Die Herzkammer der Europäischen Union

Kurz erklärt: Wie der Rat der EU (nicht) entscheidet

, von  Frank Heber

Kurz erklärt: Wie der Rat der EU (nicht) entscheidet
Der deutsche Außenminister Heiko Maas und die österreichische Außenministerin Karin Kneissl begrüßen sich bei einem Treffen in Wien. Foto: Flickr / Österreichisches Außenministerium / CC BY 2.0

Die Mitgliedsstaaten sind nicht alles, doch ohne die Mitgliedsstaaten ist in der Europäischen Union alles nichts – unter anderem weil die regelmäßigen Reisen der nationalen Minister*innen nach Brüssel feste Bestandteile der europäischen Gesetzgebung sind. Im Rat der EU entscheiden sie über die Gestaltung der europäischen Politik mit, ohne sie bewegt sich in Brüssel nichts. Doch wie sieht das Innenleben des Rates aus? Und warum entscheidet er auffällig oft im Konsens? Ein Blick auf die Mechanismen der Macht in der Herzkammer der Europäischen Union.

Es gibt weltweit kein anderes gesetzgebendes Gremium, in dem die Macht so vieler Staaten versammelt ist wie im Rat der EU. Europäische Gesetze werden – auf Vorschlag der Kommission – vom Europäischen Parlament und dem sogenannten Rat der EU beschlossen. Dort treffen die auf nationaler Ebene gewählten Minister*innen der Mitgliedsstaaten aufeinander. Die Entscheidungsfindung des Parlaments ähnelt jener der nationalen Parlamente und ist daher leicht verständlich, aber auch gut erforscht. Der Rat der EU (früher auch „Ministerrat“) scheint dagegen oftmals eine Black Box zu sein: Die Minister*innen treffen sich in Brüssel, einigen sich – oder auch nicht – und fliegen wieder zurück in die jeweiligen Hauptstädte.

Ein „Bundesrat“ in der EU?

Gegen die oben aufgeworfene These der Einzigartigkeit des Rates könnte man argumentieren, indem man auf den deutschen Bundesrat verweist. Auch dort sind die Einzelstaaten, konkret die deutschen Bundesländer, vertreten und entscheiden über Gesetze der höheren Ebene mit. Die Ähnlichkeit beider „Räte“ ist nicht von der Hand zu weisen, die deutsche Handschrift in den EU-Verträgen deutlich zu erkennen. Es gibt jedoch zwei entscheidende Unterschiede: Erstens gibt es bislang keine echten europäischen Parteien, sondern nur Fraktionen, in denen nationale Parteien sich (meist anhand ihrer Parteienfamilien) zusammenschließen. Im Rat dominiert daher das nationale Interesse der Mitgliedsstaaten. Im deutschen Bundesrat hingegen spielen Parteiinteressen eine entscheidende Rolle: Die Ministerpräsident*innen der Union bzw. der SPD sprechen sich in der Regel eng untereinander und mit ihrer Bundespartei ab.

Der zweite Unterschied sind die Abstimmungen. In beiden Gremien gelten zwar besondere Mehrheitsregeln. Im Bundesrat ist eine Mehrheit der Länderstimmen notwendig: Diese sind so gewichtet, dass kleine Bundesländer nicht einfach von Schwergewichten wie NRW oder Bayern überstimmt werden können. Im Rat der EU braucht es im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren eine sogenannte „qualifizierte“ Mehrheit, nämlich 55 Prozent der Staaten, die wiederum mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der Union vertreten müssen. Zudem kann eine sogenannte „Sperrminorität“ aus 45 Prozent der Staaten oder mindestens vier Staaten, die zusammen mehr als 35 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, gebildet werden. Diese soll verhindern, dass Staaten mit großer Bevölkerung Gesetze fast im Alleingang blockieren.

In der Praxis tut sich jedoch ein weiterer Spalt auf: Während im Bundesrat oft eine Mehrheit entscheidet, entscheidet der Rat der EU selten nach Mehrheit, sondern meist im Konsens. Das bedeutet, dass sich keine Regierung im Rat ausdrücklich gegen eine Entscheidung stellt. Die Politikwissenschaft hat sich der Frage, woran das liegt, in den letzten Jahren genähert. In der Gesamtschau ergibt sich ein klares Bild.

Diplomatische Vorarbeiten

Der erste Schritt, um dieses Phänomen zu verstehen, liegt in einer einfachen Erkenntnis: Die wenigsten Entscheidungen werden bei den regelmäßigen Treffen der Minister*innen in Brüssel getroffen. Alle EU-Mitgliedsstaaten haben eine ständige Vertretung bei der EU in Brüssel im Rang einer Botschaft. Die dort arbeitenden nationalen Diplomat*innen verhandeln für ihre Hauptstädte an den europäischen Gesetzesvorhaben. Sie leisten als „Chefunterhändler*innen“, auch „Sherpas“ genannt, die Vorarbeit für die Treffen der Minister*innen.

Die Tagesordnungen der Treffen unterscheiden dabei zwei Arten von Entscheidungen: A-Punkte und B-Punkte. Die A-Punkte werden der Form halber zu Beginn der Sitzung aufgerufen und abgenickt. Sie sind bereits im Vorfeld von den „Chefunterhändler*innen“ oder „Sherpas“ im Konsens verhandelt worden. Lediglich die B-Punkte werden von den Minister*innen tatsächlich ausdiskutiert. Doch selbst viele Gesetze unter den B-Punkten werden scheinbar per Konsens beschlossen – eine ausdrückliche Abstimmung mit Gegenstimmen ist die Ausnahme. Die folgende Grafik, die im Laufe des Beitrags detaillierter wird, stellt dar, wie sich die tatsächlichen Entscheidungen ungefähr verteilen. Warum der Balken der „qualifizierten Mehrheit“ hier trotzdem vergleichsweise breit ist, zeigt sich später.



Um das Stufenmodell zu vervollständigen, muss beantwortet werden, wo die A-Punkte vor den Treffen der Minister*innen besprochen werden. Das bekannteste Organ des Rates ist der „Ausschuss der Ständigen Vertreter“ (abgekürzt, nach französischer Schreibweise, COREPER). Genau genommen handelt es sich dabei um die beiden Ausschüsse (COREPER I und II), in denen sich die Ständigen Vertreter*innen der Mitgliedsstaaten (also die EU-„Botschafter*innen“ der Länder) bzw. ihre Stellvertreter*innen treffen. Jedes politische Fachthema wird in einer Ratsarbeitsgruppe bearbeitet, in denen die Vorarbeit für die COREPERs geleistet wird, denen die Arbeitsgruppen fest zugeordnet sind.



Die Mehrheitsregeln führen dazu, dass die Staaten bei den Verhandlungen versuchen, untereinander Koalitionen zu bilden. Dabei orientieren sie sich daran, welche Staaten ähnliche Verhandlungspositionen haben. Das Ziel dabei ist, entweder eine qualifizierte Mehrheit oder eine Sperrminorität zu bilden. Passiert letzteres, kann ohne die Zustimmung der die Sperrminorität bildenden Gruppe von Ländern keine Entscheidung getroffen werden. Ein wichtiger moderierender Faktor ist dabei die Regierung, die als Ratspräsidentschaft alle Sitzungen leitet, mit ihrem Wissen über Koalitionen und Mehrheitsverhältnisse. Bei strittigen Entscheidungen nimmt sie eine Vermittlerrolle ein – so auch Deutschland in der zweiten Jahreshälfte 2020.

Im Jahr 2003 wurden gut zwei Fünftel der tatsächlichen Entscheidungen in den Ratsarbeitsgruppen getroffen, ein Fünftel in den Ausschüssen und etwa ein Drittel von den Minister*innen selbst. Selbst bei strittigen Gesetzvorschlägen werden aber noch vor der Ebene der Minister*innen eine Reihe von Konflikten von den Sherpas ausgeräumt. Die Minister*innen haben etwa die Hälfte der Gesetze zumindest diskutiert: Es kommt auch vor, dass sie Entwürfe wieder an den COREPER und die Arbeitsgruppen zurückverweisen und die jeweiligen Entscheidungen später unter den A-Punkten beschlossen werden.

B-Punkte: Verhandlungen auf höchster Ebene

Das vorherige Aushandeln der A-Punkte erklärt, warum dort mit Konsens gestimmt wird. Jedoch erklärt es nicht, warum auch bei den B-Punkten Entscheidungen meist per Konsens getroffen werden. In der Regel stellt der oder die vorsitzende Minister*in fest, dass ein Konsens oder eine qualifizierte Mehrheit vorzuliegen scheint. Wenn kein Staat widerspricht, ist keine explizite Abstimmung notwendig.

Im Rat hat sich mit der Zeit eine „Norm des Schweigens“ entwickelt, wenn in Verhandlungen rechnerisch eine qualifizierte Mehrheit erreicht ist: Minister*innen verzichten dann bei B-Punkten auf eine Gegenstimme. Hinzu kommt, dass im Rat sehr viele Entwürfe behandelt werden, explizite Abstimmungen aber zeitaufwendig sind und die Produktivität mindern. Zudem denken die nationalen Diplomat*innen bereits an die nächsten Verhandlungen und wollen vermeiden, negativ aufzufallen – gerade wenn sie für relativ neue Mitgliedsstaaten arbeiten. Auch kommt es vor, dass Staaten sich bei verschiedenen Gesetzesentwürfen gegenseitig unterstützen, also sozusagen Stimmen-Handel („vote trading“) betreiben: Ein Staat stimmt also für eine Entscheidung, die ein anderer Staat befürwortet, wobei letzter im Gegenzug einer Entscheidung zustimmt, die ersterer fordert.

Auch spielt die Erwartungshaltung in den einzelnen Staaten eine Rolle. Vertreter*innen mancher Staaten wollen ihren Nationalstolz nicht durch verlorene Abstimmungen beschädigen. Interesse und Meinung der nationalen Öffentlichkeit beim konkreten Thema, Struktur der betroffenen Wirtschaftssektoren, Stärke ihrer Lobbygruppen sowie die ideologische Ausrichtung der Minister*innen sind dabei weitere Faktoren. So kommt es durchaus vor, dass nach einer Ratssitzung einzelne Staaten äußern, dass sie ein Gesetz, das im Konsens beschlossen wurde, eigentlich ablehnen. Dieses Phänomen könnte man als „unechten“ Konsens beschreiben.

Offene Konflikte

Explizite Abstimmungen, bei denen Staaten in einer Sitzung der Minister*innen gegen einen Rechtsakt stimmen, sind im Rat alles in einem der Ausnahmefall. Das wohl prominenteste Beispiel ist die Abstimmung über die Verteilung von Geflüchteten im Herbst 2015. Der luxemburgische Außen- und Europaminister Jean Asselborn rief trotz erbittertem Widerstand mehrerer Staaten bei der Ratssitzung am 22. September zur Abstimmung – und bekam eine qualifizierte Mehrheit. Ungarn, Tschechien, Rumänien und die Slowakei stimmten – offenkundig innenpolitisch motiviert – gegen die Verteilung. Genützt hat Asselborns Erfolg wenig: Die Staaten, die gegen die Verteilung stimmten, weigerten sich jahrelang, sie umzusetzen. Der Europäische Gerichtshof hat das kürzlich für illegal erklärt – nur ein schwacher Trost, wenn man bedenkt, dass gerichtliche Entscheidung fünf Jahre nach der ersten Weigerung gekommen ist und an letzterer damit nichts mehr ändert.



Der Einblick in die Mechanismen des Rates der EU zeigt: Die Entscheidungen sind nicht immer so einvernehmlich, wie es nach außen scheint. Oft entscheiden sich die Staaten aus verschiedenen Gründen dazu, Beschlüsse im Rat der EU mitzutragen, mit denen sie eigentlich nicht einverstanden sind. Es braucht handfeste Gründe, öffentlichen Dissens zu zeigen. Nicht zuletzt wurde außerdem deutlich, dass der gesamte gesetzgeberische Apparat ohne die unermüdliche Vorarbeit der nationalen Diplomat*innen undenkbar wäre.

Dennoch ist der Rat der EU nicht allmächtig: Im Gegensatz zur Europäischen Kommission hat er beispielsweise kein Initiativrecht, kann also keine Gesetze vorschlagen. Auch muss der Rat im ordentlichen Gesetzungsgebungsverfahren die Stimme des Europäischen Parlaments berücksichtigen. Selbst die komplizierte Maschine des Rats ist also nur ein – wenn auch unentbehrliches – Zahnrad von vielen im Uhrwerk der Europäischen Union.


Zum Weiterlesen: Bailer, Stefanie (2011): Structural, Domestic, and Strategic Interests in the European Union: Negotiation Positions in the Council of Ministers, Negotiation Journal 27:4, 447-475. Häge, Frank M. (2013): Coalition Building and Consensus in the Council of the European Union, British Journal of Political Science 43:3, 481-504. Novak, Stéphanie (2013): The Silence of Ministers: Consensus and Blame Avoidance in the Council of the European Union, Journal of Common Market Studies 51:6, 1091-1107.

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