Das Durchschnittsalter der Mitglieder des Europäischen Parlaments beträgt 49,5 Jahre. Niklas Nienaß ist 29 Jahre alt und seit 2019 ebenfalls im Parlament. Er müsse sich öfter beweisen und zeigen, dass er trotz seines jungen Alters mindestens ebenso gut Politik machen kann wie seine Kolleg*innen, sagt er. Niklas Nienaß erkennt dabei an, dass solche und andere Hürden für junge Menschen in der Politik weit verbreitet sind. Um dies zu verändern, sei es jedoch keine Lösung, sich aus den Strukturen rauszuhalten: „Vielleicht lassen wir uns irgendwann eine andere Art des Politikmachens einfallen“, sagt er. „Aber dafür müssen junge Menschen in politische Ämter gehen.“ Nur so sei die Mitgestaltung von Politik in unseren alternden Gesellschaften möglich.
treffpunkteuropa.de: Du gehörst zu den jüngsten im Europäischen Parlament. Merkst du den „Altersunterschied“ in der Art Politik zu machen?
Niklas Nienaß: Als ich ins Parlament eingezogen bin, war ich 27 Jahre alt. Manchmal habe ich gemerkt, dass ich mir erstmal Respekt verschaffen musste und beweisen muss, dass ich mich wirklich mit den besprochenen Themen auskenne. Ich musste zeigen, dass ich genauso gute Reden halten und genauso hart verhandeln kann. Dann kommt natürlich noch hinzu, dass ich häufig im T-Shirt arbeite. Nur weil ich gewählt bin, steige ich nicht plötzlich jeden Tag in einen Anzug. So manche Kolleg*innen mussten sich da erst dran gewöhnen. Aber ich glaube, das haben die meisten mittlerweile und ich habe bei vielen Kolleg*innen das Gefühl, die freuen sich über junge Menschen, die in die Politik kommen.
Junge Menschen müssen in die (Partei-)Strukturen rein, sonst schließen sie sich selbst aus
Weniger als ein Drittel der Menschen, die in der EU leben, sind unter 30 Jahre alt. Die 15- bis 29 -jährigen machen gerade mal 17% der Bevölkerung aus. Wie kann – trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit – Politik für und vor allem mit jungen Menschen gemacht werden?
Wenn wir mehr Politik für junge Menschen wollen, dann brauchen wir mehr junge Menschen in der Politik. Der Anteil junger Menschen in der Kommunal- und Lokalpolitik ist meist noch viel geringer als im EP, obwohl das ja meist die erste Ebene ist, in der man Politik lernen und sich selbst etablieren kann. Da müssen die Jungen aktiver in die Ämter!
Viele junge Leute haben erstmal keine Lust auf Parteiarbeit oder die Art, wie Parteien strukturiert sind. Das kann ich auch manchmal nachvollziehen. Aber wenn man was ändern will, dann bringt es nichts, sich selbst auszuschließen. Wenn man was ändern will, dann muss man selber mitmachen! Vielleicht lassen wir uns irgendwann eine andere Art des Politikmachens einfallen. Aber bis dahin müssen junge Menschen in politische Ämter gehen.
Auf seinem YouTube Channel veröffentlicht Niklas alle zwei Wochen Videos zu aktuellen politischen Themen in Europa. Unter anderem auch zur Frage, wie Politik für junge Leute eigentlich aussehen könnte.
Junge Menschen bringen sich schon ein, nur vielleicht stärker über Protestaktionen oder Ähnlichem…
Das stimmt. Die Klimademos haben ordentlich Druck auf das Thema gelegt. Auch Konservative, wie etwa die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, haben dann plötzlich ein Interesse für Klimapolitik entwickelt. Jetzt haben wir den Europäischen Green Deal. Das alles wurde möglich, weil junge Menschen laut geworden sind, mit Überzeugung und einer klaren Forderung auf die Straße gegangen sind. Es kann es aber nicht ersetzen, sich auch in den klassischen Institutionen einzubringen. Es wäre supercool, eines Tages ganz viele Gesichter von Fridays for Future auch in den Parlamenten zu sehen!
Bräuchte es für die „Aktivierung“ junger Menschen hier nicht noch vielmehr strukturelle Veränderungen, wie ein herabgesetztes Wahlrecht oder etwa Quoten für junge Menschen in politischen Ämtern?
Die politischen Institutionen haben auf jeden Fall die Pflicht, zugänglicher zu werden. Die Europäischen Institutionen sind super transparent. Man kann alles im Parlament per Livestream verfolgen. Aber natürlich schauen da nicht besonders viele zu, weil dort leider viel zu selten echte Debatten stattfinden. Ich setze mich im Parlament dafür ein, dass wir eine neue Debattenkultur etablieren, die mehr Lust auf Politik und politische Auseinandersetzung macht.
Bezüglich des Wahlalters: Als Konsens bei den Grünen haben wir eine Herabsetzung des Alters auf 16 Jahre. Ich persönlich würde gerne weiter gehen. Ich will ein Wahlrecht ab Geburt. Jeder Mensch hat ein Recht auf eine Stimme in der Politik. Jeder Mensch, nicht nur Menschen ab einem gewissen Alter. Ob dieses Recht dann ganz praktisch auch von allen umgesetzt werden kann oder man in manchen Fällen eine Vertretung braucht, muss natürlich geklärt werden. Aber warum sollten Kinder von den grundlegenden Prozessen der Demokratie ausgeschlossen sein? Wenn man Menschen von klein auf darin bestärkt, dass sie Teil der Gesellschaft sind, dass ihre Stimme zählt und einen Unterscheid macht, das kann sich doch nur positiv auswirken! Dazu braucht es dann umfassende Angebote für politische Bildung. Ich denke, dass KiTas ein wunderbarer Ort für Demokratiebildung sind.
Für Quoten bin ich grundsätzlich auch. Aber für jede politische Forderung braucht man erstmal eine Mehrheit. Für eine Senkung des Wahlalters auf Bundesebene bräuchte es zum Beispiel eine Verfassungsänderung. Hier muss noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden.
Ein gutes Beispiel, wie das durch innerparteilichen Druck funktionieren kann, sieht man bei der FDP. Die Jugendorganisation der FDP, die jungen Liberalen, haben sich so stark ein Wahlalter ab 16 eingesetzt, dass nun auch die Bundespartei umgeschwenkt ist. Hier sieht man wieder: wenn Parteien internem Druck ausgesetzt sind, dann sind schnelle Veränderungen möglich!
Wenn du mit Boomern in der Videokonferenz bist 😬😬😬 pic.twitter.com/cKo8fYrvH3
— Niklas Nienaß (@nnienass) May 11, 2021
Es ist hier ja so ein Henne-Ei-Problem. Viele junge Menschen haben vielleicht auch keine Lust in die Strukturen zu gehen, weil sie diese für marode und aus der Zeit gerückt halten, wodurch sie dann wiederum auch keinen Einfluss auf die Gestaltung eben dieser Strukturen haben. Was, glaubst du, haben konservative Kräfte konkret gegen die Senkung des Wahlalters?
Da greift oftmals das „haben wir schon immer so gemacht“-Argument oder die Behauptung, dass Menschen vor 18 die Folgen von Politik noch nicht abschätzen könnten. Das ist natürlich total falsch. Viele Kinder und Jugendliche machen sich Gedanken über gesellschaftliche Fragen. Und ganz ehrlich: Wir haben ja auch ein Jugendstrafrecht und eine Vertragsfähigkeit, die ab 14 Jahren greift. Wenn ein*e Jugendliche*r ab 14 Jahren ins Jugendgefängnis kann oder weitgehend vertragsfähig ist, dann müssen wir ihnen auch eine Wahlentscheidung zutrauen. Eine Begründung jungen Menschen das Wahlrecht zu entziehen gibt es derweil nicht: Grundrechte können nur eingeschränkt werden, wenn sie im Konflikt mit anderen Grundrechten stehen. Das ist hier aber nicht der Fall. Wenn junge Menschen wählen dürfen, wird nicht morgen ein staatsgefährdendes Chaos ausbrechen oder Leben in Gefahr sein. Den einzigen Staatsbürger*innen, denen wir, im Einzelfall, aber niemals kollektiv, das Wahlrecht aberkennen, sind Verfassungsfeinde. Menschen nur aufgrund ihres Alters in die gleiche Kategorie zu stecken ist doch einfach nur Wahnsinn.
Für Niklas Nienaß ist eines klar: Es muss mehr Geld für Jugendpolitik ausgegeben werde. Wenn 2% des europäisches Haushaltes für das Militär ausgeben werden, dann fordert er mindestens 1% für die Jugend.
Wie sieht es mit der Senkung des Wahlalters auf EU-Ebene aus?
Auf europäischer Ebene wird auch diskutiert, das Wahlrecht für die Europawahl zu vereinheitlichen und da ist meine Hoffnung, dass wir uns an den Ländern orientieren, die das Wahlalter ab 16 Jahren schon haben – so etwa in Österreich. Denn es wäre leichter, das Wahlrecht in allen Mitgliedstaaten herabzusetzen als den Österreicher*innen wieder ein höheres Wahlalter aufzudrücken. Wenn es bei den Europawahlen ein Wahlrecht ab 16 Jahren geben sollte, kann ich mir gut vorstellen, dass dies auch auf Bundesebene in Deutschland gefordert wird.
In Jugendpolitik investieren: „Wenn wir 2% unseres Haushaltes fürs Militär ausgeben, dann möchte ich mindestens 1% in die Jugend investieren“
Damit junge Menschen sich politisieren, vor allem auf europäischer Ebene, ist es unfassbar wichtig, dass sie bereits in ihrer Jugend damit sozialisiert werden. Erasmus zum Beispiel ist an Universitäten auch wirklich sehr präsent. Wie kann aber nun auch dafür gesorgt werden, dass nicht nur viele Studierende solche Programme nutzen, sondern noch mehr Menschen in Ausbildungen und Co.?
Erasmus steht Auszubildenden zum Glück schon seit einiger Zeit offen. Aber wir brauchen bessere Strukturen, die Auszubildende an das Programm heranführen. Für Student*innen klärt die Universität mit von Beratungsbüros, Veranstaltungen und anderen Angeboten über Erasmus auf. Bei Auszubildenden läuft es noch nicht so gut. Kleine und mittlere Unternehmen werden für ihre wenigen Azubis auch keine eigene Erasmusstelle einrichten.
Was müsste sich konkret verändern?
Wir versuchen Erasmusstellen auf Landkreisebene zu etablieren. Die sind dann für alle da, egal ob Azubi oder Schüler*in. Und sie gehen aktiv auf die Menschen zu. Nicht nur für Erasmus, sondern auch für das Europäische Solidaritätskorps. Das ist der neue Freiwilligendienst der EU, der jungen Menschen die Teilnahme an sozialen Projekten im Ausland ermöglicht. Langfristig müssen wir dafür sorgen, dass ein Auslandsaufenthalt für alle Menschen in Europa möglich wird. Und das für Arbeitgeber*innen das auch zum Standard gehört, solche Aufenthalte einzuräumen. Dann könnte man quasi alle drei bis vier Jahre ein Auslandsjahr machen. Das kann nur durch eine proaktive Bewerbung der Angebote und Unterstützung in den Verfahren gelingen.
Nimmt die EU an dieser Stelle genug Geld in die Hand?
Die Budgets wurden im neuen Haushalt extrem erhöht. Aber wenn wir auf lange Sichteinen gemeinsamen Bildungsraum in der EU wollen, muss noch deutlich mehr investiert werden. Für das Europäische Solidaritätskorps haben wir eine Milliarde Euro bekommen. Da hoffe ich, dass das Geld sehr schnell in Anspruch genommen wird von jungen Menschen, dann kann ich auch einfordern, dass es hier noch eine weitere finanzielle Steigerung gibt.
Ist Jugendpolitik nicht Zukunftspolitik und sollte uns kaum zu teuer sein?
Ja, natürlich! Es werden immer wieder Reden geschwungen, wie wichtig Jugend und Bildung sind, aber am Ende wird dann viel zu wenig investiert. Wenn wir 2% unseres Haushaltes für das Militär ausgeben, dann ist 1% in die Jugend doch wirklich das allermindeste! Hier geht es nicht nur um schulische Bildung, sondern vor allem auch um das Erlernen von politischen Werten, wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Oder persönlichen Fähigkeiten, wie Eigenständigkeit und kritischem Denken. Das darf nicht am Geld scheitern. Ich werde mich weiter dafür einsetzen, dass die Investitionen in Jugend und Bildung steigen.
European Green Deal und junge Perspektiven
Ein Thema, das besonders junge Menschen bewegt: Klimagerechtigkeit und der Weg in eine nachhaltige Zukunft. Das European Youth Forum forderte etwa, dass der European Green Deal in einem festgesetzten Format mit Jugendvertreter*innen in Dialog treten soll, hat sich hier etwas bewegt und wie sollte deiner Ansicht nach ein solcher Dialog aussehen?
Die Idee finde ich gut. Aber die Frage ist ja auch, was dann am Ende mit den Forderungen passiert, die im Rahmen der Veranstaltung entstehen. Wenn wir uns zum Beispiel das Europäische Jugendparlament anschauen: Das ist zwar immer eine schöne Veranstaltung, aber die Ergebnisse werden oft nicht ernst genommen. Sie landen in einer Schublade und niemand schaut sich das jemals wieder an. Ich finde es sehr unproduktiv, Institutionen zu schaffen, die keinen verbindlichen Einfluss nehmen können. Wir brauchen mehr echte Beteiligungsformate und nicht bloß Demokratiespielchen. Es wäre eine super Sache, wenn es beim Europäischen Green Deal auch einen Jugend-Ausschuss geben würde. So könnte man sicherstellen, dass die großen Summen, die für den Grünen Deal fließen, auch der Jugend zu Gute kommen und in zukunftsfähige Infrastruktur investiert werden. Aber eben nur, wenn dieser Ausschuss auch wirklich Macht und konkrete Weisungsbefugnis hat.
Steht Jugend denn irgendwo auf der politischen Agenda der EU?
Die Notwendigkeit der Jugendpartizipation wird meiner Einschätzung nach schon gesehen. Bei der Konferenz zur Zukunft Europas wird der Stimme der Jugend eine hohe Bedeutung beigemessen.
Aber könnte es bei dieser Zukunftskonferenz sich nicht auch wieder nur um Symbolpolitik handeln?
Bei der Zukunftskonferenz haben wir die besondere Lage, dass es eine verfassungsgebende Konferenz ist, die ermöglicht, die Verträge zu verändern, denn die Voraussetzungen nach Art. 48 II und III EUV sind gegeben. Wir können Dinge ändern, die sonst nur in einstimmiger Abstimmung aller Mitgliedstaaten bestimmt werden können. Somit ist die Zukunftskonferenz schon ein besonderes Instrument. Klar bleibt die Frage, was am Ende dabei rauskommt. Aber ich bin da recht zuversichtlich. Ich glaube, dass die Konferenz aktuell noch sehr unterschätzt wird. Aber auch hier gilt: Damit sie zum Erfolg wird, müssen sich möglichst viele Menschen mitmachen. Auf der Internetplattform der Konferenz kann sich jede*r mit seinen Ideen einbringen. Ich würde mich super freuen, wenn da richtig viele tolle Sachen zusammenkommen.
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