Was viele längst ahnten, ist auf dem Parteikongress der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) Anfang März in Dublin offiziell geworden: Ihr Spitzenkandidat für die Europa-Parlamentswahlen und damit aussichtsreicher Kandidat für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten ist der ehemalige Luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker. Bei der Abstimmung setzte sich der 59-jährige mit 382 Stimmen gegen 245 Stimmen für Michael Barnier durch.
Die EVP zählt mehr als 70 Parteien aus 39 Ländern und die Abstimmung brachte die unterschwelligen ideologischen Differenzen der verschiedenen Länder ans Tageslicht: Spanien und Italien zum Beispiel stimmten gegen den ehemaligen Premierminister, dem entgegen aller Beteuerungen der Ruf eines “Austerität-Apostels” anhängt. Dieser Spitzname kommt nicht von ungefähr: Auf der Höhe der Finanzkrise wirkte Juncker maßgeblich an den unpopulären Sparmaßnahmen mit, die er auch als Spitzenkandidat weiter verteidigt: Wachstum auf der Basis von immer höheren Schulden sei nicht vertretbar.
Doch zumindest bis zur Wahl des Europaparlaments Ende Mai scheint Juncker seinen sozialdemokratischen Rivalen Martin Schulz eher links als rechts überholen zu wollen: Wirtschaftliche Effizienz, Wettbewerbsfähigkeit und Konsolidierung mit sozialer Fairness in Einklang zu bringen ist sein erklärtes Ziel. Mit einer Politik für die Menschen und gegen die Massenarbeitslosigkeit will Juncker das Märchen endgültig begraben, dass soziale Politik nur von Sozialdemokraten gemacht wird.
Sollte die EVP die Europawahl gewinnen und die Parteien sich daran halten, dass der siegende Spitzenkandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten vorgeschlagen wird, so hat Juncker vor allem eines vor: Er möchte mehr Europa, ohne sich im “Klein-Klein” zu verirren. So sagte er in seiner Rede auf dem Parteikongress in Dublin, dass die EU sich “nicht in die Kochtöpfe und Essgewohnheiten der Menschen einmischen” dürfe.
Stattdessen solle die Staatengemeinschaft endlich ein soziales Projekt werden. Dazu kündigte Juncker an, als Kommissionspräsident alle Gesetze und Reformvorhaben vor Verabschiedung auf ihre Auswirkungen auf Arbeitsplätze in Europa hin zu untersuchen, und je nach Ergebnis zu überarbeiten. Das klingt, als habe Juncker, der sich als langjähriger Premier Luxemburgs und Chef der Euro-Gruppe im Machtgefüge Brüssels gut auskennt, einen festen Plan für die mögliche Amtszeit.
Ambitioniert sind die Ziele allemal und gut klingen sie auch. Doch Vorsicht ist geboten. Unter Juncker als Premierminister explodierte Luxemburgs Staatsverschuldung; sie stiegen um mehr als das Doppelte zwischen 2007 und 2012. Gleichzeitig kämpfte der ehemalige Premier für den Erhalt Luxemburgs als Steueroase, um das Großherzogtum als wettbewerbsfähigen Finanzplatz zu erhalten. Auch in Europa hat seine Vorgehensweise mitunter Missbilligung hervorgerufen. Denn nach eigenen Angaben beschließt er am liebsten erst einmal etwas, um dann auf das Unwissen anderer Leute zu hoffen und es weiterzuführen „bis es kein Zurück mehr gibt“. Vertrauenerweckend ist das nicht. Auch seine Aussage, dass man lügen müsse, wenn es schwierig werde, spricht nicht für die Transparenz, die Bürger in ganz Europa fordern. Was die EU braucht, ist nicht nur mehr Integration um jeden Preis, sondern vor allem einen Abbau des demokratischen Defizits. Mit einem Politiker wie Juncker, der notfalls auch einfach mal etwas im stillen Kämmerchen beschließt, werden dem jedoch nur weitere Steine in den Weg gelegt.
Die jahrelange politische Erfahrung und seine ganz persönliche Geschichte prägen Junckers Vorstellungen über Europas Zukunft: Wer das Projekt EU kritisiert, den fordert er auf, die Soldatenfriedhöfe zu besuchen. Die Dämonen der kriegerischen Vergangenheit Europas seien weiterhin nicht besiegt. Daher ist die immer weiterreichende Integration für ihn schlichtweg eine Notwendigkeit und Indiskutabel. Aber muss sie das sein? Und wenn ja, in welcher Form soll sie fortschreiten? Die Wahlsiege populistischer rechtsextremer Parteien in ganz Europa sprechen dafür, dass die EU an einem Scheideweg steht. Nicht nur die Osterweiterung, auch die Finanzkrise und der Konflikt um die Ukraine haben die europäische Architektur grundsätzlich verändert. Juncker an der Spitze der EU-Kommission (die er als den Motor der EU bezeichnet), wäre daher eine unglückliche und wenig zukunftsweisende Wahl. Auf seinem Twitter-Feed liest sich unter anderem, dass er für ein Europa steht, „das nicht träumt“. Das klingt wenig visionär. Doch in Bezug auf die Krise in der Ukraine gibt sich Juncker aggressiv: „Ich werde für ein Europa kämpfen, dass in der Außenpolitik seine Zähne zeigt!“.
Mehr noch, einige der Aussagen des ehemaligen Premiers werfen Widersprüche auf: Einerseits spricht er sich gegen eine Abschaffung der Nationalstaaten im Kampf um mehr EU-Integration aus; andererseits wirbt er für mehr Europa – auch in den Bereichen der Wirtschafts- und Finanzpolitik, die klassischen Hoheitsbereiche der Länder. Mit dem Ruf nach mehr Europa in wichtigen Dingen, und weniger Europa in den unwichtigeren Dingen klingt Juncker fast wie sein Rivale Schulz.
Der EVP-Spitzenkandidat hat sich selbst nicht ohne Grund als „politischen Wiederkäuer“ bezeichnet. Mit ihm an der Spitze der Kommission wird in Europa kein frischer, reformorientierter Wind aufkommen.
Dass er vier Sprachen spricht, hat Juncker bisher geholfen; er galt als Brückenbauer in der EU. Doch ein Qualifikationsnachweis für das wichtige Amt des EU-Kommissars ist das nicht. Das scheint auch Juncker klar zu sein: Nach eigenen Angaben wollte er zunächst nicht Spitzenkandidat werden. Erst auf Drängen von Freunden und Mitstreitern in Brüssel habe er sich für den Posten entschieden. Abgestumpft und wenig leidenschaftlich klingt das, insbesondere für einen, der so lange intensiv an der Entwicklung des Projekts EU mitgearbeitet hat und gemeinhin als “Mr. Euro” tituliert wird.
Was spricht für Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident? Auf OneEurope könnt ihr eine andere Meinung über den konservativen Spitzenkandidaten auf Englisch lesen - und morgen dann auf Deutsch bei treffpunkteuropa.de.
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