Seit Anfang des Jahres ist das Vereinigte Königreich nicht mehr Teil des europäischen Binnenmarktes und ein in letzter Minute verhandeltes Handelsabkommen findet momentan vorläufige Anwendung. Das finale grüne Licht des Europäischen Parlaments steht allerdings noch aus. Das sei “keine Formsache”, so der Vorsitzende des Ausschusses für internationalen Handel des Europäischen Parlaments Bernd Lange im Bürger*innendialog der Europa-Union Deutschland am vergangenen Mittwoch. So sei der Austritt Großbritanniens selektiv verlaufen: Während sich das Land weiterhin an gewissen Forschungsprojekten beteiligt, ist es aus vielem ausgestiegen, unter anderem auch aus dem Erasmus+ Programm. Einige Regelungen, wie beispielsweise zur CO2-Bepreisung im Energiesektor, stünden noch aus.
Das Panel des Bürger*innendialogs mit der ARD Korrespondentin und dem Europaparlamentarier Bernd Lange. Der Europaparlamentarier hatte sich eine intensivere Beziehung zwischen den Brit*innen und den Europäer*innen gewünscht. Foto zur Verfügung gestellt von Moritz Hergl
Im digitalen Bürger*innendialog stand auch Annette Dittert, ARD-Korrespondentin in London und Studioleiterin des ARD UK Büros, den mehr als 200 Teilnehmenden Rede und Antwort. Sie verwies darauf, dass vor allem kleine und mittlere Unternehmen durch den Brexit hart getroffen sind und viele vor der Insolvenz stehen - dies sei mittlerweile sogar vielen Fischer*innen bewusst, die zuvor noch vehemente Brexit-Befürworter*innen waren. Doch die Regierung um Premierminister Boris Johnson vermeidet das Thema Brexit in der Öffentlichkeit. Die erfolgreiche Impfkampagne dient der Regierung als Beweis, dass sich der Austritt aus der EU gelohnt hat. Im aktuellen Streit um den Corona-Impfstoff der Herstellers AstraZeneca zeigt sich zudem die Strategie der UK-Regierung gegenüber der EU: Die EU steht als Sündenbock da, weil sie öffentlich über Exportverbote des Impfstoffs nach UK nachdenkt. Während der Impfstoff des britischen Herstellers dort in großer Zahl ausgeliefert wird, hat AstraZeneca der EU die Lieferungen stark gekürzt und Versprechungen nicht eingehalten. In Großbritannien ist das aber kaum Teil der Debatte - trotz katastrophaler Organisation genießt der Konzern in den britischen Medien große Anerkennung.
Auf Fragen zur Medienpluralität im Vereinigten Königreich äußert sich Dittert besorgt: Die öffentlich-rechtliche BBC traue sich nicht mehr über den Brexit zu berichten, da der Sender von einer aggressiven Politik der Regierung eingeschüchtert sei. Ab Sommer wird es außerdem mit GB-News und UK-News zwei neue Fernsehsender geben, die ähnlich wie Fox News in den USA operieren werden. In Großbritannien bleiben somit wenige Medien, die sachlich und unvoreingenommen berichten. Viele von ihnen werden außerdem vom Mediengiganten Murdoch kontrolliert. Schon im Vorfeld des Brexit-Referendums zeigte sich der große Einfluss dieser Berichterstattung: Die meisten Zeitungen berichteten mit klarem ideologischem Fokus; beispielsweise hatte sich die Daily Mail auf die Seite der Brexit-Befürworter*innen gestellt.
Das Vereinigte Königreich vor dem Auseinanderbrechen?
Die Schott*innen bewerten die politische Lage im Vereinigten Königreich größtenteils anders als ihre englischen Nachbar*innen und hatten sich bereits beim Brexit-Referendum mehrheitlich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. Der Austritt aus der EU befeuert nun die Unabhängigkeitsbewegung und die amtierende Regierungschefin Nicola Sturgeon und ihre Scottish National Party (SNP) liegen in Umfragen weit vorne. Ein erstes Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2014 scheiterte zwar, doch durch den Brexit hat sich die Ausgangslage verändert: Vor allem junge Schott*innen fordern die Unabhängigkeit und den Wiedereintritt in die EU. Laut Annette Dittert sind die Schott*innen “eine zutiefst sozialdemokratische Gesellschaft, die den Turbokapitalismus der Tories in London überwiegend schrecklich findet und sich eher mit den Nordeuropäern identifiziert”. Die Situation ist ungewiss, denn die britische Regierung müsste einem Austritt Schottlands aus dem Vereinigten Königreich zustimmen, was Johnson vehement ablehnt.
Doch auch im Westen des Landes brodelt es: In Nordirland hatten sich die Bürger*innen ebenfalls für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. Die Verhandlungen des Brexit-Deals zwischen Brüssel und London waren hier besonders heikel, denn die politische Lage an der irisch-nordirischen Grenze ist seit dem Karfreitagsabkommen 1998 nie komplett befriedet worden. Im Bürger*innendialog erklärte Bernd Lange die aktuelle Regelung. Diese sieht vor, dass für Waren aus England, Schottland und Wales nach Nordirland Zollerklärungen abgegeben und EU-Zertifizierungen eingehalten werden müssen. Johnson habe allerdings öffentlich davon gesprochen, diese Regelung ignorieren zu wollen. Lange beklagt, dass sich die britische Regierung nicht an das Abkommen hält und der EU die Schuld gegeben wird. Die Stimmung ist sogar so angespannt, dass europäische Beamt*innen im Februar eine Woche nicht ins Büro in Belfast kommen konnten, weil ihre Sicherheit nicht gewährleistet war.
Allerdings sieht das Karfreitagsabkommen vor, dass Volksabstimmungen über den Austritts aus dem Vereinigten Königreich in Nordirland möglich sind - unabhängig von einer Erlaubnis von Westminster. Eine Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland scheint deshalb vorerst sogar wahrscheinlicher als die Unabhängigkeit Schottlands. Auf die Frage ob das Königreich in seiner aktuellen Form auseinanderbrechen könnte, antwortet Annette Dittert drastisch: “Dies ist lediglich eine Frage der Zeit.”
Großbritannien und die EU: eine ungewisse Zukunft
Bernd Lange hätte sich gerne eine intensivere Beziehung als das Handelsabkommen gewünscht, beispielsweise eine gemeinsame Außenpolitik. Nationale Souveränität angesichts von Mächten wie der USA und China sowie großen Firmen wie Facebook und Amazon sei eine “Illusion” für so ein relativ kleines Land.
Während die letzten Details der zukünftigen rechtlichen Beziehungen noch ausstehen ist eines klar: Großbritannien strebt nach mehr nationaler Souveränität und möchte auch international Standards setzen - ohne die EU. Boris Johnson scheint dafür keinen konkreten Plan zu haben und die Wirtschaft leidet bereits jetzt unter den Auswirkungen des Brexits. Noch überlagert die Corona-Krise den Diskurs, doch wie lange das anhält, ist ungewiss. Europa muss sich in Zukunft wohl darauf einstellen, dass Großbritannien eigene Wege geht, die besonders der EU nicht immer gefallen werden. Es liegt somit erst einmal an uns Bürger*innen, die freundschaftlichen Beziehungen zu unseren britischen Nachbar*innen zu pflegen.
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