Intimfeindschaft, so wird die Beziehung zwischen Donald Tusk und Jarosław Kaczyński immer wieder bezeichnet. Tatsächlich waren sich beide einmal nahe. Zumindest hatten sie einen gemeinsamen Feind: das kommunistische Regime. In der Zeit des demokratischen Umbruchs entwickelten sie eine leidenschaftliche Feindschaft gegeneinander.
Kaczyński und Tusk sind die unbestrittenen Schwergewichte der polnischen Politik. Die Tatsache, dass sich Tusk in Brüssel nicht mehr der polnischen Innenpolitik widmet hat an dieser Wahrnehmung kaum etwas verändert. Beide Politiker wurden in der Arbeit gegen die Allmacht der Polnischen Arbeiterpartei politisiert.
Der aus Danzig stammende Tusk trat in den Achtzigerjahren als Anführer von oppositionellen Studentengruppen auf, schrieb für eine Zeitung, die der verbotenen freien Gewerkschaft „Solidarität“ nahe stand. Seinen Lebensunterhalt verdiente er währenddessen mit handwerklicher Arbeit in einer Genossenschaft. Sechs Jahre lang.
Jarosław Kaczyński und sein Bruder Lech opponierten ebenfalls gegen das System. Dabei vetraten sie einen Patriotismus und ein Demokratieverständnis, das sich an der Politik der Zwischenkriegszeit orientierte. Auch heute wird der Parteivorsitzende Jarosław Kaczyński gerne mit dem „Marschal“ genannten Militär und Staatsmann Józef Piłsudski verglichen, der für die Verteidigung Polens gegen die Sowjetunion verehrt wird, sich 1926 an die Macht putschte und für Parlamentarismus wenig Sinn hatte.
Grabenkämpfe zwischen ehemaligen Regimegegnern
In ihrem Buch, „Die geglückte Revolution“ beschreibt Agnieszka Zagańczyk-Neufeld, wie sich innerhalb der demokratischen Opposition zwei meinungsbildende Lager herausbildeten, die sich noch lange nach 1989 unversöhnlich gegenüber stehen sollten. Auf der einen Seite das Lager der liberalen Realisten. Auf der anderen Seite die Romantiker der polnischen Rechten. Vereinfachend gesagt sprachen sich die Vertreter des liberalen Lagers für eine pragmatische, schrittweise und auf Kompromisse bedachte Änderung des politischen Systems aus. Die Anhänger der Rechten verlangten dagegen ein Weiterführen der Proteste, einen klaren Bruch mit dem alten System, und eine umfassende juristische Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit.
Meinungsbildend waren nach Zagańczyk-Neufeld lange Zeit die „Reformkommunisten“, eine Gruppe Intellektueller, die zuerst den Aufbau des sozialistischen Staates unterstützten, sich jedoch später gegen staatliche Repressionen wandten. Die Publizisten Jacek Kuroń und Adam Michnik sind hier als die einflussreichsten Vertreter einer Generation von Intellektuellen zu verstehen, die zuerst Hoffnungen in eine Reform des sozialistischen Staates hatten und später eindeutig liberaldemokratische Einstellungen vertraten. Die Gazeta Wyborcza, herausgegeben von Adam Michnik, seit langem auflagenstärkste Zeitung in Polen, ist für die Einstellungen der werte- und marktliberalen, pro-europäischen und globalisierungsfreundlichen Bevölkerungsanteile prägend.
Kampf um die Deutungshoheit nach 1989
Für den Gründungsmythos der heutigen III. Polnischen Republik haben die Verhandlungen am Runden Tisch im Frühjahr 1989 zentrale Bedeutung. Die Gespräche zwischen Vertretern der sozialistischen Regierung und der demokratischen Opposition werden von Historikern gerne als „ausgehandelte Transformation“ bezeichnet. Ein Kompromiss der den Weg hin zu den ersten halbfreien Wahlen ebnete und einen Systemwandel ohne Blutvergießen ermöglichte.
Einer der Teilnehmer bei den Verhandlungen zwischen Opposition und Regime in Magdalenka bei Warschau war Jarosław Kaczyński. Kompromisse waren seine Sache nicht. Zu dieser Zeit wurden die Gräben zwischen der polnischen Rechten angeführt von den Gebrüdern Kaczyński und den lange Zeit tonangebenden Anhängern der „Solidarität“ ausgehoben. Politische und persönliche Feindschaft gingen dabei Hand in Hand. Jacek Kuroń gibt seinem Tischnachbarn in Magdalenka einen beinahe liebevollen Spitznamen und beschreibt zugleich paranoide Züge an ihm: „Während unserer Beratungsgespräche hat Jarek (Jarosław Kaczyński) jeden Tag ein Referat gehalten, in dem er die Annahme darlegte, dass wir alle von der Regierung manipuliert werden, und hat die Ereignisse ziemlich geschickt als das Ergebnis eines bewussten Spiels der Kommunisten dargestellt.“
Bei den Parlamentswahlen 1991 traten die Brüder Kaczyński mit ihrer Partei „Vereinigung Zentrum“ (Porozumienie Centrum, PC) an und errangen in dem damals stark fragmentierten Parteiensystem über 8 Prozent. Zwei Jahre später scheiterten sie an der Fünfprozenthürde. Aus der PC ging im Jahr 2001 die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS/ EKR) hervor. Die Anhänger aus der Zeit der PC sind auch heute noch im engeren Machtzirkel um Kaczyński zu finden. Nach den Parlamentswahlen 2005 schien der Durchbruch für die PiS (EKR) gekommen. Als sie jedoch ihren eigenen Koalitionspartner in Misskredit brachten, wurde die PiS schon nach zwei Jahren wieder in die Opposition geschickt.
Zwei Legislaturperioden regierte die liberale Bürgerplattform PO (EVP) in Polen. Die Wiederwahl 2011 galt Politikwissenschaftlern als Zeichen der Konsolidierung des polnischen Parlamentarismus. Die Regierung Tusk fällt zusammen mit einem beispiellosen Wirtschaftswachstum. Selbst nach der Finanzkrise 2008 verzeichnete Polen als einziges Land in Europa ein Wachstum des BIP. Die Leitlinien der PO (EVP) entsprachen dem Zeitgeist und den historischen Schlussfolgerungen vieler Polen: Ein starkes Bündnis mit den USA, eine klare Verankerung in der EU, ein wirtschaftlicher Liberalismus, der die Ansiedlung ausländischen Kapitals begünstigte, gleichzeitig ein in Polen unumgänglicher Patriotismus und ein Bekenntnis zur katholischen Kirche. Die Partei Tusks stand lange auf der richtigen Seite der Geschichte. Bis sie erkennen musste, dass sich Geschichte umschreiben lässt.
Geschichtspolitik gegen liberale Gewissheiten
Jarosław Kaczyński verfolgte lange schon eine gezielte Geschichtspolitik. Die Umdeutung der Verhandlungen am Runden Tisch 1989 ist dabei ein zentraler Angriffspunkt. Statt eines notwendigen Kompromisses ist in Wahlprogrammen der PiS (EKR) und ihr nahestehenden Medien von einem „Elitenverrat“ die Rede. Was viele Beobachter in und außerhalb Polen als historischen Glücksfall betrachten, wird so zum schmutzigen Deal zwischen den alten Machthabern und neuen Eliten. Auch die später vom ersten demokratischen Premierminister Tadeusz Mazowiecki durchgesetzte Politik des „dicken Strichs“, das heißt der Grundsatz, ehemalige Funktionäre des Staatsapparates um des sozialen Friedens willen nicht strafrechtlich zu verfolgen, wurde von den Kaczyńskis immer wieder in Frage gestellt. Erst die vollständige „Durchleuchtung“ der Elite auf ihre politische Vergangenheit würde zu einem wirklichen Ende des Kommunismus führen. Statt einer von „post-kommunistischen“ Kadern durchsetzten III. Republik fordert Jarosław Kaczyński immer wieder eine Neugestaltung des politischen Systems, eine IV. Republik.
Polens Rechte: Zwischen Anti-Kommunismus und Anti-Liberalismus
Die Rhetorik der PiS weist eine seltsame Mischung aus Anti-Liberalismus (gegen die „Gewinner der Privatisierung in den 90er Jahren“) und Anti-Kommunismus (gegen die „alten Kader und postkommunistische Intellektuelle“) auf. Die Ironie der Geschichte ist dabei, dass Jarosław Kaczyńskis Machtposition als Vorsitzender der Partei ohne eigentliches Staatsamt stark an die Machtvertikale im kommunistischen System erinnert. Wie in der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei ist der Vorsitzende – gemeinhin wird Jarosław Kaczyński auch nur als der „Prezes“ bezeichnet – die Machtzentrale und graue Eminenz hinter der Regierung.
Sein Handeln sieht Kaczyński durch den Willen der Mehrheit gerechtfertigt. Dabei stand er selbst 2015 gar nicht zur Wahl. Mit dem Selbstverständnis eines Staatsoberhauptes besuchte er diese Woche die britische Premierministerin Theresa May. Dabei ist er formal nur ein Abgeordneter des Parlaments. In den Augen des „Vorsitzenden“ nur eine Formalie und Einschränkung seines Gestaltungswillens.
Die Geschichtspolitik der PiS schreckt nicht vor gezielter Diffamierung zurück. Vor den Parlamentswahlen 2005 behauptete ein der PiS nahe stehender Publizist, er habe aus gut informierten Kreisen gehört,„dass sich der Opa von Donald Tusk freiwillig zur Wehrmacht gemeldet haben soll“. Gut platziert im Interview mit einer Boulevardzeitung verbreitete sich die Falschmeldung rasch. Eine Lüge entschied über den Ausgang der Parlamentswahlen. Eine Gefahr, der sich Demokraten in jüngster Zeit häufig ausgesetzt sehen.
„Bullterrier der Kaczyńskis“
Verantwortlich für die gezielte Verleumdung war der Publizist Jacek Kurski. Er selbst bezeichnete sich selbst schon als „Bullterrier der Kaczyńskis“. Auf die Frage, warum er Donald Tusk die erfundene Geschichte angehängt habe, sagte er nur „Die Sache mit der Wehrmacht ist Quatsch. Doch wir ziehen das durch, da es einem das dumme Volk schon abnimmt.“ Im letzten Jahr wurde Jacek Kurski durch die PiS-Regierung mit der Leitung des öffentlichen Rundfunks beauftragt.
Die Affäre von 2005 ist beispielhaft für die Skrupellosigkeit und die Bereitschaft zur persönlichen Verletzung, die Jarosław Kaczyński in seiner Feindschaft gegenüber Donald Tusk an den Tag legt. Gleichzeitig zeigt sie wie leicht die polnische Rechte mit billigen Provokationen die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für sich vereinnahmen kann. Wer in den letzten Tagen die Titelseiten rechter Tageszeitungen in Polen betrachtete sah dort Fotomontagen von Tusk in Wehrmachtsuniform oder verunglimpft als „Volksdeutschen“.
Wenige Tage nach der Wiederwahl Donald Tusks zum Ratspräsidenten gegen polnischen Widerstand lud ihn die Staatsanwaltschaft zu einem Gerichtstermin am 15. März vor. Er sollte als Zeuge aussagen in einem Verfahren, dass mit der Flugzeugkatastrophe von Smolensk 2010 in Verbindung steht. Seit Jahren verbreitet die polnische Rechte die Theorie, dass es sich bei dem Flugzeugabsturz im russischen Smolensk, bei der die Regierungsmannschaft und Präsident Lech Kaczyński verunglückten um ein Attentat handelte. Dem ehemaligen Premier Tusk eine Beteiligung an einem russischen Komplott nachzusagen dient dabei nicht der Wahrheitsfindung, sondern der Rufschädigung des politischen Gegners.
Kaczyński scheint wenig von einer Gegnerschaft zwischen legitimen politischen Kontrahenten zu halten. Seine Attacken gegen die Opposition sprechen von einer Feindschaft, die, im Sinne Carl Schmitts, immer auch die Vernichtung des politischen Gegners mit einschließt. Sein Handeln sieht Kaczyński durch den Willen der Mehrheit gerechtfertigt. Dabei stand er selbst 2015 gar nicht zur Wahl. Mit dem Selbstverständnis eines Staatsoberhauptes besuchte er diese Woche die britische Premierministerin Theresa May. Dabei ist er formal nur ein Abgeordneter des Parlaments. In den Augen des „Vorsitzenden“ nur eine Formalie und Einschränkung seines Gestaltungswillens.
Ein gespaltenes Land: zwei Polen, zwei Geschichtsbilder
„Polens Ideologie ist die Unabhängigkeit“, mit diesen knappen Worten brachte es einmal der Historiker Timothy Snyder auf den Punkt. Wer in Polen für sich behaupten kann, das Land zu mehr Freiheit, Souveränität und Eigenständigkeit zu führen gewinnt Wahlen. Donald Tusk folgte dieser Doktrin indem er mit politischem Realismus Polens Position in der EU und NATO stärkte und eine Partnerschaft mit Deutschland, dem direkten Nachbarn und wichtigsten Außenhandelspartner suchte. Jarosław Kaczyński bestätigt die Gefühle von bedrohter nationaler Souveränität indem er immer wieder mit romantischer Geste den Aufstand gegen angebliche Fremdbestimmung von Außen, sei es durch die EU oder durch Deutschland inszeniert.
Bei ihrer Rückkehr vom Brüsseler Gipfel wurde Premierministerin Beata Szydło von ihrem Parteichef auf dem Flughafen mit Blumen begrüßt. In einem langen Interview sprach Jarosław Kaczyński anschließend von der historischen Leistung Szydłos, vom Widerstand gegen eine EU, die allein durch eine Person dominiert wird. Gemeint ist Angela Merkel. Die fehlende Unterstützung seines Freundes Viktor Orban erkläre er sich durch den Druck innerhalb der EVP-Fraktion. Gemeint ist wiederum die deutsche Bundeskanzlerin. Aus einem weiteren Beispiel für die Isolierung Polens innerhalb der EU wird ein Mythos geschaffen, der sich in das Geschichtsbild der PiS-Anhänger einfügt.
Die Nachrichtensendung des größten öffentlichen Fernsehsenders TVP, seit Einführung des umstrittenen Mediengesetzes unter Aufsicht des erwähnten Jacek Kurski, kommentierte die Wiederwahl von Tusk mit den Worten „Der heutige Gipfel in Brüssel hat gezeigt, dass es in Brüssel an Demokratie fehlt.“ Es gäbe nicht einmal eine demokratische Fassade.
Außenpolitische Ratio: Polen braucht eine starke Stimme in der EU
Die EU habe nicht einmal eine demokratische Fassade? Es ist ein schmaler Grad, auf dem sich die polnische Regierung bewegt. Als anti-europäisch will sie unter den kategorisch von Europa begeisterten Polen nicht gelten. Mit Le Pen, die aus ihren Ambitionen, die EU zu demontieren keinen Hehl macht, möchte man nicht in Verbindung gebracht werden. Le Pen verfolge eine Politik der 30er Jahre kommentierte zuletzt Außenminister Waszczykowski und lässt an seiner Vision einer Europäischen Union der lose kooperierenden Nationalstaaten keinen Zweifel.
Einen „Pol-Exit“ würden vor allem die polnischen Bürger fürchten. Und die derzeitige Regierung ist bemüht trotz aller Schaukämpfe auf europäischer Ebene solche Ängste zu zerstreuen. Nach dem Brexit waren die Zustimmungswerte für die Europäische Union in der polnischen Bevölkerung stark gestiegen. Bei einer Befragung der Bertelsmann-Stiftung waren es im März 2016 bereits 69 Prozent der Befragten aus Polen, die sich im Falle eines Referendums für den Verbleib in der EU aussprachen, im August schon 77 Prozent. Der höchste absolute Wert und höchste Zuwachs unter den sieben größten Mitgliedsländern.
Die Mitgliedschaft in der Europäische Union wird in Polen traditionell aus wirtschaftlicher und geopolitischer Perspektive beurteilt. In den letzten sieben Jahren machten EU-Fördermittel durchschnittlich 2,3% des polnischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) und 41% der staatlichen Investitionsausgaben pro Jahr aus. Strukturförderung, die niemand aufs Spiel setzen möchte.
In der konservativen Zeitung Rzeczpospolita führt Andrzej Talaga, bezeichnenderweise Direktor einer Beratungsfirma für die Rüstungsindustrie, die grundsätzliche Logik der polnischen Außenpolitik noch einmal aus: „Wer in Polen Schritte unternimmt hin zu einem Austritt aus der Europäischen Union verrät die nationalen Interessen.“ Und weiter: „Die Geopolitik ist unerbittlich. Eine Schwache Union bedeutet ein schwaches Polen. Und ein Polen außerhalb der europäischen Union ist eine Katastrophe.“
Diese Fakten sind bekannt. Sicher auch dem Parteivorsitzenden und inoffiziellem Regierungschef Jarosław Kaczyński. Und es gibt einige Stimmen in Polen, die es für verantwortungslos halten, auf der Europäischen Bühne persönliche Feindschaften zu inszenieren, um die Macht im eigenen Land zu sichern.
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