In Vielfalt geeint oder durch Vielfalt geteilt?

, von  Bild/Güz, Elise Geyssely, Lara Weimer, Siri Dausend, übersetzt von Philip Gaude

In Vielfalt geeint oder durch Vielfalt geteilt?
Foto: flickr/ Andreas Fozzman/ CC BY-NC-ND 2.0

“In Vielfalt geeint” - Der Leitspruch der Europäischen Union suggeriert, dass dieses scheinbare Paradox zwischen Diversität und Einheit durch die EU überwunden wäre. Dabei steht dahinter so viel mehr, als im ersten Moment erscheinen mag. 24 Amtssprachen, 27 Länder, 448,4 Milliionen Menschen. Pulsierende Weltmetropolen, ausgestorbene Landstriche. Junge, engagierte Demokraten, konservative Politikverdrossenheit. Wie passt dann das Gerede des “europäischen Gemeinschaftsgefühls”, der “europäischen Nation” in das Bild des Kontinents der Gegensätze?

Seit der Gründung versucht die Europäische Union, Kulturen, Unterschiede und Menschen zu vereinen, indem sie die „Grenzen des Unbekannten“ durchbricht und versucht, mit Toleranz, Einheit und Akzeptanz ein Gefühl der europäischen Identität zu kreieren.

Vielfalt und Einheit - vereinbar?

Charles de Montesquieu sagte über die politische Beschaffenheit Europas: „Europa ist ein Staat, der aus mehreren Provinzen besteht.“ Damit erkannte er bereits Ende des 18. Jahrhunderts die Vielfältigkeit des Kontinents.

Trotz dieser Unterschiede arbeitet die Europäische Union weiterhin an einer stärkeren Integration und einem gemeinsamen Zugehörigkeitsgefühl. Dabei gilt es, die jeweilige Individualität der Länder zu bewahren und so ein Gleichgewicht zwischen Einheit und Diversität zu finden, um den Charakter der Europäischen Union zu erhalten. Der Weg zu einer europäischen Identität ist so schwer wie uneindeutig. Ist dieses Gefühl der europäischen Zugehörigkeit in der Gesellschaft Europas, aller Divergenzen zum Trotz, wirklich angekommen?

Umfrage in Brüssel zum europäischen Zugehörigkeitsgefühl

Um einen Überblick über das Zugehörigkeitsgefühl der Bürger*innen zu bekommen, wurde eine Umfrage durchgeführt. Die Ergebnisse der Befragung beruhen auf 35 Personen verschiedener Altersklassen und Geschlechter in der Brüsseler Innenstadt am Tag der Europawahl, dem 9. Juni 2024.

Dieser Umfrage zufolge wird das Gefühl des europäischen Zusammenhaltes in der Gesellschaft tendenziell als stark empfunden. Dennoch reicht das Antwortspektrum auch in das andere Extrema hinein. Ein erheblicher Teil teilt diese Wahrnehmung überhaupt nicht oder nur schwach. “Europa ist noch nicht vereint, allein der Euro ist das staatenübergreifende Verbindungselement der EU”, so ein Befragter. Ein fehlendes Gemeinschafts-, aber starkes Identitätsgefühl mit der eigenen Heimatregion und der sowohl eigene Fokus, als auch der Fokus der politischen Berichterstattung auf die jeweiligen Nationalstaaten seien ebenfalls Gründe, weshalb das Empfinden einer europäischen Einheit nicht bei jedem ausgeprägt ist. Ein weiterer Befragter erklärt, dass er sich trotz 26-jährigem Wohnsitz in Brüssel immer noch als Fremder in Belgien - und der europäischen Union - fühle.

Die Mehrheit der Befragten allerdings sehen ein europäisches Gemeinschaftsgefühl in ihrem alltäglichen Leben verankert. Häufig sind dies im europäischen Kontext arbeitende oder studierende Personen - Teil der in Brüssel sehr präsenten europäischen Öffentlichkeit. Andere Befragte besuchten eine europäische Schule, Jüngere erzählen von internationalen Freundschaften, Studium oder Arbeit im Ausland und betonen, dass sie diese Freiheit in der EU sehr schätzen.

Als Folge definieren sich die befragten Brüsseler stärker über eine europäische Identität als über ihre Belgische, das Gefühl der Zugehörigkeit ist in ihrem Leben stark präsent.

Belgier*innen machten eine hohe Anzahl der Befragten aus. Gleichzeitig zeigten viele der befragten Belgier*innen eine starke Verankerung eines europäischen Gemeinschaftsgefühls. Befragte Französ*innen oder Deutsche gaben hingegen an, dass das Gemeinschaftsgefühl für sie eine geringere Rolle spielt. Ein Befragter mutmaßt, dass dies an der Größe der Länder liegt und daher die Nationalität für die Bevölkerung solcher Staaten im Vordergrund steht.

Vertretungen der Gebiete des Saarlandes und des Grand Est in der EU bestätigen das. Vor allem die Nationalstaaten würden das Stabilitäts- und Identitätsgefühl der Bürger*innen prägen. Infolgedessen orientiert sich die Bevölkerung stärker an der nationalen Politik als an der Europäischen. Der Leiter der ständigen Vertretung des Saarlandes, Christoph Roth, vergleicht das europäische Gemeinschaftsgefühl mit einem “Plattenspieler” - man spräche zwar viel davon, wirklich existent sei es jedoch nicht.

Gemeinsamkeiten, Vorteile und Identität der europäischen Union

So vielfältig wie Schallplatten, die von einem Plattenspieler bespielt werden können, sind auch die EU-Mitgliedsstaaten. Aber letztlich funktionieren - Schallplatten und die Staaten der Europäischen Union - alle auf die gleiche Art und Weise. Das legen nicht zuletzt die Kopenhagener Kriterien fest, die alle vereinten Länder erfüllen müssen. Demokratische Werte wie Gleichheit, Toleranz und die Vertretung der Menschenrechte, institutionelle Stabilität, und eine funktionierende Demokratie stellen daher die Grundlage für eine politische, und somit auch die Anlagen für eine gesellschaftliche Einheit dar. Das Europäische Parlament verabschiedet verbindliche Rechte, an die sich alle Mitgliedstaaten halten müssen und nähert die Staaten daher politisch und wirtschaftlich an. Diejenigen, die das europäische Gemeinschaftsgefühl stärker bis stark empfinden, nehmen vor allem diese Gemeinsamkeiten wahr.

Nicht nur von politischer und wirtschaftlicher Kooperation profitiert die europäische Gemeinschaft, sondern auch von der Diversität an Sprachen, Kulturen, Menschen. Christoph Roth zufolge entsteht Reichtum erst durch die Zusammenarbeit und den “Blick über den eigenen Tellerrand”. Dadurch, dass dies durch länderübergreifende europäische Programme wie Erasmus gefördert wird, tragen solche Projekte zur Verstärkung des Gefühls der europäischen Zugehörigkeit und Gemeinschaft bei. Es gilt, Divergenzen wertzuschätzen und gemeinsame Werte zu betonen. “Die Seele Europas ist die Toleranz” sagte Angela Merkel einmal - der Schlüssel, um in Vielfalt wirklich geeint zu sein.

Weiterführend zeigt die Umfrage, dass vor allem Jugendliche an internationalen europäischen Programmen teilnehmen, während der Anteil der Teilnahme der älteren Menschen geringer ist. Es ist jedoch zu beachten, dass das Angebot an interkulturellen Austauschprogrammen in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Dadurch wurde die Vernetzung der jungen Generation im europäischen Bereich erheblich gestärkt und höchstwahrscheinlich das Gemeinschaftsgefühl gestärkt.

Die Artikelserie Europawahl im Blick: Junge Stimmen aus Frankreich und Deutschland entstand im Rahmen des deutsch-französischen Wahlbeobachtungsseminars der Schwestervereine BILD-GÜZ. Während der Europawahl trafen sich fünf Tage lang junge Erwachsene aus Deutschland und Frankreich in Brüssel, um mit Akteuren des politischen Lebens Europas zu diskutieren und ihre Eindrücke in einer Reihe von Artikeln festzuhalten. Das Wahlbeobachtungsseminar wurde in Kooperation mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk, DokDoc.eu und dem Pressenetzwerk für Jugendthemen e.V. durchgeführt.

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