Das beunruhigende Missbrauchspotential der polnischen Diffamierungsgesetze

Ist Twittern von „Andrzej Duda ist ein Idiot“ ein Verbrechen?

, von  Nick Kulawiak, übersetzt von Alexander Viehmeier

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Ist Twittern von „Andrzej Duda ist ein Idiot“ ein Verbrechen?
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Von Intellektuellen wie Czesław Miłosz über Arbeitsorganisator*innen wie Lech Wałęsa bis hin zu surrealistischen Künstler*innen wie „Major“ Waldemar Fydrych und der Orange Alternative: wirkungsvolle Dissident*innen haben die jüngere Geschichte Polens geprägt. Diese stolze Dissident*innentradition geriet jedoch zuletzt zunehmend in Gefahr, da die regierende Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) versucht, das polnische Justizsystem dazu einzusetzen, intellektuelle Eliten anzugreifen und abzuschrecken sowie Oppositionelle zu attackieren.

Dieser Trend lässt sich am besten an dem erstaunlichen Fall von Jakub Żulczyk erkennen, einem bekannten Schriftsteller, der den polnischen Präsident Andrzej Duda im November 2020 auf Twitter als „Idioten“ (polnisch: Debil) bezeichnete. Sein Kommentar kam, nachdem Duda dem gewählten US-Präsidenten Joe Biden zu „einer erfolgreichen Präsidentschaftskampagne“ gratuliert hatte, während er gleichzeitig feststellte, dass die offizielle „Nominierung durch das Wahlkollegium“ noch nicht stattgefunden hatte. Dudas Tweet unterstützte Donald Trumps unbegründete Behauptung, dass das Wahlergebnis vom Wahlkollegium aufgehoben werden könnte, was die engen Beziehungen zwischen den beiden Mandatsträgern widerspiegelt.

Nun lässt Żulczyk wissen, er werde nach Artikel 135 des polnischen Strafgesetzbuchs angeklagt. Demzufolge kann eine öffentliche Beleidigung des polnischen Präsidenten eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren nach sich ziehen. Das polnische Strafgesetzbuch enthält auch Artikel, die die Diffamierung des Staates, staatlicher Symbole und staatlicher Institutionen unter Strafe stellen. Selbst die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter und Symbole ist verboten. Dies macht Polen zu einem der OSZE-Länder, in denen die Meinungsfreiheit am stärksten eingeschränkt ist, wenn es um den Staat und seine höchsten Repräsentant*innen geht.

Meinungsfreiheit in Polen unter Druck

Bereits 2012 forderte die damalige OSZE-Vertreterin für Medienfreiheit, Dunja Mijatović, Polen dazu auf, die Schmähungen des Staatsoberhauptes zu entkriminalisieren. Mijatović erklärte, dass „strafrechtliche Sanktionen für die Beleidigung von Staatsoberhäuptern in einer modernen Demokratie fehl am Platz sind“, „zumal der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte solche Urteile seit Jahrzehnten aufgehoben hat“. Ihre Bemerkungen kamen, nachdem ein Mann nach Artikel 135 verurteilt wurde. Dies geschah nachdem dieser Mann eine Webseite mit einem Spiel erstellt hatte, in dem Benutzer*innen Gemüse auf ein Bild des damaligen polnischen Präsidenten Bronisław Komorowski schleudern konnten. Das polnische Gericht wies in seinem Urteil auf die „eindeutig sexuellen, erotischen Dimensionen“ der Bilder von Komorowski hin.

Obwohl ein Berufungsgericht die Entscheidung schließlich verwarf, folgte ein weiterer Fall, in dem ein Blogger angeklagt wurde, nachdem er in Bezug auf Komorowski und den damaligen Premierminister Donald Tusk schrieb, dass Polen von zwei „Russischen Cwele“ angeführt werde (Cwel ist eine profane Beleidigung aus der Gefängnissprache). Noch harmlosere Fälle, wie der eines Mannes, der den damaligen Präsidenten Lech Kaczyński im Jahr 2006 als „Dieb“ bezeichnete, nachdem er Berichten zufolge sechs Liter Kirschlikör getrunken hatte und diesbezüglich vor Gericht gestellt wurde, ließen wichtige Fragen zum Einsatz staatlicher Mittel in solch trivialen Angelegenheiten aufkommen.

Verleumdung als Wahlstrategie

Vor diesem Hintergrund ist der Fall von Żulczyk zumindest auf den ersten Blick nicht beispiellos. Verleumdungsfälle aus den Jahren vor 2015 scheinen jedoch kein übergreifendes politisches Motiv gehabt zu haben, ganz im Gegensatz zu der zunehmend politischen Grundlage für die Einführung von den Verleumdungsgesetzen nach 2015.

Seit ihrem Aufstieg an die Macht im Jahr 2015 hat die PiS-Partei eine zunehmende Polarisierung explizit als Wahlstrategie angeheizt. In diesem Kontext werden Verleumdungsgesetze wie z.B. Artikel 135 sehr gefährlich. Darüber hinaus könnte ein solch gezielter Einsatz des Justizsystems durch die PiS im Fall Żulczyk ein Vorbote für die Zukunft sein: eine vermeintliche Gewaltentrennung, bei der Justiz und Regierung jedoch kooperieren, um Dissens und Proteste zu unterdrücken, indem sie im "autokratisierendsten Land der Welt" auf prominente öffentliche Stimmen abzielen.

Komorowski stellte klar, dass er nichts mit den Fällen nach Artikel 135 zu tun habe, die gegen Personen erhoben wurden, die ihn diffamierten, und behauptete weiterhin, er könne „ohne einen solchen Schutz auskommen“. Jedoch scheint es nicht so, als würden die aktuellen polnischen Amtsträger*innen bei der Verteidigung von Staatssymbolen und politischen Repräsentant*innen ebenso umsichtig agieren.

Im Jahr 2018 wurde zum Beispiel ein Dichter zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er ein Video veröffentlicht hatte, in dem er eine leicht veränderte Version der Nationalhymne sang, in der Geflüchtete erwähnt wurden. Eine Flagge mit dem polnischen Wappen in Regenbogenfarben führte nach einer Pride Demonstration in 2018 zu einer strafrechtlichen Untersuchung. Im Dezember 2020 wurde zuletzt ein Mann zu sechs Monaten Zivildienst verurteilt, nachdem er einen Penis auf ein Wahlplakat von Andrzej Duda gezeichnet hatte. Weiterhin befinden sich zurzeit weniger bekannte Personen als Żulczyk vor Gericht, weil sie Duda diffamierten.

Im Jahr 2016 ergab eine Studie des Pew Research Center in 36 Ländern weltweit, dass die Unterstützung für die freie Meinungsäußerung in Polen nur in den USA übertroffen wurde. Eine nachfolgende Pew-Studie aus dem Jahr 2019 ergab jedoch, dass nur 49 Prozent der Pol*innen der Ansicht sind, dass es „sehr wichtig ist, dass Oppositionsparteien frei agieren können“. Dies ist eine relativ niedrige Zahl, die im Vergleich zu Ungarn (68 Prozent) und Tschechien (58 Prozent) im regionalen Kontext noch kleiner erscheint.

Obwohl der Fall von Żulczyk ein lehrreiches Beispiel ist, sollten seine Besonderheiten letztendlich das Gesamtbild nicht trügen: Die derzeit aktiven Verleumdungsgesetze sind nützliche Werkzeuge in der Strategie der PiS, die öffentliche Debatte einzuschränken und ein exklusiv nationales Narrativ zu erstellen. Unabhängige Medien zur Zielscheibe von Kritik zu machen ist dabei nur eine Taktik. Akademiker*innen anzugehen, deren Forschungsergebnisse den Mythos erschweren, dass Pol*innen während des Holocausts ausschließlich eine zuschauende Rolle innehatten, ist eine andere.

Nachdem nun das abgeschafft wurde, was Jarosław Kaczyński als „juristische Unmöglichkeit“ eines „über-idealistischen Verständnisses von Balance und Teilung der Gewalten“ bezeichnet hat, kann die PiS die weitreichenden und allgemein anwendbaren Verleumdungsgesetze zur Unterdrückung prominenter dissidentischer Stimmen wie Żulczyk’s einsetzen.

Indem die Regierung Żulczyk vor Gericht stellt, erinnert sie alle kritischen Stimmen daran, dass öffentlich und auf den sozialen Medien ausgedrückter Dissens Konsequenzen mit sich bringen wird.

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