Frauen, Leben, Freiheit im Iran: Die Probleme der europäischen Inkonsequenz

, von  Maria Mitrov

Frauen, Leben, Freiheit im Iran: Die Probleme der europäischen Inkonsequenz
Proteste in Melbourne im September, 2022. Photo by: Matt Hrkac, Flickr, CC BY 2.0, https://www.flickr.com/photos/matthrkac/52382953501/. Weltweite Proteste solidarisieren sich mit den Menschen im Iran, die sich gegen die Brutalität, die strengen Regeln und die Korruption des Regimes wehren.

Seit über einem Monat halten die regierungskritischen Demonstrationen im Iran in Folge von Mahsa Aminis Tod an. Die EU zeigt sich solidarisch mit den Protestierenden, aber Kritiker*innen bemängeln: Die Reaktionen sind zu langsam und oberflächlich – vor allem in Deutschland.

Plötzlich hält sie eine Schere in der Hand, dann greift sie nach ihrem gebundenen Haar und schneidet den Zopf ab. Abir Al-Sahlani hält die abgeschnittenen Strähnen vor dem versammelten EU-Parlament in die Höhe und ruft „Frauen, Leben, Freiheit“, erst auf Kurdisch, dann auf Englisch. Die schwedische EU-Parlamentarierin nutzt ihre Rede Anfang Oktober dafür, um auf den Freiheitskampf aufmerksam zu machen, der zu diesem Zeitpunkt seit Wochen im Iran anhält. Angeführt wird er vor allem von Frauen, die in der Öffentlichkeit ihr Hijab ausziehen oder sich das Haar abschneiden. Sie sind wütend über den Tod der 22-jährigen Mahsa Amini – ihr kurdischer Name war Jina, – die am 16. September unter ungeklärten Umständen verstarb. Kurz zuvor hatte die iranische Sittenpolizei Amini festgenommen, da ihr Hijab verrutscht war. Einen derart großen Aufstand hat es im Iran seit Jahren nicht gegeben. Der Protest, welcher laut und klagend auf offener Straße stattfindet, entspringt der Mitte der Gesellschaft. Studierende stehen Seite an Seite mit Müttern. Männer applaudieren Schülerinnen, die erbitterte Reden halten.

Europäische Sanktionen, iranische Drohungen

Längst sind die Proteste auch hier in Europa angekommen. In London, Paris, Rom und Madrid zeigten sich Exil-Iraner*innen solidarisch mit den Demonstrant*innen im Heimatland. Abgeordnete des EU-Parlaments nannten Mahsa Aminis Tod einen „tragischen Mord“ und forderten eine schnelle, unabhängige Aufklärung. Wirklich aktiv wurde die EU aber erst einen Monat nach Aminis Tod. Mitte Oktober verhängte der Rat der EU Sanktionen gegen vier Organisationen und elf Einzelpersonen, – darunter zwei wichtige Mitglieder der Sittenpolizei und der iranische Minister für Informations- und Kommunikationstechnologie, Eisa Zarepour. Er ist verantwortlich für die Abschaltung des Internets in Folge der Proteste. Der Iran kritisiert die westlichen Reaktionen. Hussein Amirabdollahian, der iranische Außenminister, drohte bereits vorab, dass im Falle von EU-Sanktionen der Iran seine diplomatischen Beziehungen zu den Ländern Europas beenden würde. Das ist deswegen eine schwerwiegende Drohung, da sie das Wiener Atomabkommen von 2015 gefährdet. Die EU bemüht sich seit Jahren, das Abkommen zu erhalten. Eine diplomatische Isolation Irans könnte diese Bemühungen zunichtemachen. Schon seit Wochen wirft die iranische Regierung dem Westen vor, die Proteste zu unterstützen. Kurz nach Unterzeichnung der Sanktionen setzte der Iran mehr als ein Dutzend britischer Personen und Einrichtungen auf eine Terrorliste. Der Iran behauptet, die Sanktionen seien Folge von „vorsätzlichen Handlungen zur Unterstützung von Terrorismus, Aufstachelung zur Gewalt und Menschenrechtsverletzungen“. Außerdem befinden sich momentan fünf französische Staatsbürger*innen in Gefangenschaft – ihnen wirft der Iran Spionage vor. Diese Art von Erpressung und die Verwendung ausländischer Gefangener als Druckmittel sind typische Strategien des iranischen Regimes, wenn es sich vom Westen bedroht fühlt.

„Wenn Mahsa Amini für ein verrutschtes Kopftuch sterben musste, dann könnte es jede andere Iranerin auch treffen.“

Die Länder Europas sind also aufgrund des Atomabkommens und wegen der iranischen Gegenmaßnahmen tiefer in die iranischen Proteste verstrickt, als ihnen wohl lieb ist. Gerade das macht so unverständlich, weshalb der Umgang der EU mit dem iranischen Aufstand immer noch zögerlich ist. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Proteste von historischer Bedeutung sind: Frauen führen einen Kampf gegen Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen. Schon unzählige Menschen haben für diesen Kampf ihr Leben verloren. Die Menschen im Iran haben verstanden: Wenn Mahsa Amini für ein verrutschtes Kopftuch sterben musste, dann könnte es jede andere Iranerin auch treffen. Und wenn wir Frauen nicht frei sind, dann sind es alle anderen auch nicht. Die Einsicht, dass der Kampf der Frauen und das Streben nach Freiheit verflochten ist, macht diesen Protest von Kern auf feministisch.

Wo bleibt die feministische Außenpolitik?

Verstehen müsste das vor allen Dingen ein EU-Land – Deutschland. Außenministerin Annalena Baerbock hat das Zeitalter der feministischen Außenpolitik eingeläutet. Diese folgt der einfachen Devise: Wenn die Rechte, Ressourcen und Repräsentanz von Frauen wachsen, dann macht das jede Gesellschaft sicherer. Frauen werden als Teil der Lösung nicht als Opfer verstanden. Bei Verhandlungen mit einem Drittland sollte also den Frauen jenes Landes besondere Aufmerksamkeit zugesprochen und so eine gleichberechtigtere politische Gestaltung angestrebt werden. Baerbock zeigte sich von Anfang an solidarisch mit den Protestierenden: „Den Menschen im Iran sagen wir: Wir stehen und bleiben an eurer Seite!“. Früh setzte sie sich für EU-Sanktionen ein. Das von Baerbock geleitete Auswärtige Amt hat zwei Mal den iranischen Botschafter zu dringenden Gesprächen einbestellt, um Deutschlands Forderungen deutlich zu machen – vergebens. Politiker*innen fordern, Abschiebungen von Iraner*innen sofort zu stoppen, betroffen sind aktuell etwa 12.000 Menschen. Das Problem dabei: Abschiebungen sind Ländersache. Einige Bundesländer wie NRW und Berlin haben die Verfahren gestoppt. Doch ob landesweit eine Umsetzung folgt, ist bislang unklar.

Mehr Solidarität wagen

Diese langsamen und teilweise vagen Reaktionen Deutschlands sind kritisch zu betrachten. Im Iran fordern die Demonstrant*innen: Der Westen solle nicht länger mit dem Iran verhandeln, ohne das Land dabei zwingend an die Einhaltung von Menschenrechten zu binden. Ob Deutschland und Europa sich das trauen, wird sich noch zeigen. Bislang bleibt Baerbocks feministische Außenpolitik oberflächlich. Die iranischen Frauen politisch einbinden mit ins Boot holen – bislang ist das noch nicht passiert. In einem Song des Rappers Ben Salomo, der sich solidarisch mit dem Iran zeigt, heißt es: „Ich träume davon, dass Annalena sich die Haare schneidet.“ Kann man sich das vorstellen: die deutsche Außenministerin, welche sich wie Abir Al-Sahlani vor dem EU-Parlament die Haare abschneidet? Vielleicht klingt das unglaublich. Doch dass Frauen im Iran auf die Straße gehen und gegen die Unterdrückung protestieren, die sie so lange erduldet haben, dass Männer sie in Scharen dabei unterstützen, dass junge und alte Menschen für den Freiheitskampf ihr Leben verlieren: das alles war bis vor Kurzem ebenfalls unglaublich.

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