Teil 1 unserer Erasmus-Serie

Großbritannien und Erasmus: Ein Nachruf

, von  Florian Bauer, Isabelle Walker, übersetzt von Annabelle Bauer

Alle Fassungen dieses Artikels: [Deutsch] [English]

Großbritannien und Erasmus: Ein Nachruf
Foto-Collage: Caitlin Tilley

An Heiligabend 2020 hatte Boris Johnson ein enttäuschendes Geschenk für Studierende in Großbritannien und der EU: Das Vereinigte Königreich würde sich aus dem Erasmus-Programm zurückziehen. Das war ein großer Schock, denn eine Zukunft mit einfacher Mobilität zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU schien unerreichbarer denn je.

Johnsons Hauptbegründung für diese Entscheidung war finanzieller Natur. Er argumentierte, dass das neue Turing-Programm ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis bieten wird. Besonders bitter ist der Austritt für EU-Bürger*innen, die einen Auslandsaufenthalt in Großbritannien geplant hatten, da er für die meisten von ihnen finanziell nicht mehr tragbar sein wird. Der Schritt birgt auch die Gefahr, dass sich das Vereinigte Königreich weiter von der EU entfremdet, obwohl das wohl von vielen Brexit-Befürworter*innen als positiver Nebeneffekt angesehen wird.

Das Erasmus-Programm, das für „European Community Action Scheme for the Mobility of University Students“ steht, ist ein EU-weites Austauschprogramm, das vor über 30 Jahren im Jahr 1987 begründet wurde. Ziel des Programms ist es, Studierenden, aber auch Schüler*innen, Auszubildenden und Lehrenden, die Möglichkeit zu geben, eine globale Ausbildung zu erfahren. Derzeit sind über 5.000 Universitäten in 37 Ländern beteiligt, was einer Zahl von 6 Millionen Studierenden entspricht, die von dem Programm profitieren.

Das Turing-Programm, benannt nach dem Mathematiker und Informatiker Alan Turing, wird im September 2021 das Erasmus-Programm ablösen und soll rund 35.000 Studierenden an Universitäten, Hochschulen und Schulen die Möglichkeit geben, Praktika und Austauschprogramme im Ausland zu absolvieren. Obwohl es beruhigend ist, dass es eine Art Alternative geben wird, gibt es keinen Zweifel daran, dass viele Studierenden den Verlust des Erasmus-Programms spüren werden.

Wir haben mit britischen Studierenden, die in den letzten Jahren am Erasmus-Programm teilgenommen haben, über ihre Erfahrungen im Auslandsstudium gesprochen.

Lauren Mason

Erasmus: Deutschland

Karneval 2012, Cologne

Die Möglichkeit, dank des Erasmus-Programms ein Jahr in Deutschland zu studieren, hat mir wirklich die Augen geöffnet. Mir ist bewusst geworden wie eingeschränkt unser Denken und Handeln in der eigenen kulturellen Blase ist.

Meine Zeit an der Universität Bonn in Deutschland hat mir gezeigt, wie andere Bildungssysteme funktionieren, was im Lehrplan als wichtig erachtet wird und welche Fähigkeiten geschätzt werden. Das veranlasst einen dazu, das System und die Kultur, in der man aufgewachsen ist, zu hinterfragen - aber auf eine konstruktive Art und Weise. Warum denken manche Menschen anders und wie können wir das als Stärke nutzen?

Erasmus hilft dir dabei ins Ausland zu gehen, indem es die administrativen, finanziellen und logistischen Hürden viel kleiner macht. Es ist eine Bildungserfahrung, aber auch eine persönliche. Wenn man in einer neuen Kultur und Gesellschaft lebt, merkt man, dass Menschen Dinge anders handhaben - am Anfang scheint alles anders und verwirrend. Wer hätte gedacht, dass die nach den Klischees so strengen und vernünftigen Deutschen am 11. November zum Kölner Karneval so richtig ausgelassen feiern? Aber am Ende nimmt man die besten Erfahrungen mit zurück in die Heimat und sie prägen die eigene Persönlichkeit. Man begreift, dass Menschen aus Deutschland, Spanien, Estland oder der Türkei vielleicht eine andere Sprache sprechen und anderes Essen essen, aber alle die gleichen Hoffnungen und Ängste teilen.

Nach meinem Jahr in Deutschland packte es mich und ich zog erst nach Frankreich, dann nach Belgien. Ich liebe Großbritannien immer noch, aber ich bin traurig, dass zukünftige Generationen nicht die Möglichkeit haben werden, diese Erfahrung eines Auslandsstudiums zu machen und neue Freundschaften über das Erasmus-Programm zu schließen.

Holly Cabrelli

Erasmus: Spanien

Das Erasmus-Programm ermöglichte es mir für ein Jahr ins Ausland zu gehen und meine Spanischkenntnisse zu verbessern. Von Erasmus-Partys bis hin zum Tandem-Sprachaustausch - es war eine unglaubliche Erfahrung, die so viele verschiedene Möglichkeiten bot. Ich durfte Menschen aus ganz Europa mit unterschiedlichen Backgrounds kennenlernen und schloss lebenslange Freundschaften.

Die Teilnahme an Erasmus hat mich aus meiner Komfortzone herausgeholt und mir ermöglicht für ein Jahr lang weit weg von zu Hause zu leben. Ich konnte arbeiten und Erfahrungen im Marketing sammeln (in dem Bereich möchte ich auch in Zukunft arbeiten) und gleichzeitig mein Studium fortsetzen.

Das Leben in Spanien und die Arbeit in einer spanischen Firma haben mir sehr geholfen mein Spanisch zu verbessern und mir viel Selbstvertrauen gegeben. Durch Spanischkurse der Universitäten in Barcelona und Zaragoza konnte ich meine Grammatik verbessern. Diese Erfahrungen werden mir in Zukunft zweifellos zugute kommen, da sie mir etwas gegeben haben, das bei Bewerbungen und Vorstellungsgesprächen hervorsticht.

Ohne das Erasmus-Programm werden Studierende entmutigt sein, Sprachen an der Universität zu erlernen. Für mich war es genau das, was mich anfangs dazu bewegt hat einen Sprachkurs zu belegen. Es ist außerdem schwer ein Auslandsjahr ohne die Unterstützung durch das Erasmus-Programm zu finanzieren und zu organisieren.

Erasmus hat meine Sicht auf Spanien und Europa als Ganzes stark verändert. Am Anfang war ich nervös in ein anderes Land zu ziehen, aber als ich mich eingelebt hatte, merkte ich schnell, wie freundlich jeder war und wie sehr sich alle bemühten, Freundschaften zu schließen. Ich liebe die spanische Lebensart. Sie ist so entspannt und es wird viel Wert auf gemeinsame Zeit mit Familie und Freund*innen gelegt. Ich durfte in verschiedene spanische Städte reisen - darunter Alicante, Valencia und Teruel - und jede hat mich aus anderen Gründen beeindruckt. Ich habe gemerkt, dass jede Stadt in Spanien ihre eigenen Besonderheiten und ihre eigene Geschichte hat und dass es sich lohnt während seines Auslandsjahres so viele Orte wie möglich zu erkunden.

Ciara Richards

Erasmus: Deutschland

Während meines Erasmus habe ich ein 12-monatiges Praktikum in München gemacht (2018-2019). Ich arbeitete in der Messeabteilung eines deutschen Tech-Unternehmens und hatte die Zeit meines Lebens. Ich fand schließlich noch ein weiteres Praktikum für 3 Monate, so dass ich für den Rest des Sommers vor meinem letzten Jahr an der Uni in München bleiben konnte. Sobald man merkt, dass man von München aus so viele andere Länder sehr einfach erreichen kann, wird Europa zu einem Paradies an Möglichkeiten.

Das Leben in München ist teuer, deshalb war ich sehr dankbar, dass ich dieses Stipendium bekommen habe. Nur durch das Stipendium konnte ich Erfahrungen machen, an die ich mich ein Leben lang erinnern werde.

Ich verliebte mich in die bayerische Lebensart und beschloss, nach meinem Abschluss im Juli 2019 (während der Pandemie) zurück nach München zu ziehen und einen Job im Marketing anzunehmen. Durch meine Erfahrung mit der Arbeit in einem deutschen Unternehmen und die starke Verbesserung meiner Sprachkenntnisse hob ich mich von anderen Bewerbern ab. Ich kann nicht in Worte fassen, wie dankbar ich für die vielen europäischen Menschen bin, die ich durch Erasmus kennengelernt habe. Ich war nie stolzer, Europäerin zu sein, als inmitten einer so vielfältigen Gemeinschaft.

Ich war unglaublich traurig, als ich hörte, dass Großbritannien in Zukunft nicht mehr am Erasmus-Programm teilnehmen wird. Das schmerzte, weil meine eigenen Erfahrungen meine Meinung zu Europa sehr stark geprägt haben. Es schmerzte sogar noch mehr, weil Boris Johnson im Januar gelogen hat. Es schmerzt auch jetzt, weil es in Zukunft keine Möglichkeit geben wird gibt, dem Stereotyp von Brit*innen, keine anderen Sprachen zu sprechen, etwas entgegen zu setzen, wenn das Turing-Programm die Commonwealth-Länder fördert.

Es ist unglaublich frustrierend und traurig zu sehen, wie Leute (aus einer älteren Generation) Erasmus schlecht reden und das Programm als Urlaub bezeichnen. Ich habe während dieses Praktikums härter gearbeitet, als in jedem anderen Job, habe Erfahrungen gesammelt und jeden einzelnen Tag in einer anderen Sprache kommuniziert. Es gibt gewisse Unterschiede, aber in der Regel reicht das Grundgehalt nicht aus, um in einer Stadt wie München zu leben - das Stipendium hat es mir ermöglicht, in diesem Jahr mein volles Potenzial auszuschöpfen.

Zahra Iqbal

Erasmus: Spanien

Ich hatte das Glück, mein Erasmusjahr in Madrid zu absolvieren. Mein Erasmus war eine der besten Erfahrungen in meinem Leben. Als jemand, der aus einem Arbeiter*innenmilieu kommt, haben nicht viele Leute, die ich kenne, die Freiheit und die Finanzen um sich einen einjährigen Auslandsaufenthalt zu leisten. Dank des Erasmus-Programms und des Stipendiums hatte ich diese Möglichkeit.

Sprachlich hat sich mein Spanisch während des Aufenthalts in Spanien massiv verbessert. Aber ich denke, das Wertvollste war, dass ich aus meiner Komfortzone heraus gezwungen wurde, was mir viel mehr Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten gegeben hat. Ich sage mir oft, wenn ich alleine in ein neues Land ziehen kann, kann ich alles schaffen!

Durch das Erasmus-Programm habe ich eine Vielzahl von Studierenden aus ganz Europa kennengelernt und mich als Teil einer internationalen Gemeinschaft im Ausland gefühlt. Ich habe es genossen, Freunde aus Italien, Frankreich, Deutschland usw. zu treffen und Erfahrungen mit ihnen zu teilen. Es war einfach, an der Universität oder bei Veranstaltungen Freundschaften zu schließen, da sich die Erasmus-Student*innen zueinander hingezogen fühlten und Freundschaft in der Tatsache fanden, dass wir Europäer*innen und in Spanien waren - wir saßen alle im selben Boot. Ich reiste durch Spanien, setzte mich mit der Kultur auseinander und lernte wirklich viel über Spanien, Europa und das europäische Leben. Ich konnte an Demonstrationen teilnehmen, neue Hobbys finden, Museen besuchen und mich wirklich auf die spanische Kultur einlassen - eine Erfahrung, die ich nicht gemacht hätte, wäre ich nicht im Ausland gewesen!

Ich denke, dass es eine großer Verlust ist, dass Großbritannien nicht mehr Teil des Programms ist. Studenten wie ich, die es sich nicht leisten können, ohne das Stipendium ins Ausland zu gehen, werden nun einer lebensverändernden Erfahrung beraubt werden. Ich befürchte, dass das Ersatzprogramm nicht so fruchtbar und überzeugend sein und viele Nachteile haben wird.

Laura Brierley

Erasmus: Spanien und Frankreich

Das Erasmus-Programm ermöglichte es mir, ein Semester in Pau in Südfrankreich und ein Semester in Valencia, Spanien, zu studieren. Ich habe diese Erfahrung sehr genossen und habe viel über die unterschiedlichen Kulturen in Spanien und Frankreich im Vergleich zu Großbritannien gelernt. Dadurch, dass ich so viel Zeit in den lokalen Gemeinschaften verbracht habe, konnte ich meine Sprachkenntnisse drastisch verbessern.

Die Teilnahme an Erasmus ist eine einzigartige Erfahrung, da man viele Studierenden trifft, die im selben Boot sitzen und alle so freundlich sind. Ich habe so viele tolle Menschen aus ganz Europa kennengelernt, mit denen ich immer noch in Kontakt stehe. Es war eine große Unterstützung für mich, denn ohne das Erasmus-Programm hätte ich es schwer gehabt, dieses unglaubliche Jahr zu finanzieren, und ich bezweifle, dass ich die gleichen Erfahrungen hätte machen können.

Erasmus hat mir geholfen, Kontakte zu EU-Studierenden zu knüpfen und ein Gefühl der Gemeinschaft zu schaffen. Es ist sehr traurig, dass zukünftige Studierende aus Großbritannien nicht in der Lage sein werden, von dieser lebensverändernden Erfahrung zu profitieren, die einen so großen Einfluss auf mich hatte. Es hat wirklich meine Perspektiven verändert und mir ein neues Gefühl der Unabhängigkeit gegeben - es ist eine Erfahrung, die ich nie vergessen werde!

Im zweiten Teil dieser Serie werden wir mit EU-Studierenden sprechen, die ihr Erasmus in Großbritannien gemacht haben.

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