Interview mit Gregor Gysi: Werdet rebellischer!

Der Präsident der Europäischen Linken im Interview mit treffpunkteuropa.de

, von  Dilnaz Alhan

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Interview mit Gregor Gysi: Werdet rebellischer!
© Gregor Gysi, zur Verfügung gestellt von treffpunkteuropa.de

Gregor Florian Gysi, der am 16. Januar seinen 70. Geburtstag feierte, zählt zu den schillerndsten Figuren in der deutschen Politik. Er war jüngstes Mitglied des „Berliner Rechtsanwaltskollegiums“, wurde 1988 zu dessen Vorsitzendem und Mitte 1989 zum Vorsitzenden des „Rates der Vorsitzenden der Rechtsanwälte“ in der gesamten DDR. Bereits Ende der siebziger Jahre war er einer der bekanntesten Rechtsanwälte der DDR. Später war er jahrelang das Gesicht der Linken. Im Dezember 1989 begann seine politische Karriere. Gregor Gysi gestaltete nach der Wende maßgeblich den Übergang der SED zur PDS. Er war ihr Vorsitzender. Und er legte damit den Grundstein für die heutige Linke. Dass er, so selber, einen Beitrag dazu leisten konnte, dass es in Deutschland nun eine akzeptierte politische Kraft links der Sozialdemokratie gibt, die inzwischen auch einen Ministerpräsidenten stellt, zeigt ihm, dass seine Arbeit etwas bewirkt hat. Nun sind es schon über 28 Jahre in der Politik mit einer drei jährigen Pause dazwischen. Doch Gregor Gysi ist mehr als nur Politiker. Er ist Talkshowstar, Moderator, Unterhalter und auch Buchautor. Gerade ist seine Autobiografie „Ein Leben ist zu wenig“ erschienen. Im Interview erzählt er über seine Ziele, was 2018 für Europa bringt und eine mögliche Lösung des Kurden-Konflikts.

treffpunkteuropa.de: Herr Dr. Gysi, am 17.12.2016 sind Sie zum Vorsitzenden der Europäischen Linken gewählt worden. Was sind Ihre konkreten Ziele als Vorsitzender?

Gysi: Die EU und viele Nationalstaaten in Europa sind in einer existentiellen Krise, und die Demokratie, wie wir sie kennen, und das Zivilisationsprojekt Europa stehen auf dem Spiel. Ich möchte die europäische Linke einen und auf das gemeinsame Ziel konzentrieren, das Gegenüber zur Rechtsentwicklung in Europa zu werden, um diese stoppen und umkehren zu können. Außerdem sollten wir eine andere, aber eine europäische Integration anstreben.

treffpunkteuropa.de: Was bringt 2018 für Europa?

Gysi: In diesem Jahr wird sich entscheiden, ob der Brexit so gestaltet wird, dass er nicht zum Ausgangspunkt für einen Zerfall der Union wird. Grundsätzlich steht die Frage, wie die Gemeinschaft mit Mitgliedern umgeht, die wie etwa Polen oder Ungarn Rechtsstaat und Meinungsfreiheit abbauen. Die EU muss zeigen, ob ihr als Akteur auf der internationalen Bühne mehr einfällt, als militärisch zu agieren und dafür gemeinsame Strukturen zu schaffen. Über allem aber stehen zwei Herausforderungen, die in engem Zusammenhang stehen: Zum einen die soziale Frage, zum anderen die nationalistische Rechtsentwicklung.

treffpunkteuropa.de: Wie kann man die EU so anpassen, dass sie mit diesen Herausforderungen fertig wird?

Gysi: De facto muss die Europäische Union vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Die Kürzungspolitik der letzten Jahre hat insbesondere im Süden dazu geführt, dass Europa für die Menschen zum Schreckgespenst geworden ist. Dazu hat die Bundesregierung maßgeblich beigetragen, ohne das Schuldenproblem zu lösen. Portugal hat sich unter einer von der Linken tolerierten sozialdemokratischen Regierung von dem Kürzungsdiktat gelöst und einen selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung erreicht, so dass Schulden getilgt werden können, ohne Renten, Löhne und Sozialleistungen zu kürzen. Die europäische Idee des friedlichen Zusammenlebens in sozialer Wohlfahrt und mit wirtschaftlicher Entwicklung ist zu wichtig, als das man sie weiter von Merkel und Co. ruinieren lassen darf. Deshalb brauchen wir gemeinsame Standards im Sozialen, bei den Steuern, in der Umweltpolitik, weniger Bürokratie, mehr Transparenz und demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten.

treffpunkteuropa.de: Wie können die Herausforderungen in Europa Werte schaffen? Die Herausforderungen wohl nicht, aber die Antworten darauf. Im Prinzip geht es darum, sich wieder auf die europäische Idee zu besinnen, dass die Völker in Frieden und sozialer Wohlfahrt gemeinsam eine gedeihliche Entwicklung gestalten. Wenn man den Herausforderungen in diesem Sinne begegnet, kann Europa wieder an Wert für die Menschen gewinnen.

Gysi: Es wird die EU auf das Äußerste strapazieren, sich durch die Gesamtheit dieser Krisen und Herausforderungen zu manövrieren. Dabei muss sie vor allem ein zentrales Dilemma überwinden: Sie darf trotz und gerade wegen des europäischen Superwahljahrs 2016 und der Brexit-Verhandlungen nicht in Schockstarre verfallen. Was muss die EU tun, damit sie nicht in eine Schockstarre verfällt? Man muss sich bewusst werden, dass die Union als reine Wirtschaftsgemeinschaft unter neoliberalen Vorzeichen keine Zukunft hat.

treffpunkteuropa.de: Ein Vorwurf an die EU ist eine starke Überregulierung und damit einhergehend der Verlust von nationalen Identitäten. Wie begegnen Sie Menschen, die Ihnen gegenüber sagen „Uns wird alles aus Brüssel diktiert“?

Gysi: Dieses Argument täuscht darüber hinweg, dass die wesentlichen Entscheidungen von den Regierungschefs der Mitgliedsländer getroffen werden. Die EU wird nicht selten von den nationalen Regierungen benutzt, wenn sie mit bestimmten Vorhaben etwa beim Sozialabbau im eigenen Land nicht durchkommen. Sicher hat die EU-Bürokratie auch eine Eigenständigkeit entwickelt und neigt wie jede Bürokratie dazu, sich durch Unmengen von Vorschriften unabkömmlich zu machen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Entscheidungen in der Union endlich demokratischer gestaltet werden. D.h., dass das Europäische Parlament einen größeren Einfluss bekommen muss und die Bürgerinnen und Bürger viel mehr selbst und direkt entscheiden können müssen. Ein Vorhaben wie die Privatisierung des Wassers zum Beispiel mit absehbar verheerenden Auswirkungen hätte dann von vornherein keine Chance.

treffpunkteuropa.de: Die türkische Regierung versucht, zerschlagenes Porzellan zu kitten. Zuerst lobte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan seine Politiker-Kollegen in Europa, die er noch vor Monaten mit Nazi-Vergleichen belegt hatte, als „alte Freunde“. Nun besuchte er den französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Paris. Tags darauf begrüßt Bundesaußenminister Sigmar Gabriel den türkischen Außenminister Cavusoglu in seinem Heimatort Goslar. Nach Erdogan, der gerade um Freunde in Europa wirbt, geht auch Außenminister Cavusoglu auf Schmusekurs. Ist das zu begrüßen?

Gysi: Es ist immer besser, miteinander im Gespräch zu bleiben. Allerdings nicht auf Kosten der eigenen Grundsätze und Werte. Deutschland und Europa haben der türkischen Regierung viel zu lange eine Art menschen- und grundrechtlichen Rabatt dafür eingeräumt, dass sie Flüchtlinge auf deren Weg nach Europa aufhält und für die NATO ein strategischer Anker im Nahen und Mittleren Osten ist. Dass man dafür sogar in Kauf genommen hat, dass die Türkei terroristische Strukturen in der Nähe des Islamischen Staates duldet oder direkt unterstützt, während europäische Staaten gleichzeitig gegen den IS kämpfen, zeigt die moralische Verkommenheit einer solchen Politik. Das gilt auch für den völkerrechtswidrigen Einmarsch der türkischen Truppen in Syrien zur Bekämpfung der Kurdinnen und Kurden.

treffpunkteuropa.de: Amnesty International wirft der Türkei Folter vor. Im Jahr 2016 häuften sich die Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Polizeigewahrsam aus den kurdischen Regionen im Südosten, in denen eine Ausgangssperre verhängt wurde, und unmittelbar nach dem Putschversuch verstärkt auch aus Ankara und Istanbul. Nach der Ausrufung des Notstands wurden 118 Journalisten in Untersuchungshaft genommen und 184 Medienunternehmen per Regierungserlass willkürlich und dauerhaft geschlossen, so dass die oppositionelle Medienlandschaft massiv eingeschränkt war. EU-Bürger werden wegen politischer Vergehen festgehalten. Macht die EU genug Druck auf die Türkei die Menschenrechte einzuhalten? Macht Europa zu wenig?

Gysi: Deniz Yücel ist bald ein Jahr in Haft, während europäisches Geld für den inakzeptablen Flüchtlingsdeal weiter in Erdogans Kassen fließt. Das sagt eigentlich schon alles. Deniz Naki, auf den in Deutschland geschossen wurde, muss sich anschließend bei der deutschen Polizei stundenlang zu seiner prokurdischen Haltung befragen lassen. Nein, Deutschland und Europa machen viel zu wenig Druck. Die aktuelle türkische Charmeoffensive zeigt ja, dass Erdogan Europa braucht. Das kann und muss man nutzen, um die Verwandlung der Türkei in eine islamistische Autokratie zu stoppen.

treffpunkteuropa.de: Wie kann man die Kurden im Kampf gegen deren Unterdrückung in der Türkei, Iran, Irak und Syrien unterstützen? Was kann Deutschland bzw. Europa machen?

Gysi: In der Kurdenfrage zeigt sich die Unlogik der Politik des Westens. Einerseits unterstützen die USA die YPG-Truppen im Kampf gegen den IS, Deutschland bildet Peschmerga-Kämpfer aus und liefert Waffen. Andererseits rüstet man den NATO-Partner Türkei auf, der aktiv die YPG bekämpft und die gewählten Abgeordneten der kurdischen HDP einkerkert. Die Kurdinnen und Kurden sind die größte Bevölkerungsgruppe ohne eigenen Staat und Staatsgebiet. Es ist klar, dass es den nur geben kann, wenn die Staaten, in denen die Kurdinnen und Kurden leben, einer Lostrennung von Gebieten zustimmten. Die irakische Reaktion auf die Volksabstimmung in Nordkurdistan hat noch einmal gezeigt, dass damit nicht zu rechnen ist, obwohl es selbst für den Iran, den Irak, Syrien und die Türkei langfristig die tragfähigste Lösung wäre. Also muss Europa sein diplomatisches Gewicht zumindest für weitgehenden Minderheitenschutz und Autonomieregelungen einsetzen.

treffpunkteuropa.de: Wie stehen Sie zur Ukraine-Krise und den Konflikt der EU mit Russland?

Gysi: Die EU hat in diesem Konflikt nie entsprechend ihren Interessen agiert, sondern sich letztlich in die US-amerikanischen Versuche einspannen lassen, Russland in eine geostrategisch nachteilige Situation zu manövrieren. Die russische Reaktion mit der Besetzung der Krim und der Unterstützung separatistischer Kräfte in der Ostukraine war völkerrechtswidrig. Dass im Gefolge nun NATO-Truppen im Baltikum bis dicht an die russische Grenze gerückt sind – unter Mitwirkung von Bundeswehrsoldaten, was auch historisch mehr als fatal ist – und man sich in eine Spirale wechselseitiger Sanktionen begeben hat, macht die Sache nicht besser. Europa muss endlich seine eigenen Interessen definieren und entsprechend handeln. Sicherheit in Europa wird man nicht ohne, geschweige denn gegen Russland gewinnen.

treffpunkteuropa.de:Was muss hier getan werden?

Gysi: Europa sollte die Initiative für Verhandlungen auf höchster Ebene ergreifen und mit dem Beginn des Abbaus der Sanktionen gegen Russland ein entsprechendes Signal senden.

treffpunkteuropa.de: Nordkorea: Das Londoner Strategieinstitut IISS sieht Regionalmächte als beste Vermittler im Nordkorea-Konflikt. Die aggressive Rhetorik des US-Präsidenten werde Pjöngjangs Verhalten nicht ändern. Viele EU-Abgeordnete meinen, Europa solle sich am bestens heraushalten. Hätte Europa aber gute Chancen, in der Krise etwas zu bewegen?

Gysi: Gerade weil Europa nicht direkt in den Korea-Konflikt involviert ist, könnte es eine wichtige Vermittlerrolle übernehmen. Die derzeitigen zarten Entspannungsversuche zwischen dem Norden und Süden im Vorfeld der Olympischen Spiele öffnen vielleicht gerade ein Fenster, um vom atomaren Säbelrasseln wegzukommen und substantielle Schritte zu gehen.

treffpunkteuropa.de: 2015 stimmte der Iran der internationalen Überwachung seines Atomprogramms zu. Das Abkommen gilt als Meilenstein in der Beziehung des Iran zum Westen. US-Präsident Trump hat damit gedroht, den Deal in seiner jetzigen Form zu kippen. Kann die EU das Abkommen überhaupt alleine stützen, wenn die USA aussteigen?

Gysi: Zumindest in dieser Frage scheint es den Willen in Europa zu geben, sich nicht von den USA diktieren zu lassen, wie die internationalen Beziehungen gestaltet werden. Trumps Strategie des extremen nationalen Egoismus führt automatisch auch zu einer weiteren Entkernung des Völkerrechts, der Durchsetzung des Rechts des Stärkeren und der militärischen Austragung von Interessenkonflikten. Europa darf diesen Weg nicht mitgehen.

treffpunkteuropa.de: In den Zeitungen wird die jüngere Generation oft als verlorene Generation, europafern und politikverdrossen betitelt. Stimmen Sie dem zu?

Gysi: Nein, überhaupt nicht. Wenn ich sehe, wie viele jungen Menschen sich im Zuge der Diskussionen um die Flüchtlingsfrage vor Ort engagieren, wenn ich erlebe, wie sich junge Menschen in der Pulse of Europe-Bewegung eingesetzt haben, sich Europa durch Austausch erobern, dann zeigt sich mir ein ganz anderes Bild. In meine Partei sind im letzten Jahr über 6000 Menschen eingetreten, die jünger als 35 Jahre waren – das hat es zuvor nie in diesem Ausmaß gegeben.

treffpunkteuropa.de: Warum wollten Sie Politiker werden?

Gysi: Als ich im Dezember 1989 gefragt wurde, ob ich den Vorsitz der SED übernehmen wolle, gab es wohl keinen zweiten Menschen auf der Erde, der dieses Amt übernommen hätte. Angesichts der Anfeindungen, des Hasses, der mir insbesondere in der ersten Hälfte der 90er Jahre in Ost und West entgegenschlug, sagte ich heute Nein. Aber wenn ich eine Aufgabe übernehme, dann will ich sie auch richtig machen. Nun sind es schon über 28 Jahre in der Politik mit einer drei jährigen Pause dazwischen. Dass ich meinen Beitrag dazu leisten konnte, dass es in Deutschland nun eine akzeptierte politische Kraft links der Sozialdemokratie gibt, die inzwischen auch einen Ministerpräsidenten stellt, zeigt mir, dass meine Arbeit etwas bewirkt hat.

treffpunkteuropa.de: Wo sehen Sie Europa in zehn Jahren?

Gysi: Schwierige Frage. Ich bin nicht sicher, ob die EU und ihre Mitgliedsstaaten wirklich begreifen, dass es dringender Reformen bedarf und nationale Eigenbrötelei nicht weiterhilft. Ich hoffe, dass es uns gelingt, die EU sozialer, demokratischer, friedlicher, ökologisch nachhaltiger, unbürokratischer, transparenter und nichtmilitärischer zu gestalten.

treffpunkteuropa.de: Schlussfrage: Was möchten Sie unseren jungen Lesern mit auf den Weg geben?

Gysi: Werdet rebellischer und macht Europa zu eurer Angelegenheit.

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