Was ist vor der Gerichtsentscheidung passiert?
Im August hatte die britische Regierung entschieden, das Parlament durch eine sogenannte „Prorogation“ zu vertagen. Eine Prorogation erfolgt auf Antrag durch den*die Premierminister*in, wird aber formal von der Queen ausgerufen. Eine solche Vertagung schließt normalerweise die Gesetzgebungsperiode des aktuellen Jahres ab und gibt der Regierung Zeit, um ein legislatives Programm für die nächste Periode zu entwerfen. Außergewöhnlich ist eine Prorogation per so also nicht: Üblicherweise wird das Parlament aber nur für einen relativ kurzen Zeitraum vertagt. In diesem Fall hatte die britische Regierung eine Vertagung von mehr als einem Monat angeordnet.
Wieso wollte Johnson das Parlament so lange vertagen?
Im Gegensatz zu einer Sitzungspause darf das Parlament während einer Prorogation nicht aktiv werden. Es können keine Gesetze verabschiedet oder debattiert werden und es findet keine Arbeit in den Ausschüssen und Gremien statt. Vor allem kann das Parlament seine Funktion, die Arbeit der Regierung durch Anfragen, Debatten oder Gesetzgebung zu überwachen und zu kontrollieren, nicht wahrnehmen.
Das britische Unterhaus hat schon mehrfach gegen die Brexit-Politik der Regierung gestimmt und sich geweigert, einem No-Deal-Brexit zuzustimmen. Durch ein Gesetz hat das Parlament den Premierminister dazu verpflichtet, bei der Europäischen Union um einen weiteren Brexit-Aufschub zu bitten. Vor kurzem hatte Johnson sogar seine Regierungsmehrheit verloren. Insgesamt wird es daher immer schwieriger für ihn und seine Regierung, den Brexit mit oder ohne Austrittsabkommen am 31. Oktober durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund kam früh der Verdacht auf, dass Johnson und seine Regierung das Parlament länger als üblich vertagen wollte, um sich der parlamentarischen Kontrolle zu entziehen und das Parlament für einen Zeitraum auszuschalten – und zwar direkt vor dem geplanten EU-Austritt.
Wie kam der Fall vor den Obersten Gerichtshof?
Als Reaktion auf die geplante Vertagung wurde vor Gerichten in England und Schottland gegen den Beschluss der Regierung geklagt. Mit der Begründung, ein Gericht könne nicht über politische Entscheidungen urteilen, wies der High Court in England die Klage zurück. In Schottland sahen die Richter*innen die Vertagung jedoch als rechtswidrigen Eingriff in die Arbeit des Parlaments und erklärten die Vertagung für nichtig. Weil sich diese beiden Urteile widersprechen, musste der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs eingreifen.
Wie hat das oberste Gericht sich entschieden?
Die Richter*innen haben vier Kernfragen identifiziert, die es zu beantworten galt:
- Darf ein Gericht über die Rechtmäßigkeit einer Parlamentsvertagung urteilen?
- Falls ja, mit welchen Maßstäben kann die Rechtmäßigkeit beurteilt werden?
- War die Vertagung durch den Premierminister nach diesen Maßstäben in diesem Fall rechtmäßig?
- Welche Maßnahme sollte das Gericht im Falle der Rechtswidrigkeit ergreifen?
Das Gericht entschied, dass über die Rechtmäßigkeit einer Prorogation geurteilt werden kann, da es sich nicht um eine rein politische Entscheidung handelt. Vielmehr würde eine uneingeschränkte Befähigung des Premierministers, das Parlament zwangsweise zu vertagen, laut dem Urteil dem Verfassungsgrundsatz der parlamentarischen Souveränität und der Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Exekutive widersprechen. Daher wäre eine Prorogation rechtswidrig, falls sie das Parlament ohne angemessene Rechtfertigung in seiner Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion einschränkt.
Die Regierung von Premierminister Johnson war nicht in der Lage, den Richter*innen eine solche angemessene Rechtfertigung zu liefern. Laut dem Urteil sei die Vertagung des Parlaments also rechtswidrig und damit nichtig: Das Parlament dürfe seine Arbeit mit sofortiger Wirkung wieder aufnehmen, entschied der Oberste Gerichtshof.
Welche Konsequenzen hat die Entscheidung?
Das Urteil des Gerichts war eine schwere Niederlage für die Regierung von Johnson, der sich nach dem Urteil bei der Queen für seinen rechtswidrigen Antrag entschuldigte. Das Parlament hat bereits am Tag nach der Entscheidung erneut getagt und seine Kontrollfunktionen wieder aufgenommen. Aus der Opposition kamen bereits die ersten Aufrufe, die den Rücktritt des Premierministers forderten.
Das Urteil könnte aber auch Auswirkungen auf den Obersten Gerichtshof selbst haben. Bereits wenige Tage nach dem Urteil hat der Premierminister Maßnahmen vorgeschlagen, um die Ernennung von Richter*innen erhöhter Kontrolle durch das Parlament zu unterstellen und damit die Arbeitsweise des Gerichtshofs maßgeblich zu verändern.
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