initiativen oftmals einen wichtigen Vorbildcharakter für spätere gesamteuropäische Beschlüsse. Wenn es Deutschland und Frankreich gelingt, sich auch in schwierigen Fragen zu einigen, obwohl sie in einigen Bereichen oft grundlegend unterschiedliche Ansichten haben, stehen die Chancen für eine Einigung im Rat der EU gut. Einerseits gehören Deutschland und Frankreich zu den bevölkerungsreichsten Staaten der EU, sodass es schwierig ist, im Rat das für die qualifizierte Mehrheit notwendige Quorum von 65% der repräsentierten Bevölkerung zu erreichen, wenn Deutschland und Frankreich dagegen stimmen, die gemeinsam fast 30% der EU-Bevölkerung repräsentieren. Andererseits kann Einigkeit zwischen Deutschland und Frankreich für ein bestimmtes Projekt dazu führen, dass dieses letztendlich angenommen wird, weil die beiden Staaten gemeinsam verhandeln und es ihnen oftmals gelingt, vormals negativ eingestellte Staaten von einem Projekt zu überzeugen.
Deutsch-französischer Motor auch ohne neuen Elysée-Vertrag
Braucht es also für die Zusammenarbeit von Deutschland und Frankreich im Dienste der europäischen Integration einen neuen Elysée-Vertrag? Die Tatsache, dass Deutschland und Frankreich seit über 50 Jahren erfolgreich zusammenarbeiten und auch ohne prestigeträchtige und öffentlichkeitswirksame Verträge neue Foren wie etwa den deutsch-französischen Integrationsrat schaffen, zeigt, dass ein neuer Elysée-Vertrag hauptsächlich symbolischen Charakter hätte, da Deutschland und Frankreich auch auf anderen Wegen gemeinsame politische Ziele festhalten und verfolgen können. Andererseits hätte ein neuer Kooperationsvertrag das Potential gehabt, die beiden Staaten auch in elementaren und traditionell nationalstaatlich geregelten Politikfeldern enger zusammenzubringen, wie etwa in der Außenpolitik. Eine Zusammenarbeit in diesen Feldern würde zeigen, dass die wichtigen Mitgliedstaaten in der EU erkannt haben, dass langfristig nur die Kooperation mit anderen Staaten ihre Rolle in der internationalen Politik sicherstellen kann. Emmanuel Macron dürfte jedoch mehr als die symbolische Wirkung in Betracht gezogen haben, als er einen neuen Elysée-Vertrag vorschlug: Macron ist bewusst, dass er für die Umsetzung seiner europapolitischen Pläne unbedingt die Unterstützung seines deutschen Partners braucht. Gleichzeitig ist Angela Merkel nicht gerade für proaktive Europapolitik bekannt. Von einem neuen Kooperationsvertrag hätte sich Macron wohl erhofft, die Bundeskanzlerin aus ihrer oftmals reaktiven Politik in eine aktivere Rolle zu lenken. Zuletzt zeigte sich Angela Merkel offen gegenüber der Idee, den Elysée-Vertrag in diesem Jahr zu überarbeiten.
Bis es jedoch soweit ist, werden Macrons deutsch-französische Initiativen wahrscheinlich am Fehlen einer deutschen Regierung scheitern: Solange die Bundesregierung nur geschäftsführend im Amt ist, handelt sie in der Regel keine richtungsweisenden politischen Beschlüsse und Verträge aus, selbst wenn ein parteiübergreifender Konsens über die deutsch-französische Zusammenarbeit existiert.
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