Funktionalismus – weil er funktioniert

, von  Gesine Weber

Funktionalismus – weil er funktioniert
Die Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs auf dem Bratislava-Gipfel 2016 gingen vielen Föderalisten nicht weit genug. Image: EU2016 SK / wiki / (CC BY 2.0)

Schon Victor Hugo träumte von den Vereinigten Staaten von Europa. Seit Gründung der EU plädieren Interessengruppen für einen föderalen Bundesstaat Europa. Die Forderung nach einer europäischen Verfassung für einen Föderalstaat mag auf lange Sicht nicht uninteressant sein, als Utopie lähmt sie aber den Diskurs und verhindert die Suche nach umsetzbaren Lösungen für die derzeitige Krise.

Keine Zeit für Wunschträume

Der Streit zwischen Föderalist*innen und Funktionalist*innen, wer von ihnen das bessere Modell für die Entwicklung der Europäischen Union oder früher der Europäischen Gemeinschaften beiträgt, ist so alt wie die Idee eines geeinten Europas selbst. Heute steht die Europäische Union allerdings nicht vor Detailfragen für eine Vertiefung der Integration. Angesichts der Bedrohungen von innen und außen kämpft sie heute um ihr Überleben. In einer solchen Situation sollte das nahezu literarische Pathos von der föderalen Union dem Pragmatismus weichen, welchen es jetzt braucht, um umsetzbare und für alle Staaten gleichermaßen akzeptable Lösungen zu schaffen. Gerade heute sollten Europäer*innen, denen die weitere Existenz der Union am Herzen liegt, ihre föderalen Wunschtraumparadigmen über Bord werfen und stattdessen mehr Funktionalismus wagen.

Zunächst einmal sei jedoch festgehalten, dass Funktionalismus und Föderalismus sich nicht per se ausschließen müssen. Der Funktionalismus folgt der Idee „form follows function“, wonach sich die richtigen institutionellen Reformen und Lösungen aus den Erfordernissen der aktuellen Situation ergeben und der Integrationsprozess nicht, wie von Föderalist*innen gefordert, einer übergeordneten normativen Idee folgen. Sollte sich also die Schaffung einer nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebauten föderalen Union, das Herzstück der Forderung des Föderalismus, dementsprechend aus der politischen Notwendigkeit ergeben, stünde dem nach dem funktionalistischen Credo nichts im Wege.

Eine Bürgerkammer hilft nicht gegen Europamüdigkeit

Derzeit stehen die Zeichen jedoch geradezu gegen eine vertiefte Integration, Um- und Neuverteilung von Kompetenzen zwischen den verbliebenen 27 Mitgliedsstaaten, und ganz sicher auch gegen eine europäische Verfassung. Die Idee einer europäischen Verfassung ist eine Wunschvorstellung, die von einer kleinen Elite getragen wird und die europäischen Bürger*innen nicht erreicht. Viele Bürger*innen nehmen die die Europäische Union ohnehin als Elitenprojekt wahr und geben sich daher den verführerisch einfachen populistischen Logiken à la Marine Le Pen, Wilders und Petry hin. An der Europamüdigkeit würde wohl auch eine zweite Kammer, eine Bürger*innenkammer im Europäischen Parlament kaum etwas ändern, da es sehr unwahrscheinlich scheint, dass dort an der EU zweifelnde Bürger*innen repräsentiert wären. Viel eher kann man sich in den bequemen Parlamentssitzen an Politik interessierte und gut situierte Bildungsbürger*innen mit Kenntnissen in mindestens zwei europäischen Fremdsprachen vorstellen, die sich auch ohne eine Bürger*innenkammer im Europäischen Parlament für Europa engagieren würden. Dieses Gedankenspiel steht nur exemplarisch dafür, wie sehr gut gemeinte föderalistische Ideen scheitern können; besonders schmerzlich hat der gescheiterte Verfassungsvertrag aus dem Jahr 2005 den Europäer*innen das vor Augen geführt. Anstatt um eine mit Symbolik überladene Verfassung zu ringen, die von den Bürger*innen letztendlich abgelehnt wird, sollte die EU das tun, was sie am besten kann und wozu sie ursprünglich gedacht war: Ergebnisse zu liefern, von denen die Bürger*innen wirklich profitieren.

Erfolge der Vergangenheit folgten funktionalistischer Logik

In der Vergangenheit hat sich die Logik des funktionalen Intergouvernementalismus oft bewährt. Um nur wenige Beispiele unter vielen zu nennen: Die Vergemeinschaftung und gegenseitige Kontrolle der Rüstungsindustrie durch die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl basierte auf funktionalistischer Denkweise, ohne sie hätte die europäische Einigung womöglich nie begonnen. Auch die schrittweise wirtschaftliche Integration, die Einführung des Euro als gemeinsame Währung oder die durch den Vertrag von Lissabon etablierte Vergemeinschaftung des Bereichs Inneres und Justiz wäre ohne Funktionalist*innen nicht denkbar gewesen. Funktionalismus bedeutet die intensive Suche nach einem Kompromiss. Er steht für einen Pragmatismus, der dazu führt, dass am Ende der oftmals komplizierten Verhandlungen Ergebnisse stehen, welche vom Großteil der beteiligten Staaten gut akzeptiert werden können, da sich die Investitionen im Sinne der staatlichen Kompetenzaufgabe und die politischen Gewinne die Waage halten.

Föderalistische Utopien lähmen den Diskurs

Funktionalismus orientiert sich an den Erfordernissen der aktuellen politischen Situation, anstatt in einer Utopie zu verharren. Heute führt diese Utopie einer föderal geeinten Union dazu, dass der Diskurs über die Zukunft der Europäischen Union gelähmt ist, da entweder eine totale Föderalisierung oder der unumkehrbare Zerfall der Union als Optionen präsentiert werden. Jedoch erfordern Probleme wie der Schutz der Außengrenzen, die wachsende Bedrohung durch den transnationalen Terrorismus oder europaweit hohe Jugendarbeitslosigkeit pragmatische und umsetzbare Antworten. Dass diese Lösungen einen supranationalen und damit auch von Föderalist*innen befürworteten Charakter haben können, ist keinesfalls ausgeschlossen. Man denke etwa an die Möglichkeit der vertieften Integration der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, welche den Aufbau eines wirklichen Außengrenzschutzes durch auf diese Aufgabe beschränkte EU-Missionen beinhalten könnte. Alternativ wäre eine intensivere Kooperation im Rüstungsbereich denkbar, damit sich ein Fiasko wie in Mali nicht wiederholt, wo sich europäische Truppen mangels Kompatibilität nicht gegenseitig mit Munition unterstützen konnten. Solche Kooperationsmöglichkeiten sind ein hervorragendes Beispiel für die positive Kraft des Kompromisses, wie sie nur der Funktionalismus bieten kann – selbst dann, wenn sie immer wieder von Mitgliedstaaten in Verhandlungen über opt-outs, der Möglichkeit der Nicht-Teilnahme an bestimmten Politiken, ad absurdum geführt wird. Die Institutionen erfüllen ihren Zweck, die Ergebnisse stellen zufrieden. Auf ein normatives Narrativ kann ein pragmatisches Konzept wie der Funktionalismus dabei gut verzichten.

Der Funktionalismus schließt den Föderalismus auf lange Sicht nicht aus

Gegenüber dem Föderalismus haben funktionalistische Ansätze vor allem den Vorteil, dass sie nicht nur die Kraft, sondern nahezu einen inneren Zwang zur Innovation verfügen. Dynamische Situationen führen dazu, dass auch Lösungen dynamisch sein müssen, was nicht nur die ständige Reflexion, sondern vor allem auch einen andauernden Prozess der Weiterentwicklung und Optimierung politischer Strategien Lösungen impliziert. Bei einer Verfassung für einen Bundesstaat Europa bestünde diese Notwendigkeit nicht zwingend, da durch Partizipation generierte Input-Legitimität an die Stelle der Output-Legitimität träte und damit der politische Druck für die Schaffung neuer Lösungen und Institutionen wesentlich schwächer beziehungsweise nicht vorhanden wäre. Dabei ist offensichtlich, dass in einer EU, ohne die die Lösung globaler politischer Probleme schlichtweg nicht möglich ist, genau dieser Druck entscheidend ist, um Integration voranzutreiben; guter Wille mag eine wichtige Triebfeder sein, reicht aber nicht aus. Nur der Funktionalismus kann auf die Anforderungen, die heute an die EU gestellt werden, neben politischen vor allem technisch sinnvolle und damit nachhaltige Antworten liefern.

Auf lange Sicht schließt Funktionalismus eine föderal organisierte Union nicht aus. Für den europäischen Föderalismus gilt also: Gerne spät, auf lange Sicht nicht ausgeschlossen, aber vor allem erst dann, wenn er einen anderen Zweck als den reinen Selbstzweck verfolgt und den Bürger*innen der Mitgliedstaaten dient. Bis dahin liegt jedoch noch ein langer Weg vor der EU, den Funktionalist*innen pflastern werden.

Zum Artikel von Michael Vogtmann

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