Beitrag zum Online-Bürgerdialog „Europe in the Neighbourhood - Let’s talk beyond borders! Perspectives, Challenges, and Opportunities of EU-Georgia relations“

Georgien & die EU: Es ist kompliziert

, von  Finn Harland

Georgien & die EU: Es ist kompliziert
Tiflis, Hauptstadt Georgiens. Foto: Peteranta / pixabay.com / Lizenz

Seit dem Zerfall der UdSSR gibt es immer wieder Spannungen und Konflikte in Osteuropa. Es geht um Identitätssuche und -findung sowie den Umgang mit Russland in der Nachbarschaft. Das Georgische Volk möchte mit überwältigender Mehrheit den Schritt in den Westen gehen, den Schritt in die EU. Warum das bisher nicht geschieht und was es dafür braucht, soll diskutiert werden. Dazu hat die EUD drei Expertinnen und alle Bürger*innen online eingeladen, um einen Dialog zu führen.

Politische Probleme

Georgiens politische Realität ist im Thema EU-Beitritt voller Widersprüche. Auf der einen Seite ist die Bevölkerung stark dafür, auf der anderen Seite sind die Handlungen der Regierung aus der Perspektive der EU verwirrend. Wie realistisch kann der EU-Beitritt Georgiens eingeschätzt werden? Sonja Schiffer, Direktorin des Heinrich-Böll-Stiftungsbüros in Tiflis - Südkaukasus Region, sagt dazu: „ Ich bin langfristig gesehen optimistisch, und das aus drei Gründen“. Der erste sei, dass Georgiens Bevölkerung spürt, dass es zu Europa gehört. Sowohl kulturell wie auch politisch. Die Bevölkerung habe überwiegend verstanden , dass in der EU die Zukunft für die wirtschaftliche und demokratische Entwicklung des Landes liegt. Zu erwähnen ist hier, dass mehr als 90% der Bevölkerung für einen EU-Beitritt ist, so viel Zustimmung gibt es in keinem anderen osteuropäischen Land. „Zweitens, haben auch die EU und Deutschland verstanden, dass Georgien politisch gesehen in die EU gehört“, so Schiffer. „Ansonsten bin ich noch optimistisch, weil in der Vergangenheit viele Schritte getan wurden, um Georgien mit der EU Legislation zusammenzuschließen. "Es ist auch klar, dass die Georgische Regierung die Kapazitäten hat, die wichtigen Reformen umzusetzen.“ Hinzuzufügen ist hier, dass es eine EU-Ostpartnerschaft gibt; Ein Programm, das interessierte Länder wirtschaftlich und politisch der EU näher bringen soll,- auch Georgien nimmt daran teil. Es gibt allerdings laut Schiffer den Vorwurf, dass dieses Programm so gestaltet ist, dass es den Ländern den Beitritt sogar erschweren würde. Aus der Perspektive von Brüssel gäbe es weniger Optimismus, so sagt Marina Kaljurand, Vorsitzende der Delegation für das EU-Georgien-Parlamentarische Assoziations Komitee. Sie blickt als ehemalige Außenministerin Estlands, auf eine lange diplomatische Karriere zurück, tief verbunden mit Georgien. Laut ihr ist Georgien ein Land, das jahrelang als Spitzenreiter der Kandidaten für eine Aufnahme in die EU galt. Jedoch sehe sie eine tiefe Polarisierung in den georgischen Kreisen der Politik und in den Medien. „ Ich verstehe georgische Abgeordnete nicht, manchmal scheint es so, als ob die Bevölkerung Georgiens in die EU will und die georgische Regierung dagegen Schritte geht, die für Brüssel nur schwer nachvollziehbar sind.“ Dafür nennt sie einige Beispiele, beispielsweise das letzte Amtsenthebungsverfahren der Präsidentin. Im Jahr 2021 wollte die regierende Partei „ Der Georgische Traum“, die noch heute amtierende Präsidentin Salome Surabischwili , ihres Amtes entheben, weil sie unautorisiert EU-Länder bereist habe. Eine diplomatisch schwerwiegender Vorfall für die Beziehungen zur EU.

„Der Ukrainekrieg öffnete für diese Länder ein Fenster, eine Chance.“
 Marina Kaljurand

Doch im Bezug auf den Ukraine-Krieg herrscht nun wohl eine völlig andere Situation. Vor dem Krieg wäre Georgien kein Beitrittskandidat gewesen, jetzt aber schon. Kaljurand sagt dazu: „ Ich weiß nicht, wie lange dieses Fenster noch offen bleibt, oder wann es sich jemals nochmal öffnet“. Deshalb hoffe sie wirklich, dass diese Menschen endlich zusammenarbeiten und den Wunsch der Bevölkerung, Teil der EU zu sein, in ihre Politik integrieren. Dazu sagt Nata Koridze, leitende Redakteurin von Civil.ge und ehemalige Leiterin der NATO-Integrationsabteilung im Büro des georgischen Staatsministers für europäische und euroatlantische Integration:„ Der einschlagendste Faktor für den EU Beitritt ist für mich diese Dichotomie“. Sie erklärt, dass sie auf der einen Seite eben die Bevölkerung sieht, die dem Beitritt entgegenfiebert und auf der anderen Seite die Regierung, die das formal als Ziel hat, aber nicht dementsprechend handelt. Die Situation sei also die, dass die Regierung Georgiens mitziehen muss, damit das ganze möglich wird. Für die EU sei der Beitritt eine technische Angelegenheit, das bedeutet, es gibt strenge Richtlinien für einen Beitritt, und diese werden nicht aufgeweicht . Laut Kaljurand möchte die EU die osteuropäischen Nicht-EU Länder alliiert sehen, also in Zusammenarbeit. Sie appelliert an Georgien, mehr Anstrengung für den Beitritt zu zeigen. In Bezug auf Georgische Kritik an der EU-Bürokratie sagt sie : „ Ja, die EU ist nicht fair. Sie war es nicht, als mein Land die Erwartungen übertraf, und wir mussten viel mehr tun, als die Finnen und ihr werdet viel mehr tun müssen, als wir es mussten. Denn in Außenpolitik geht es nicht um Fairness. Niemand möchte euch in diesem Club, so wie niemand uns in diesem Club wollte.”

Die Probleme scheinen also vor allem bei der Regierung zu liegen. Die Partei „Der Georgische Traum“ wäre laut Schiffer 2012 eine liberale, generell pro-europäische Partei gewesen. Doch diese demokratischen Kräfte hätten die regierende Partei nach und nach verlassen. Die Partei hat eine neue Identität gesucht und diese im rechts-konservativen Flügel gefunden, seitdem fehle der politische Wille. Koridze stellt klar, dass Georgiens Beziehungen zur EU in letzter Zeit von einigen negativen Ereignissen belastet werden. Vor allem, seitdem das Charles Michel‘s Agreement von der Regierung gekippt wurde. Diese notwendige demokratische Reform zu kippen, hätte westliche Politker*innen verärgert. Kaljurand erwartet in Zukunft, dass die Georgische Regierung die EU verantwortlich machen werde, nicht beitreten zu können. Und das auch, wenn die technischen Vorgaben der EU nicht erfüllt werden. Sie würden der Bevölkerung dann vermitteln , dass die EU den Beitritt von Georgien nicht wollen würde. Was es dann brauche, sei direkte Kommunikation aus Brüssel, welche die Entscheidungen erklärt.

Der Einfluss Russlands

Wirtschaftlich gesehen haben sich ebenfalls Dinge verändert. Georgien versucht, von Russland zu profitieren indem es beispielsweise als Transitland für Russ*innen in die EU fungiert - aus Sicht der EU. Außerdem ist Georgien nach wie vor 20% seiner Fläche von Russland beraubt und hätte kein Interesse daran , Russland zu provozieren. Russland sei Georgiens Haupt-Exportland geworden und Georgien sei in manchen Sektoren sehr abhängig. Schiffer ist überzeugt, dass sich in Zukunft, auch durch den russischen Tourismus, die Abhängigkeiten vergrößern werden. „Ich persönlich weiß nicht, wie groß das Ausmaß des Einflusses Russlands auf die Entscheidungen der georgischen Politiker*innen ist“, und weiter: „ Aber es ist klar, dass Russland ein Hauptfaktor in Georgien ist, nicht nur wegen der politisch unsicheren Lage, sondern auch weil es ein großer wirtschaftlicher Faktor ist“. Hier zeichnet sich ein Bild von einer Regierung, welche ihre wirtschaftlichen Interessen im Osten verfolgt und gleichzeitig wirtschaftliche Interessen im Westen hat, aber nur letztere öffentlich macht. Diese wirtschaftlichen Interessen in beide Richtungen zu verfolgen, erzeugt ein Spannungsfeld. Denn die eine Seite dieser Beziehung akzeptiert keine Beziehungen in die andere Richtung. Die Bevölkerung will in die EU, die EU will keine russisch-georgische Partnerschaft. Georgiens Regierung weitet aber vermutlich die wirtschaftliche Beziehungen zu Russland weiter aus.- Es ist unklar, wie groß der Einfluss Russlands auf die georgische Regierung wirklich ist, die Expertinnen können dazu keine Auskunft geben. Die wirtschaftlichen Handlungen der Regierungen scheinen aber im Widerspruch zur politischen Realität zu stehen, das scheint klar zu sein.

Publikumsumfrage

Kein Wort beschreibt für die Expert*innen die Probleme des Beitritts wohl so gut wie das Wort “Polarisierung”. Die Regierung und die Politiker*innen von Georgien, stehen in einem Spannungsfeld zwischen Russland und der EU. Die Bevölkerung wiederum ist mit überwältigender Mehrheit pro-EU und steht damit konträr zu ihrer demokratischen Regierung, die nicht pro-EU handelt und in manchen Aspekten sogar russischen Einfluss ausbaut. So ist die Lage kompliziert und die Zukunft unklar. Was klar ist, da sind sich die Expert*innen einig, Regierung und Bevölkerung müssen an einem Strang ziehen, um Beitrittskandidat zu werden. Davon scheint nichts weiter entfernt zu sein, als eine politisch dichotome Realität.

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