Teil 3

Humans of Saarland: „Vielleicht sind wir einfach Europäer*innen“

, von  JEF Saarland

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Humans of Saarland: „Vielleicht sind wir einfach Europäer*innen“
Foto: links Pixabay / RDLH / Pixabay Lizenz, rechts Pixabay / GuentherDillingen / Pixabay Lizenz, Bearbeitung: Anja Meunier

Das Saarland ist das kleinste der Flächenländer Deutschlands und teilt rund 150 Kilometer Grenze mit Frankreich, außerdem grenzt es an Luxemburg. Die Großregion „SaarLorLux“ zählt zu den Modellprojekten in Europa, in denen grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf allen Ebenen vorangetrieben werden. Für Menschen im Saarland ist grenzüberschreitendes Lernen, Arbeiten, Leben und Lieben schon seit Jahren Realität. Wie wächst man auf und was prägt das tägliche Leben, wenn man an der deutsch-französisch-luxemburgischen Grenze lebt? Dazu hat die JEF Saarland Menschen aus der Grenzregion porträtiert.


„Saarbrücken war nicht unsere Wunschstadt. Von keinem von uns. Ich wollte zurück nach Südfrankreich, Matthias in die Großstadt – nach Berlin oder Hamburg. Saarbrücken ist der Kompromiss, damit Matthias nach wie vor in Deutschland arbeiten kann und ich nicht all zu großes Heimweh nach Frankreich bekomme. Von Saarbrücken aus bin ich mit dem Zug innerhalb von sechs Stunden bei meinen Eltern in Südfrankreich. Das geht von woanders in Deutschland nicht.

Saarbrücken ist die einzige deutsche Stadt, die für uns groß genug und gleichzeitig nah an Frankreich und ,französisch geprägt’ ist. Hier muss keiner von uns auf seine Identität verzichten. Das war in Norddeutschland, wo wir uns kennengelernt haben, anders. Dort war es zwar sprachlich für mich einfacher, da alle deutliches Hochdeutsch sprechen. Aber die Leute waren nicht so nett. Hier im Saarland ist es umgekehrt: Die Leute sind alle nett, aber man versteht sie nicht immer. Ich würde schon fast sagen, dass der kulturelle Unterschied in den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Saarländer*innen und Hamburger*innen größer ist als zwischen Saarländer*innen und Französinnen und Franzosen.

Ich bin seit elf Jahren in Saarbrücken. Den deutschen Pass dürfte ich als EU-Bürgerin schon längst beantragen. Bisher habe ich es aber noch nicht gemacht. Ich lebe gerne hier, aber ich bin eben keine Deutsche. In Deutschland fühle ich mich nicht Deutsch. Aber wenn ich nach Hause nach Frankreich fahre, dann merke ich wie sehr ich mich doch ,verdeutscht’ habe. Ich bin dann genervt, wenn Verabredungen nicht so verbindlich sind oder komme zu pünktlich. Dann merke ich, dass ich schon lange in Deutschland bin.

Am 26. Mai stimme ich bei der Kommunalwahl im Saarland mit ab. Gleichzeitig werde ich bei der Europawahl im Wahllokal der Villa Europa in Saarbrücken für Frankreich wählen. Ich glaube nicht, dass diese Wahl über grundsätzliche europäische Errungenschaften entscheidet. Aber ich glaube, dass es vor allem als Verbraucher wichtig ist, zur Europawahl zu gehen. Zu diesem Thema wird ganz viel auf europäischer Ebene entschieden. Für die Zukunft kann ich sagen, dass wir auf jeden Fall weiterhin in Saarbrücken wohnen bleiben werden. Mit Félix hat sich die Sache noch verstärkt, denn er soll natürlich auch die französische Kultur mitbekommen. Und das geht in Saarbrücken.“ - Hélène, 34, Journalistin (ursprünglich aus Bordeaux) und Matthias, 42, Dozent für Deutsch als Fremdsprache (ursprünglich aus Limburg a.d. Lahn) mit Baby Félix


„Wenn uns jemand fragt ,Woher kommt ihr?’, dann müssen wir immer sagen ,Wir sind Deutsche aus Frankreich’. Das ist kompliziert. Wir sind in Saarlouis geboren. Unsere komplette Familie stammt aus dem Saarland. Wir haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Aber wir haben noch nie in Deutschland gelebt. Immer nur in Frankreich. Unsere Eltern haben noch vor unserer Geburt ein großes Haus, das nicht so teuer war, hinter die Grenze in Lothringen gekauft. Wir waren in Frankreich im Kindergarten und in der Grundschule. Unsere beste Freundin ist Französin. Wir hassen die Frage, ob wir nun Deutsche oder Französinnen sind. Am liebsten hätten wir beide Staatsbürgerschaften. Aber das geht nicht. Es gibt Momente, in denen wir lieber Deutsche sind, weil die Franzosen wieder irgendeinen Schwachsinn gemacht haben. Aber in Deutschland sprechen wir immer Französisch, damit uns niemand versteht. Wenn unsere Eltern damals nicht nach Frankreich gezogen wären, wäre unser Leben viel weniger schön! Uns fehlt immer etwas, wenn um uns herum niemand Französisch spricht. Wenn wir mit zweisprachigen Freunden unterwegs sind, können wir einfach von Deutsch auf Französisch wechseln, auch mitten im Satz. Das ist so einfach, weil jeder alles versteht. Es ist toll, beides zu haben und nicht nur Französisch oder Deutsch zu sein. Wir können uns von beiden Seiten das beste aussuchen. Außer bei den Wahlen. Wir können nicht bei den Bundestagswahlen teilnehmen, weil wir nie in Deutschland gelebt haben. Aber in Frankreich können wir den Präsidenten auch nicht wählen, weil wir Deutsche sind. Wir können höchstens bei den französischen Kommunalwahlen mitbestimmen. Und natürlich bei den Europawahlen. Wir profitieren jeden Tag von der Europäischen Union. Vielleicht sind wir einfach Europäer*innen.” - Ine und Lea, 18, Designstudentinnen aus Merten

„Ich bin Schuhverkäufer. Mein Ziel ist es, Menschen glücklich zu machen. Und hier bei Fifty-6 in Saarbrücken sind das Menschen aus aller Welt: 40% unserer Kund*innen kommen nicht aus Deutschland. Der überwiegende Teil kommt aus Frankreich – und aus der Großregion. Wir haben Luxemburger*innen, Metzer*innen, Straßburger*innen. Sie alle wollen ein Produkt: schöne Schuhe aus Europa. Wir hatten heute bestimmt schon zwanzig verschiedene Muttersprachler*innen hier. Egal, welche Sprache der*die Kunde*Kundin mit uns spricht, seine Sprache wird hier gesprochen – ob wir sie kennen oder nicht. Denn wir sprechen die Sprache der Schuhe.

Wir haben auch im Laden viele Nationen: Unser Lehrling ist Sohn albanischer Einwanderer, wir haben eine deutsch-russische Mitarbeiterin, einen Mitarbeiter mit italienischem Hintergrund sowie einen Franzosen. Der Kunde aus Lothringen bekommt von unserem Franzosen einen lothringischen Akzent und der Pariser einen Pariser Akzent. Durch die TGV-Verbindung Saarbrücken-Paris kommen immer mehr Kund*innen aus Paris. Saarbrücken ist den meisten Franzosen und Französinnen zunächst zwar kein Begriff. Aber, wenn der Franzose mal hier war, wird er wiederkommen! Der Pariser kennt die Internationalität auf einem anderen Niveau und lernt sie hier in Saarbrücken auf einer anderen Ebene – familiärer – kennen und schätzen. Wir haben auch viele englische Kund*innen. Saarbrücken liegt, von England kommend, auf der Strecke in Richtung französische Alpen.

Viele Engländer*innen machen dann in Saarbrücken Halt und gehen einkaufen. Wahrscheinlich kennen sie unseren Laden zunächst nicht. Aber spätestens, wenn sie sehen, wie die Leute unsere Fifty-6-Tüten in der Stadt spazieren führen, landen sie hier im Innenhof. Wichtige Kund*innen sind für uns auch die Italiener, die im Saarland leben. Beim Heimaturlaub in Neapel oder auf Sizilien sehen sie ein Paar Schuhe – und kaufen es dann später bei uns im Laden. Wir sind Europäer*innen. Wir sind keine Franzosen und Französinnen, Engländer*innen oder Italiener*innen mehr. Und Deutsche sowieso nicht. Es gab bis 1871 überhaupt keine Deutschen! Am 26. Mai werde ich selbstverständlich wählen gehen. Sie sehen ja beim Brexit, was passiert, wenn man nicht wählen geht! Es ist sehr gut, dass die Wahlen in Deutschland immer am Sonntag stattfinden. Da hat normalerweise jeder Zeit.” - Max, 60, Schuhverkäufer, ursprünglich von der Insel Sylt


„Ich hatte nie geplant, wieder zu meinen Eltern zu ziehen. Nach dem Abitur im Saarland habe ich in Heidelberg Volkswirtschaftslehre studiert. Zum Master in BWL wollte ich dann an die Universität des Saarlandes. In Saarbrücken ist es einfacher als an vielen anderen Universitäten, mit einem VWL-Bachelor einen BWL-Master zu machen. Doch meine Eltern wollten, dass ich pendele, wenn ich im Saarland studiere.

Ich habe keinen Anspruch auf BAföG. Während des Bachelors finanzierte ich meine Lebenshaltungskosten teilweise über einen Nebenjob auf 450 Euro Basis. Für den Rest kamen meine Eltern auf. Ich selbst kann mir zurzeit kein Zimmer in Saarbrücken leisten. Und ein zeitintensiverer Nebenjob ist einfach nicht möglich, wenn man das Studium in Regelstudienzeit hinkriegen will. Außerdem möchte ich ja einen guten Abschluss machen. Ich komme gut mit meinen Eltern klar. Aber wenn man einmal die Eigenständigkeit gewohnt ist, ist es schon schwer, wieder daheim einzuziehen.

Da ich sowieso schon immer ins Ausland wollte, kam mir dann die Idee, zumindest für ein Semester noch einmal rauszukommen: mit Erasmus+. Ich wollte in ein Land, in dem ich noch nie war. Am Ende wurde es Dänemark. Die Vorbereitung des Auslandsaufenthaltes war durch die Unterstützung des Erasmusbüros der Universität des Saarlandes relativ einfach. Fünf Monate lebte ich dann in der Stadt Odense auf der Insel Fyn vor Kopenhagen. Dänemark ist teuer. Daher bekommt man dort den Erasmus+-Höchstsatz. Die 460 Euro im Monat deckten die Kosten für mein Zimmer im Studentenwohnheim. Dänemarks Universitäten sind sehr international. Die Masterprogramme sind alle auf Englisch. Und wenn man einmal nicht weiter weiß, kann man den Professor oft auch einfach auf Deutsch fragen. Es gibt sehr viele Deutsche an Dänemarks Unis. Generell lebt man schon in einer Erasmus-Blase.

Dadurch lernt man aber auch andere Europäer*innen kennen. Ich habe noch immer guten Kontakt zu spanischen Freunden aus meiner Zeit in Dänemark. Bald gebe ich meine Masterarbeit ab. Danach würde ich gerne wieder in den Norden. Im Sommer ist es mir oft zu heiß in Deutschland. Skandinavien finde ich spannend. Ich gehe schon aus Prinzip zur Europawahl. Die Wahlbeteiligung bei den letzten Wahlen war einfach zu niedrig.” - Robin, 25, BWL-Student aus Landsweiler-Lebach


„Ich stehe gerade mit meiner Ware auf dem St. Johanner Markt, aber vor ein paar Stunden hatte ich meinen Stand noch in Luxemburg. Viermal die Woche fahre ich zum Verkauf meiner Apfel-Subkulturen dorthin. Nach Dittlingen, Strassen, Etterbrueck und Luxemburg-Stadt. Der große Vorteil unseres Betriebs in Merzig ist, dass wir direkt an der Autobahnauffahrt nach Luxemburg liegen. Durch den freien Warenverkehr und die einheitliche Währung in der Europäischen Union macht so ein Verkauf in Luxemburg keinerlei Probleme.

In Luxemburg gibt es nicht so viele Landwirte mit Subkulturen. Daher habe ich auf den dortigen Märkten kaum Konkurrenz. Auf dem großen Markt auf dem Kirchberg sind von den 40-50 Ständen nur 4-5 Stände von Bauern und Bäuerinnen. Alles andere sind Händler*innen. Ich lege Wert darauf, meine Ware auch direkt beim*bei der Endverbraucher*in anzubieten. In Luxemburg habe ich Kund*innen von Hausmann*Hausfrau über Rentner*innen bis hin zu EU-Beamten. Mit letzteren unterhalte ich mich auch mal über aktuelle politische Themen in Europa.

Natürlich ist in der Europäischen Union nichts perfekt. Gerade für die Landwirt*innen ist die EU nicht immer positiv gewesen. Das liegt vor allem an dem Bürokratiewahnsinn. Einmal im Jahr müssen wir Bauern und Bäuerinnen unsere Subventionen beantragen. Das ist sehr viel Schreibkram neben der praktischen Arbeit. Und wenn wir zu spät einreichen, gibt es Abzüge. Aber das Positive überwiegt! Ich weiß gar nicht, von was die englischen Bäuerinnen und Bauern nach dem Brexit ohne die EU-Subventionen leben wollen. Es ist für mich ein Rätsel, warum gerade die für den Austritt gestimmt haben. Selbstverständlich gehe ich wählen. Die EU ist schon eine tolle Sache. In einer Gemeinschaft ist man immer stärker. Jeder, der gegen die offenen Grenzen ist, hat meiner Meinung nach etwas Grundlegendes nicht verstanden.“ - Hans-Joseph, 69, Landwirt aus Merzig


Das Projekt „Humans of Saarland“ wurde von der ASKO-Europa-Stiftung unterstützt. Die Bilder aufgenommen hat Ruben Jochem (treffpunkteuropa.de über JEF Saarland zur Verfügung gestellt).

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