Nachdem das „No“-Lager fast 60 % der Stimmen im Verfassungsreferendum für sich verbuchen konnte, hat Regierungschef Renzi seinen Rücktritt eingereicht. In der Folge könnten Neuwahlen ausgerufen werden, wie sie jetzt schon Vertreter der fremdenfeindlichen Lega Nord (LN) und der populistischen Movimento 5 Stelle (M5S) fordern. Das neue italienische Wahlgesetz Italicum, welches im Juli 2016 verabschiedet wurde, könnte das politische System Italien nachhaltig verändern.
Italicum, die dritte große Wahlreform seit 1993, soll vor allem klare Mehrheiten schaffen. Gewinnt eine Partei mehr als 40 % der Stimmen, wird sie mit einem Bonus ausgestattet, so dass sie über 54 % der Sitze verfügt. Gelingt keiner Partei die Überschreitung dieser Hürde, treten die zwei Parteien mit den meisten Stimmen in einer Stichwahl gegeneinander an. Der Gewinner erhält den genannten Mehrheitsbonus und verfügt über eine komfortable Mehrheit. Die restlichen Sitze werden proportional an alle Parteien verteilt, die mehr als 3 % der Stimmen erhalten haben. Wahlbündnisse, die für die Regierungsinstabilität der Vergangenheit verantwortlich gemacht wurden, sind nicht mehr zugelassen. Allerdings können Parteien mit gemeinsamen Listen antreten, die ähnliche Konsequenzen haben dürften.
Zwei Kammern, zwei unterschiedliche Wahlgesetze
Das Gesetz selbst gilt jedoch nur für die Wahl der ersten Kammer, das Abgeordnetenhaus. Ein Teil des Referendums vom 4. Dezember sah vor, dass die zweite Kammer, der Senat, nicht mehr direkt vom Volk gewählt würde, was dessen Wahlgesetz überflüssig gemacht hätte. Die Ablehnung von Renzis Verfassungsreform führt nun dazu, dass das italienische „perfekte Zweikammersystem“ weiterbesteht und de facto zwei Wahlgesetze existieren: das neue Gesetz Italicum gilt für die erste Kammer, das alte Wahlrecht (Porcellum) weiterhin für die zweite.
Die nächsten turnusmäßigen Wahlen stehen 2018 an, doch vorgezogene Neuwahlen könnten bereits im nächsten Jahr stattfinden. Präsident Mattarella wird zwar die Beratungen des Verfassungsgerichts zum Wahlgesetz abwarten, doch aktuelle Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass Movimento 5 Stelle (M5S) mit deutlichen Zugewinnen rechnen könnte. In den Umfragen, die seit der Europawahl 2014 durchgeführt wurden, waren Renzis Partito Democratico (PD) und Bepe Grillos M5S die mit Abstand stärksten Kräfte. Während der Kampagne für das Verfassungsreferendum lagen beide annähernd gleich auf und könnten mit aktuell 30 % der Stimmen rechnen, in einigen Umfragen war M5S sogar führend.
Umfragen deuten auf Stichwahl zwischen Populisten und Sozialdemokraten hin
Entsprechend des neuen Wahlgesetzes käme es also zu Stichwahlen zwischen der regierenden PD und der oppositionellen M5S. Gefragt nach der Präferenz in einem potentiellen zweiten Wahlgang, kristallisiert sich eine klare Mehrheit für die Movimento 5 Stelle heraus. In allen (bis auf eine im September) durchgeführten Umfragen seit März 2016 gaben die Teilnehmer an, dass sie diese gegenüber Renzis PD bevorzugen. Beide Parteien hätten hingegen gute Chancen gegen eine potentielle Mitte-Rechts-Liste, die größtenteils auf Berlusconis ehemaligem Wahlbündnis basiert.
Schenkt man den Umfragen Glauben, so hätte Grillos M5S gute Karten die nächste Regierung zu stellen. Die Chancen der Partei hängen in jedem Fall von ihrer Fähigkeit ab, Wähler zu mobilisieren. Sie selbst beschreibt sich gerne als Anti-Establishment-Bewegung, die Koalitionen und Ideologien ablehnt. Allerdings ist auch die Wahrnehmung der Wählerschaft wichtig: Wird die Partei eher als rechte oder linke Partei eingeschätzt? Auf diese Frage gibt es (noch) keine klare Antwort.
Anhänger kleinerer Parteien in der Stichwahl wahlentscheidend
Entscheidend wäre, wie die Anhänger derjenigen Parteien abstimmen würde, die im zweiten Wahlgang nicht mehr vertreten wären. Einige Parteien wie die Lega Nord oder Berlusconis Forza Italia (FI) haben in der Vergangenheit eine ähnliche Anti-Establishment-Rhetorik bedient. Folglich dürften diese Wählergruppen mehrheitlich M5S gegenüber der PD bevorzugen. Die PD könnte sich in jedem Fall nicht sicher sein, dass sie alle Wähler der ideologisch näherstehenden linken Parteien bekommt, da diese teilweise zu ihren schärfsten Kritikern gehörten. Schlussendlich wird es auch darauf ankommen, wie die Wähler die politische Arbeit der M5S bewerten, die seit Juni 2016 die Bürgermeisterinnen in Turin und Rom stellt. Die großen Parteien könnten versuchen, Neuwahlen so lange wie möglich hinauszuzögern und auf politische Skandale in den beiden Metropolen hoffen. Besonders die krisengeschüttelte Hauptstadt steht dabei im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.
Wahlgesetz wird auch 2017 zur Debatte stehen
Eine Angleichung des Senat-Wahlrechts wäre zwar verfassungsrechtlich nicht zwingend nötig. Hätten beide Kammern jedoch unterschiedliche Wahlsysteme, gäbe es selbst bei identischem Ergebnis in beiden Parlamenten unterschiedliche Mehrheiten. Eine absurde Vorstellung, da beide Parlamente nach dem gescheiterten Referendum weiterhin über identische Kompetenzen verfügen. Die anstehende Debatte könnte das ganze Wahlgesetz wieder zur Disposition stellen. Neben der Verabschiedung des Haushaltsplans wird die kommende Interimsregierung wohl auch mit der Angleichung beider Wahlsysteme beauftragt werden.
Es ist davon auszugehen, dass das Urteil des Verfassungsgerichts im Januar zunächst abgewartet wird. Zu den umstrittensten Aspekten gehören die teilweise geschlossenen Listen, die bereits im alten Wahlgesetz gerügt wurden, und der großzügige Mehrheitsbonus. Von einer vollständigen oder teilweisen Billigung bis hin zu einer kompletten Ablehnung ist jedoch alles möglich. Letztere Entscheidung könnte bedeuten, dass das alte Wahlrecht inklusive verfassungsrechtlicher Korrekturen wiedereingeführt würde. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Italicum in seiner jetzigen Form auf beide Kammern angewendet wird, was aufgrund der für sie günstigen Ausgangslage M5S mittlerweile fordert.
In den vergangen 70 Jahren hat Italien 60 Regierungen hervorgebracht. Im Durchschnitt blieb eine Regierung ein Jahr, einen Monat und zehn Tage im Amt. Das neue Wahlsystem sollte, in Kombination mit der Entmachtung des Senats, eben jene chronische Instabilität bekämpfen. Ironischerweise hat nun gerade dieser Versuch eine neue politische Krise ausgelöst.
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