Moritz (treffpunkteuropa.de): Am 1. Januar 2023 feiert der EU-Binnenmarkt seinen 30. Geburtstag. Dank ihm können sich Menschen, Waren, Dienstleistungen und Geld in der EU ebenso frei bewegen wie innerhalb eines Landes - so lautet zumindest die Theorie. Seit 2020 bist du Vorsitzende des Ausschusses für den EU-Binnenmarkt. Was konntest du in dieser Zeit über den “Single Market” lernen?
Anna Cavazzini, MdEP: Ein Großteil der europäischen Gesetzgebung basiert auf der rechtlichen Grundlage des Binnenmarktes, weil das einfach die Kernkompetenz der EU und quasi das Herz der europäischen Einigung ist. Ich finde es interessant zu sehen, dass es in den Debatten der letzten 20 Jahre zur Vollendung des Binnenmarktes vor allem darum ging, Barrieren zwischen den Mitgliedsstaaten abzuschaffen, also Handelshemmnisse zu reduzieren. Aber in den letzten Jahren - und das habe ich als Ausschussvorsitzende forciert, aber auch die Gesetzgebung der EU-Kommission zum Green Deal hat dazu beigetragen - hat sich die Binnenmarktpolitik stark weiterentwickelt. In den letzten Jahren ging man eher dazu über, nicht mehr nur Hindernisse abzubauen, sondern sich zu fragen, wie wir diese Regeln nutzen können, um unsere Politikziele zu erfüllen, zum Beispiel in Bezug auf Klimaschutz oder die digitale Transformation. Oder auch die Regulierung der großen Plattformen, die Kreislaufwirtschaft - wir nennen das im Fachjargon “embedded politics”, also die Einbettung von übergeordneten politischen Zielen, und nicht mehr reine Marktpolitik. Das ist in meinen Augen eine Entwicklung in die richtige Richtung.
Aus der historischen Perspektive ist die EU im Kern ein Friedensprojekt, genauso stützt sich die EU aber auf wirtschaftliche Integration. Hält also der Binnenmarkt, die Ökonomie, Europa zusammen? Oder ist es etwas anderes, das die Menschen in der Union verbindet?
Anna: Die ökonomische Integration spielt sicherlich eine wichtige Rolle und war am Anfang der Hebel, um weitere Integrationsschritte zu gehen. Die Ökonomie kann aber nicht die einzige Perspektive sein und auch nicht der einzige Faktor, der Europa zusammenhält. Es gab beispielsweise große Proteste gegen die Dienstleistungsrichtlinie, die wirklich so stark ökonomische Freiheiten in den Vordergrund stellen wollte, dass die Leute gesagt haben: “Das geht jetzt echt zu weit”. Man muss die Politik eben an der Perspektive der Menschen in der EU orientieren und andere wichtige Werte wie Umweltschutz mitdenken. Diese reine Liberalisierungs-Schiene findet richtigerweise keine Akzeptanz bei der Bevölkerung. Genau daraus ist die Idee entstanden, dass man Binnenmarktpolitik “embedded” denken muss - und eben nicht nur als einen Abbau von Handelshemmnissen. Also nein, die ökonomische Seite kann nie der einzige Integrationsmotor der EU sein.
Wie hängt dann der Binnenmarkt mit den Werten der EU zusammen?
Anna: Die Binnenmarktpolitik kann dazu dienen, europäische Werte umzusetzen. Der EU-Binnenmarkt ist der weltgrößte. Diesen Hebel können wir nutzen. Zum Beispiel indem wir Bedingungen für Produkte auferlegen, die in die EU importiert werden dürfen. In den letzten zwei Jahren habe ich stark für das Importverbot von Produkten aus Zwangsarbeit gekämpft. Damit nutzen wir unsere Marktmacht, um gegen Sklaverei und für Menschenrechte zu kämpfen. Oder auch in Bezug auf Kreislaufwirtschaft wollen wir in der EU die höchsten Standards der Welt festlegen. Das reicht über den Binnenmarkt selbst hinaus, da es einen Spillover-Effekt bei Importprodukten gibt, die diesen Standards entsprechen müssen. Und deswegen kann der Binnenmarkt, wenn er richtig genutzt wird, ein Instrument sein, um unsere Werte umzusetzen.
Der europäische #Binnenmarkt ist der weltweit größte. #Europa #Lexikon pic.twitter.com/tr0h6Ulrb2
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Jetzt stehen wir inmitten einer grünen Transformation, doch wie finden wir denn hier in der Handelspolitik die richtige Balance zwischen zu wenig und zu viel Regulierung?
Anna: Ich bin eine Freundin davon, klare Regeln zu schaffen. Wir sehen einfach, dass wir mit Freiwilligkeit nicht wirklich vorankommen. So war es auch beim einheitlichen EU-Ladekabel die letzten 12 Jahren der Fall, bis wir die Unternehmen nun verpflichtet haben. Genauso bedeutet eine klare Regelung Rechtssicherheit für Unternehmen. Die Klimakrise ist so weit vorangeschritten, dass man mit Technologieoffenheit alleine nicht mehr weiter kommt. Nichtsdestotrotz müssen wir unsere Regeln so gestalten, dass diese Innovationen weiter zulassen und fördern. Zum Beispiel in Bezug auf das einheitliche Ladekabel gibt es eine Art Überprüfungsklausel, mit der die EU-Kommission super schnell auf einen anderen Standard wechseln könnte, sollte USB-C nicht mehr dem Stand der Technik entsprechen. Ich bin aber davon überzeugt, dass klare Regeln sowohl für das Erreichen eines Politikziels als auch für die Unternehmen selbst am wichtigsten sind.
Brauchen wir denn für solche Politikziele insgesamt “weniger” Handel?
Anna: Ich denke, wir brauchen nicht ständig neue Freihandelsabkommen als Selbstzweck. Wir sollten uns eher damit beschäftigen, wie wir die bestehenden qualitativ besser machen und unsere Lieferketten insgesamt nachhaltiger gestalten. Priorität sollte auf dem Handel von Produkten liegen, die nachhaltig sind und wichtig für die Energiewende. Auf der anderen Seite müssen Handelsbewegungen, die für unseren Planeten schädlich sind, abgebaut werden. Um da wirklich ins Detail zu gehen, bräuchte es wohl ein gesamtes Pro-Seminar…
Jetzt bist du seit 2020 Vorsitzende des Binnenmarkt-Ausschusses im EU-Parlament. Fühlst du einen Unterschied, dass wir in Deutschland seit 2021 eine neue Regierung haben? Und bei welchen Aspekten würdest du dir hier ein stärkeres Engagement Deutschlands wünschen?
Anna: [lacht] In vielen Bereichen und Gesetzesinitiativen funktioniert die Zusammenarbeit mit der deutschen Bundesregierung viel besser. Ich habe schon gemerkt, dass sich gerade durch die Grünen in der Koalition Deutschlands Rolle im Rat verändert hat. Aber natürlich müssen auch wir uns immer mit unseren Koalitionspartnern einigen. Das dauert oft für meinen Geschmack etwas zu lange und natürlich wünsche ich mir da an der ein oder anderen Stelle mehr. Aber klar ist nunmal, dass wir in einer Koalition immer bei Kompromissen landen, mit denen alle gut leben können.
Hast du denn konkrete Vorschläge, wie man die Koordination der Europapolitik innerhalb der Bundesregierung effizienter gestalten könnte?
Anna: Mir geht es da gar nicht vordergründig um die Koordinierung oder Effizienz, sondern es gibt einfach viele unterschiedliche Interessen, beispielsweise bei den verschiedenen beteiligten Ministerien. Sicherlich sind da andere Mitgliedsstaaten klarer organisiert. Aber das ist das deutsche Prinzip und das lässt sich nicht so schnell ändern.
Zurück noch einmal zu dir: Was gefällt dir denn am meisten an deiner Arbeit als Ausschussvorsitzende? Und wie viel Parteilichkeit kannst du dir in dieser Rolle überhaupt erlauben?
Anna: Mir gefällt, dass ich die Agenda mit beeinflussen kann und dadurch Themen setzen kann. Ich habe dank des Amts auch einen stärkeren Zugang zu den Entscheidungsträger*innen der Europäischen Kommission. Eine bedeutende Frage ist zudem, wie wir uns als Ausschuss strategisch positionieren können. Das macht mir großen Spaß, weil ich auch die Triloge leite und bei allen Gesetzen zum Binnenmarkt so ein bisschen meine Hände mit im Spiel habe. Das bedeutet, dass ich moderierend dann auch Dinge in die eine oder andere Richtung lenken kann, um sicherzustellen, dass es für das Parlament am Ende ein Verhandlungserfolg wird.
Und in Bezug auf Parteilichkeit, ich bin eben nicht Grüne Ausschussvorsitzende, sondern ich spreche immer für den gesamten Ausschuss. Wenn ich auf größeren Events als Ausschussvorsitzende eingeladen bin, dann rede ich als Ausschussvorsitzende. Das ist natürlich keine Position, wo ich die reine grüne Lehre vortragen kann. Aber ich kann, wenn ich das markiere und als grüne Abgeordnete spreche, natürlich auch meine persönlichen Überzeugungen zum Beispiel in der Presse äußern - ich muss dann aber klarstellen, aus welcher Position ich spreche.
Wenn du dir jetzt die Projekte anschaut, die du bisher im Ausschuss begleitet hast: Worauf bist du besonders stolz und für welche politischen Projekte wünschst du dir eine schnellere Umsetzung im neuen Jahr?
Anna: Ich bin sehr stolz auf den Digital Services Act und den Digital Markets Act, also die große Digitalmarkt-Gesetzgebung. Ein großer Erfolg war auch das einheitliche Ladekabel. Außerdem bin ich stolz darauf, dass wir schon die Zusage der EU-Kommission haben, dass das Recht auf Reparatur kommen wird, welches ich sehr gepusht habe. Und, dass das EU-Lieferkettengesetz sowie ein Verbot von Zwangsarbeit auch in der Lieferkette jetzt eingeführt wurde, wofür ich mich ebenfalls stark gemacht habe.
Die Bilanz hängt auch davon ab, wie man die von der Leyen-Kommission bewertet, und da finde ich schon, dass sie bei vielen Aspekten geliefert hat und auch relativ responsiv dem Parlament gegenüber ist. Zuvor war das schon ein etwas anderer Schnack, sage ich jetzt mal. Als Grüne können wir immer sagen, und müssen wir auch sagen: Es geht weiterhin viel zu langsam voran. Gesetzgebungsprozesse verzögern sich, so wurde zum Beispiel das Recht auf Reparatur noch einmal verschoben, das Lieferkettengesetz wurde damals um ein Jahr verschoben. Hier brauchen wir mehr Geschwindigkeit, um das alles auch noch in dieser Legislatur zu schaffen. Im Großen und Ganzen finde ich jedoch, dass wir auch als Grüne Fraktion schon einige Dinge erfolgreich pushen konnten.
Also schaust du positiv in die Zukunft?
Ja, auf jeden Fall. Gerade für den Binnenmarkt konnte ich wirklich schon Einiges voranbringen, aber es liegt auch noch einige Arbeit vor uns. Danke für die Zeit und das Interview!
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